Gemeinsam in den Himmel schauen

Über Martin Gülichs Roman "Die Umarmung"

Von Ingeborg GleichaufRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ingeborg Gleichauf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dolf hat Träume. Vor allem anderen hat er Träume, denn obwohl er berufsmäßig mit der harten Realität zu tun hat, ist er in dieser Realität noch nicht angekommen. Er arbeitet in der Pathologie und immer wieder liegen da Menschen tot vor ihm, denen nicht ausreichend Zeit zum Leben gelassen wurde. In der Blüte ihrer Jahre müssen manche gehen so wie die Schmetterlinge, die Dolf aufspießt, denn das ist sein Hobby. Für Dolf gibt es nur die Welt, die Dolf sich selbst erschafft, und es gibt nur die Schönheit, die er fantasiert. In diesem Kosmos mit den Dolf'schen Koordinaten hat niemand das Recht, anders zu sein, als Dolf es bestimmt. Aber die andern sind eben anders, vor allem die Frauen und vor allen anderen Frauen Nathalie, die doch das Schönste ist, was ihm je begegnete. Bei ihr hat Dolf auf Sieg gesetzt, hat geglaubt, die Zeichen richtig zu deuten und fühlt sich irgendwann getäuscht. Aber so einfach geht das nicht, denn Dolf will mit Nathalie gemeinsam in den Himmel schauen und das erreicht er auch.

Ist einer, der von seinen Träumen nicht ablassen kann und die Schönheit um jeden Preis besitzen will, ein Idiot? Nur dann, wenn er sich selbst zum Idioten macht. Und das tut er, wenn er vergisst, dass die anderen so wie er auch ihre Träume haben. Man schaut mit niemandem gemeinsam in den gleichen Himmel, außer, man liegt neben einem Toten. Dann nämlich braucht man nicht mehr danach zu fragen, wie der Himmel der anderen Person aussieht.

Martin Gülich hat die Geschichte von Dolf konsequent und sprachlich souverän erzählt. Man folgt ihm gespannt, amüsiert und nie wirklich schockiert, weil man bis zum Schluss nicht glauben kann, dass es so etwas gibt. Dolf entpuppt sich mit der Zeit als der, der er gerade nicht sein will: als Idiot. Er verrennt sich in den Vorstellungen, die er von den Menschen hat und vor allem in der fixen Idee, die Idealfrau gefunden zu haben. Dolf ist ein Mann und er hat einen klischeehaften Blick auf die Frau, wie er "idiotischer" nicht sein könnte. Beim Lesen stellt sich kein Mitleid ein mit ihm. Die Leserin bewahrt sich in jedem Moment den Abstand und genießt diesen kleinen Roman in vollen Zügen. Bei männlichen Lesern mag es anders sein, könnte sich das Identifikationspotential bei ihnen doch erhöhen. Aber wer will schon ein Idiot sein?

Titelbild

Martin Gülich: Die Umarmung. Roman.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
146 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3895613037

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