Vorlaufen zum Pol

Tina Uebels "Horror Vacui" - ein philosophisches Selbst-Experiment

Von Stefan HöltgenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höltgen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erst in Extremsituationen, heißt es, erfahre man, wer man wirklich ist. Der Kampf gegen die rohen Naturgewalten bot sich Abenteurern auf dem Selbstfindungstrip daher schon immer besonders an. Bergsteigen, Ozeanüberquerung oder lange Fußmärsche - solche Aktionen haben etwas an sich, das uns automatisch an Freiheit und Selbsterfahrung denken lässt. Handelt es sich beim Ziel des Abenteuers dann auch noch um einen Ort, an den selten ein Mensch gelangt, oder an dem sogar noch nie zuvor jemand gewesen ist, wird die Reise vollends metaphorisch aufgeladen. Die fiktionale und die Sachliteratur über die Polarfahrten erzählt seit einhundert Jahren von solchen Reisen. Shackleton, Scott, Amundsen, Nansen - die Helden dieser Fahrten waren Eroberer des Nichts, aber immer auch des Sinns. Die Hamburger Autorin Tina Uebel erzählt in ihrem neuen Roman "Horror Vacui" von einem solchen Marsch zum Südpol, der für die Reisenden schon bald eine Fahrt zur Selbsterkenntnis wird.

Uebels Protagonisten, der Ich-Erzähler aus Deutschland, ein übergewichtiger Holländer namens Ralph, der Extrem-Sportler Michael und die Einzelkämpferin Susan, beide aus den USA sowie die Gruppenleiter und Expeditionsführer Jeff und Andrew (von denen sich letzter beständig im Hintergrund hält), treten ihre Fuß-Reise im antarktischen Sommer an - das Ziel: Der Südpol. Die bunt zusammen gewürfelte Gruppe aus gelangweilten Neureichen geht die Sache unbedarft und mit einer für solche Gelegenheiten wohl passenden ironischen Haltung zueinander an. Schnell ist der erfahrene Jeff zu "Ernest" (eine Anspielung auf Shackleton) umbenannt, der schon einmal jede Strapaze dieser Art mitgemacht zu haben scheint. Michael wird auf seine "Summits" reduziert, die Besteigung der sieben höchsten Berggipfel der Welt, die er nun noch durch Polarexpeditionen ergänzen will. Susan gilt allen sofort als Einzelkämpferin, die zu beweisen versucht, dass Frauen stärker sind als Männer. Ralph wird wegen seiner Korpulenz gehänselt und der Ich-Erzähler endet schließlich mit einem Reizhusten, den er sich während der Expedition zuzieht.

Hier deutet sich schon an, dass hinter der anfänglichen Lockerheit schnell Spannungen in der Gruppe entstehen, die zwar nie wirklich eskalieren, jedoch die anfangs noch freundliche Atmosphäre zusehends vergiften. Bald scheint jeder jeden zu hassen und als die ersten echten Schwierigkeiten auftauchen zerbricht die anfängliche Gruppensolidarität und wirft jeden Protagonisten auf sich selbst zurück. Das ist fatal, denn in der eisigen Einöde des Polar-Plateaus frieren nach und nach der Verstand und die Zeit ein.

Uebel erzählt ihre Geschichte von Beginn an mit großer Kunstfertigkeit und technischer Brillanz. Die gewollte Unübersichtlichkeit des Romananfangs, in der die Ich-Perspektive und die Auktorial-Perspektive einander ständig und unvermittelt abwechseln, stiften Verwirrung. Die Vielfalt dieser (Erzähl-) Stimmen weicht, je weiter die Expedition voran schreitet, einer Klarheit, die sich daraus ergibt, dass die Polfahrer ihre Namen verlieren und zu Typen, zu Eigenschaften werden, die nun deutliche Distinktionsmerkmale aufweisen und die sich klar voneinander abgrenzen wollen. Der Wechsel der Perspektiven, den Uebel das ganze Buch über beibehält, eröffnet die Möglichkeit, die Gruppe aus verschiedenen Blickwinkeln - je nach "Typ", dessen Sichtweise gerade vorgestellt wird - zu analysieren. So werden banale Bemerkungen zu existenziellen Angriffen, harsche Kritik zu hilflosen Selbstschutz-Versuchen, stereotype Handlungen zu Provokationen umgedeutet, je nachdem, wer sie schildert. Das Montageprinzip geht soweit, dass mehrfach ein und dieselbe Situation wie in einer Zeitschleife von jedem der Expeditionsteilnehmer neu wahrgenommen und bewertet wird. So dehnt sich die erzählte Zeit, wird die Ereignislosigkeit mit Beschreibung gefüllt und die Dynamik innerhalb der Gruppe mit fast schon chirurgischem Feingefühl seziert.

Der Ich-Erzähler, der zu Beginn noch als ein vom Leben gelangweilter, fast schon zynischer Mittdreißiger vorgestellt wird, muss während der Expedition mehr und mehr feststellen, dass er nicht dem Pol, sondern dem Sinn seines Lebens nachjagt. Der Tod der Mutter, die gescheiterte Beziehung zur Frau, die Entfremdung vom eigenen Kind holen ihn an diesem Ort ein, wo nichts anderes ist als das eigene Denken und lassen ihn die eigene Zukunft antizipieren. Die Reise zum Südpol wird für ihn zu einem Heidegger'schen Vorlaufen zum eigenen Schicksal, zum Abwerfen der Uneigentlichkeit (welche die Gruppe durch das Abstreifen der anfänglichen ironischen Umgangsweise nun ebenfalls hinter sich lässt). Die physischen und psychischen Grenzerfahrungen in der Antarktis geraten, ganz anders als es die eingangs erwähnte Überlegung meint, zu einer Erkundung der eigenen Existenz. Der Pol wird zu einer Metapher für den Sinn des Lebens.

Tina Uebel schafft es, diese Problematik gut zu kaschieren. Zu keiner Zeit werden philosophische Gedanken explizit erwähnt, sie kommen durch die Hintertür. Die stetig anwachsende Fragwürdigkeit des Unterfangens, die psychischen Anspannungen in der Gruppe und die Beschreibung der Außenwelt laufen in dieser Erkenntnis zusammen. "Horror Vacui" ist damit der perfekte Titel für den Roman. Denn die eigentliche Angst, zu "sterben ohne wirklich gelebt zu haben." ist Ausdruck und Antrieb für die Suche nach einem Sinn in einer Weltregion, in der gar nichts existiert. Der Sinn kann nicht (etwa im Erreichen eines geografischen Punktes) gefunden, sondern muss konstruiert werden. So banal es klingt: Der Weg ist das eigentliche Ziel. Und genau dies lernen die Polfahrer im Verlauf der Erzählung. "Horror Vacui" ist das Protokoll dieser Reise ins Nichts und ins Ich und an den Pol der Existenz.

Titelbild

Tina Uebel: Horror Vacui. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005.
271 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3462034596

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch