Erst hinter den Worten die Wahrheit

Sprache und Wirklichkeit in Jenny Erpenbecks Romandebüt "Wörterbuch"

Von Evelyne von BeymeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Evelyne von Beyme

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Diejenigen welche, dann deren Freunde, dann die, die sich an sie erinnern, später alle, die Angst haben, und zum Schluß alle" - Fetzen eines Satzes, deren Sinngehalt auf lange Zeit im Verborgenen bleibt. Er entfaltet sich zum assoziativen Leitmotiv über den inneren Monolog, der dem Leser die Sicht auf die Gedanken der kleinen Ich-Erzählerin öffnet.

Am Anfang ist da das Spiel mit den Wörtern. Aufgeschnappte Sätze, die Aneignung der Wirklichkeit durch die Sprache, welche die Eltern sie lehren. Die namenlose Ich-Erzählerin geht noch in die Schule, als sich ein immer größer werdendes Missverhältnis zwischen dem Gesagten der Anderen und dem Tatsächlichen entfaltet. Die Umgebung, in der das Mädchen aufwächst, entwickelt sich zu einem verborgenen Schreckensszenario unter den unsichtbaren Fäden einer mörderischen Diktatur, die noch die schweigenden Pflastersteine der Stadt durchtränkt.

Nach und nach verschwinden Personen aus der Umgebung des Mädchens. Fast nie darf die Protagonistin allein das Haus verlassen, sodass ihr der Blick auf das um sie herum Geschehene fortwährend beschränkt bleibt.

Auf der Straße sind so gut wie keine Menschen, in der Schule gehen die Kinder in einer Reihe und tragen Fahnen. Bald wird der Bahnhof geschlossen, dann sind es einzelne Geschäfte, deren Rolläden nicht mehr nach oben gezogen werden. Die alten Maßeinheiten und Zeitrechnungen werden durch neue ersetzt - denn die "einzige Frage sei, woran man sich erinnern wolle, und das wie oft."

Die grausamen Vorgänge, die Liquidierungen einzelner Menschen, die das Geschehen des Romans mitprägen, erinnern sowohl in ihrer sprachlichen Ausgestaltung als auch aufgrund ihres Ereignischarakters an den Umgang der Nationalsozialisten mit den Juden und ihren politischen Gegnern; nicht zuletzt ist es auch der beschriebene Körperkult, der einen nationalsozialistischen Anklang liefert.

Intertextuell knüpft Erpenbeck mit der Figur des Vaters in der Folterkammer-Szene an den megalomanischen Kommandanten in Kafkas expressionistischer Novelle "In der Strafkolonie" an, während ihr experimenteller Erzählstil an die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann erinnert. Er bewegt sich zwischen den Gattungen, spielt mit ihnen über elliptische Satzgepräge, Alliterationen, Wortwiederholungen und einer emphatischen Meeres-Metaphorik, die - im Zusammenspiel mit Farbsymbolik und horizontalen Raumaufteilungen - den Aussagen der einzelnen Figuren eine gewaltige Handlungsdynamik verschafft. Und dies mit einer lakonischen Sprachgebung, die dem entsprechenden Alter der Ich-Erzählerin adäquat ist.

Die Spannung, die den Roman bis zum Schluss durchfurcht, ist nicht zuletzt ein Produkt dieser neuartigen Erzählstrategie, die sich mit dem Motto "nicht aussprechen, sondern umdeuten" umschreiben lässt. So wird das Verstreichen von Zeit nicht über die gewöhnlichen Zeitangaben und Ortswechsel indiziert, sondern über bestimmte Handlungen, Gesten aber auch Beschreibungen einzelner Details verdeutlicht, die dem Leser eine gewisse Eigenleistung abverlangen. Nicht zuletzt ist es die Kontrastierung bzw. Ergänzung der realen Welt durch eine Art Zwischenwelt, die das Neuartige an Erpenbecks Erzählweise ausmachen. In ihr treten die Ermordeten auf, wie etwa die Klavierlehrerin der Protagonistin, deren Lächeln sich nun nicht mehr "im glänzenden Schwarz des Klaviers" spiegelt: "[...] ich sehe nur den Rücken meiner Klavierlehrerin, und durch ihn hindurch den blanken Leib meines Klaviers, in dem spiegeln sich die wie rasend auf- und abspringenden weißen und schwarzen Tasten [...]."

Es ist dies jedoch keine schimärische Zwischenwelt, die aus der Imagination des epischen Ich entspringt und als unwirklich abgetan werden kann. Davon zeugt die Aufwartefrau, die der Protagonistin unaufgefordert drei zusätzliche Gläser auf ein Tablett stellt, die numerisch gesehen den toten Gästen des Mädchens gelten. Den Eltern bleibt diese Sichtweise jedoch verschlossen und auch das Mädchen selbst verliert den Zugang zu dieser Zwischenwelt in späteren Jahren.

Nicht zuletzt setzt die Schriftstellerin auf das Mittel der Montagetechnik, mit dem sie aus ihrer jahrelangen Erfahrung als Regisseurin vertraut ist. Jenny Erpenbeck wurde 1967 in "Ost"-Berlin geboren. Mit der "Geschichte vom alten Kind" veröffentlichte die Schriftstellerin im Jahr 2000 ihr erstes Buch. Im folgenden Jahr erschien ihr Erzählband "Tand", für den sie im September 2001 mit dem Ingeborg Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde. In diesem Jahr erschien dann ihr Erstlingsroman "Wörterbuch".

"Wörterbuch" ist ein experimenteller "Mahn"-Roman, der auf das suggestive Potenzial der Sprache verweist und auf die Gefahr, diesem als Unwissender zu unterliegen - so, wie die namenlose Anti-Heldin, die ihre ganze Entwicklung hindurch keine eigene Identität zu entfalten vermag und am Ende zur Vatermarionette gerät.

Titelbild

Jenny Erpenbeck: Wörterbuch. Roman.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
116 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3821807423

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