Geschichten aus der Rumpelkiste

Kulturwissenschaftliche Ansichten zur Pocahontas-Figur

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Im Naturzustand", so befand Immanuel Kant Ende des 18. Jahrhunderts in seiner "Anthropologie", sei "[d]as Weib" nichts weiter als "ein Haustier". Solche Kenntnisse bezog der belesene Mann weniger aus der näheren Umgebung seiner Heimatstadt Königsberg, von der er allerdings versicherte, sie könne "für einen schicklichen Platz zu Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis genommen werden", als vielmehr aus der Lektüre zahlreicher Reisebeschreibungen, die ihm vornehmlich als Quellen seiner vom "Winterhalbjahre" 1765-1766 an über drei Jahrzehnte hinweg alljährlich gehaltenen Vorlesungen zur "Physischen Geographie" dienten. Wie es um Königsberg als Ort der Welt- und Menschenkenntnis und um die Verlässlichkeit der Reisebeschreibungen des 18. Jahrhunderts auch bestellt gewesen sein mag, hinsichtlich der 'Weiber' der Naturvölker war der Reisende Charles Sealsfield eine Generation später jedenfalls - zumindest was die "Indianer" betraf - noch ganz ähnlicher Auffassung wie der sesshafte Weltweise. Lastete er ihnen doch an, zwischen "ihre[n] Weiber[n]" und einem Haustier "nur wenig Unterschied" zu machen.

Um Indianer, genauer gesagt um Indianerinnen, insbesondere zu sein um eine bestimmte, fast schon mythische Figur, Pocahontas nämlich, geht es auch in dem an den Cultural Studies orientierten, von Sabine Kyora und Uwe Schwagmeier herausgegebenen Sammelband "Pocahontas revisited", dessen AutorInnen Beiträge "zur vorläufigen Bestandsaufnahme der Pocahontas-Figur" in der literarischen Tradition und namentlich bei Arno Schmidt vorlegen. Das Interesse an der Figur speise sich nicht nur aus "ihrer Position zwischen zwei Kulturen," sondern ebenso aus möglichen "erotischen" Interpretationen ihrer Beziehung zu den weißen Männern John Smith und John Rolfe, führt Kyora aus. So näherten sich die meisten Beitragenden ihrem jeweiligen Gegenstand unter der Fragestellung, wie das Eigene und das Fremde zu definieren sei. Denn auch mit einem Augenmerk sowohl auf die Grenzen zwischen den Kulturen als auch auf die "Grenzziehung" zwischen den Geschlechtern, und zwar, wie die Herausgeber feststellen, meist aus der Perspektive der "(Post-)Colonial Studies". Das für die doppelte Betrachtung von Kultur und Geschlecht nicht zugleich die Gender Studies als inspirierende Quelle genannt werden, lässt eine einsseitige Gewichtung zu Ungunsten gender-theoretischer Ansätze erwarten. Eine Vermutung, die sich bald bestätigt sieht.

Nicht so jedoch eine sich anschließende Befürchtung. Nämlich die, dass der Band die oft ungerechtfertigte und sich gelegentlich bis zur Ablehnung hin steigernde Kritik teilt, die einige Vertreter der Postcolonial Studies an den Gender Studies üben: Während einige native american women wie Shirley Hill Witt, Annie Wauneka oder Susanne Shown Harjo feministische Positionen zumindest teilweise übernehmen, bereiten anderen Emanzipationsbestrebungen ihrer weißen Geschlechtsgenossinnen bekanntlich größere Probleme als der Sexismus und Machismo indigener Männer. So weist Janet McCloud die von Feministinnen vertretene Auffassung, "that our most pressing problem is male supremacism" kurzerhand als "bullshit" zurück. Vielmehr bestehe das Hauptproblem noch immer in "white supremacism and colonialism [...] of which white feminists are still very much a part". Wie man weiß, spiegelt sich diese Auseinandersetzung auf akademischer Ebene in Kontroversen zwischen den postcolonial studies und den gender studies wieder, wie Gabi Dietzes Aufsatz "Postcolonial Theory" jüngst in dem von Christina von Braun und Inge Stephan herausgegebenen Band "Gender@Wissen" zusammenfassend darlegt. (Vgl. zu dem gesamten Band literaturkritik.de 06/2005). Erfreulicherweise ist hiervon jedoch im vorliegenden Buch nichts zu bemerken.

Einerseits erörtert mit den Beiträgen von Philipp Hofmann, Franziska Schößler, Axel Dunker, Friedhelm Rathjen und Jörg Drews nahezu die Hälfte der Texte Arno Schmidts Roman "Seelandschaft mit Pocahontas", doch reicht das Themenspektrum andererseits über die Behandlung von Literarisierungen der Pocahontas-Figur hinaus. So sinnt Hofmann Schmidt über relevante Äußerungen des Singer/Songwriters Leonhard Cohen nach. Valesca Szalla richtet ihr Interesse in ihrer Untersuchung zur Bedeutung "konventionell definierter Gestik in Disneys 'Pocahontas'" sogar ganz auf eine andere künstlerische Darstellungsform: die des Kinos. Jan Süselbeck wiederum befasst sich mit der Sekundärliteratur zu künstlerischen Projektionen der 'Indianer-Prinzessin' und entwirft eine verhaltene Verteidigungs-Rede für Klaus Theweleits viel gescholtenes Pocahontas-Buch.

Zwei Beiträge werfen einen umfassenderen Blick auf literarische Darstellungen der Pocaontas-Figur bzw. auf Literarisierungen anderer Indianerinnen: Stephan Kraft und die Mitherausgeberin Sabine Kyora. Kraft zeichnet die "erstaunlich lange und beinahe lückenlose" deutschsprachige Erzähltradition von ihren Anfängen im frühen 17. Jahrhundert - der erste deutschsprachige "Warhafftige und Gründtliche Bericht" über "Pocahuntas" erschien bereits 1617, also im Todesjahr der Indianerin - bis ins ausgehende 20. Jahrhunderts nach. Sein Erkenntnisinteresse gilt der Frage, welche Versuche von deutschen AutorInnen unternommen wurden, um die "Geschehnisse um Pocahontas" - ein "Konglomerat von Ereignissen und Umständen", die der Autor mit Arno Schmidt als "Rumpelkiste" apostrofiert - in eine stringente erzählerische Form zu bringen. Zwar beschränkt er sich weitgehend darauf, die wichtigsten Literarisierungen des Stoffes zusammenfassend nachzuerzählen, dennoch wird deutlich, wie es im Laufe der Jahrhunderte mehr und mehr gelang, "aus diesem Wust von Informationen aus unterschiedlichen Quellen Schritt für Schritt eine einzige kausal organisierte Geschichte" zu konstruieren. Über die Literarisierungen des in der Einleitung anvisierten Zusammenhangs zwischen Gender und Ethnizität erfährt man bei Kraft allerdings nichts.

Ganz anders verhält es sich hingegen in Sabine Kyoras Beitrag zu "Pocahontas Schwestern", in dem sie sich Indianerinnen in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts zuwendet. Diese sieht die Autorin auf dreifache Weise als "Vermittlerin[nen] zwischen den Kulturen" literarisiert: als "Tauschobjekt", als "bekehrte Christin" und als "diejenige, die europäische Kulturelemente in das Leben der Indianer und indianische Elemente in das Leben der Weißen überträgt". Zugleich jedoch macht Kyora in ihnen das "ganz Andere" zur 'weißen' Kultur aus. Das Spannungsverhältnis - um nicht zu sagen die latente Widersprüchlichkeit - zwischen der Indianerin als Vermittlerin und als Verkörperung des "ganz Anderen" scheint die Autorin zunächst weder zu bemerken noch gar zu lösen. Dies hebt sie sich für den letzten Absatz ihres Textes auf, in dem ihr die Synthese immerhin einigermaßen plausibel gelingt, indem sie die Indianerinnen als "scheiternde Vermittlerinnen" auf der "Grenze" zwischen "Eigenem und Fremden" positioniert.

Titelbild

Sabine Kyora / Uwe Schwagmeier (Hg.): Pocahontas revisited. Kulturwissenschaftliche Ansicht eines Motivkomplexes.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2005.
267 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-10: 3895285021

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch