Glücklich wieder im Büro

Über Anne Webers fortgesetzte Selbsterlebensbeschreibung "Gold im Mund"

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mitte der 1990er Jahre arbeitete Anne Weber als Angestellte, pardon: als "Werktätige" in einem Büro, einem "Bürogefängnis" vielmehr, und fühlte sich wie ein eingesperrter Vogel, dem man die Flügel gestutzt hat. Das Aufstehen fiel ihr schwer, immer waren die Kollegen "Mitvögel" vorher schon da und schleppten sich "Schritt für Schritt" voran, verstauten ihr Frühstücksgeschirr, hantierten mit (wenn sie denn wieder gefunden waren) Schere, Radiergummi und Tesa-Film, taten, als hätten sie zu tun, kämpften mit dem Fax und dem Kopierer und warteten im Übrigen auf den Feierabend. "Der ist treu und kommt irgendwann", aber: "Hieß es nicht einmal sausen, singen, schweben?"

Manche Bürovögel vergessen nicht, dass sie einmal Flügel hatten, und desertieren. Sie "gehorchen Stimmen, die außer ihnen niemand vernimmt, ihr Aufbruch fällt mit keiner Jahreszeit zusammen". Nachdem sie ihren wütenden, manchmal auch hass- oder ekelerfüllten Abschiedsbrief an die "lieben Freunde und Kollegen im Büro", die anderen "Bürovögel" eben, geschrieben hatte, kündigte Weber und begann zu fliegen und zu singen. Allerdings ist der Vogel "von allen Tieren des einsamste. Wenn er den Boden verlässt und sich zu dem großen Luftmeer aufschwingt, ist er einsamer, als man auf Erden je ist."

Ein paar Jahre und vier Bücher später kehrt Anne Weber ins Büro zurück. Freiwillig. Wie sich angeblich ehemalige Gefangene gelegentlich nach ihrem Gefängnis zurücksehnen, schreibt die Autorin, des "eigenbrötlerischen Umherschweifens" müde, "in die Nähe der werktätigen und behüteten Menschheit". Ein Künstlerstipendium erlaubt ihr den sechsmonatigen Aufenthalt in der kleinen westschweizer Stadt Bienne/Biel, und zum Entsetzen der Freunde hat sie nichts Besseres zu tun, als sich einen Schreibtisch in einem Großraum-Büro zu besorgen, den ihr die Firma "Cendres & Métaux" zur Verfügung stellt. In der Dental-Abteilung der Firma (die aus Edelmetall-Legierungen Schmuck oder auch Schräubchen und Haken für künstliche Gebisse herstellt) findet sie ihren Platz: "Ohne es zu ahnen, habe ich hier den idealen Ort zum Schreiben gefunden: umringt von Menschen, die mir ganz und gar fremd sind, aber keineswegs feindlich gesinnt, und von denen viele mir sogar mit einigem Wohlwollen begegnen. Ich sitze inmitten von Menschen, die telefonieren, auf ihren Tastaturen herumklappern und ihre Computermäuse antippen, in einem regen Durcheinander von Stimmen und Bürogeräuschen, und in diesem mal größeren, mal kleineren Wirrwarr von Bewegungen und Klängen verharre ich reglos wie im windstillen Auge des Zyklons und neige mich über meine ungeschriebenen Seiten."

Inzwischen sind die Seiten nicht mehr unbeschrieben geblieben, sondern haben sich zu der Erzählung "Gold im Mund" verdichtet. Erzählung? Eine Erzählung im landläufigen Sinn ist es sicher nicht geworden. Nach den ersten beiden Büchern ("Ida erfindet das Schießpulver", frz. 1998/dt. 1999; "Im Anfang war", 2000) hat Weber das Geschichten-Erzählen aufgegeben; seit dem drittem Buch arbeitet sie an einem Projekt, das man zwar nicht autobiografisch, vielleicht aber Selbsterlebensbeschreibung nennen könnte (sieht man einmal von der im Frühjahr 2005 erschienenen Miniatur "Das Tier" ab, die vielleicht älteren Datums ist). Dabei geht es darum, "den Krater, den bodenlosen Brunnen des Ichs" zu erkunden, und so will sie "keine Geschichte und keine Geschichten erzählen", wie es in "Erste Person" (frz. 2001/dt. 2002) heißt: "Um zu sagen, was ich zu sagen habe, brauche ich keine Figuren zu erfinden."

Dass dies durchaus kein miesepetriges Unterfangen sein musste, sondern ein heiteres Geschäft sein konnte, hat Weber mit dem genannten Buch und dem folgenden, "Besuch bei Zerberus" (2004), bewiesen. Immer ging es ihr darum, "schreibend den Weitblick wiederzuerlangen", den sie "besaß, bevor die Erstarrungen der Kindheit, die Versteinerungen der Jugend, die Vergreisungen des Erwachsenenzeitalters ihn zerstörten". Dass Weber damit ein gutes Stück vorangekommen ist, zeigt "Gold im Mund". Wie die beiden vorhergehenden Bücher dokumentiert auch das vorliegende Buch ein Schreiben, das sich als "lautloses Sich-Wundern" versteht. Das ist die gewissermaßen erwachsene Form des angestrebten ursprünglichen Zustands.

Doch gibt es auch auffallende Unterschiede zu beobachten. In "Besuch beim Zerberus" hieß es noch: "Die Sprache ist meine Helfershelferin und Komplizin, wenn es darum geht, mir die Wirklichkeit vom Leibe zu halten." Und: "Wenn ich die Augen aufschlage, blendet mich das Leben". Inzwischen scheint Anne Weber nicht mehr geblendet, wenn sie aufs tägliche Leben, zum Beispiel eines Großraumbüros, schaut. Der ältere Vorsatz, "lächelnden Auges in die Gegenwart zu blicken", scheint umgesetzt. Die Wirklichkeit hält sie sich nicht mehr vom Leib. Zwar will sie ihrer immer noch "nicht habhaft" werden, doch ist es der jüngste Vorsatz der Autorin, der Wirklichkeit "als Stimme, als Filter, als Durchlauferhitzer und Kühlapparat" zu dienen. Dabei fühlt sie sich zuständig für das angeblich "Nichtbeachtens- und Nichterwähnenswerte": "Was haben all diese winzigen Veränderungen zu bedeuten, die mit einer Umgebung, egal welcher, täglich vor sich gehen?"

Darüber macht sich Anne Weber in bewährter Manier Gedanken. In bewährter Manier heißt, wie in "Erste Person" oder "Besuch beim Zerberus" den Reflexionen ihren eigenen Lauf zu lassen, ohne sie in abgerundete Geschichten zu zwängen, die so tun, als seien sie keine Kunst, "sondern das Leben selbst oder eine anrührendes Abbild desselben". Schließlich erweise sich die Wirklichkeit immer wieder als "treulose Tomate", in der es erstens immer anders kommt, als man zweitens denkt. Trotzdem gibt es in "Gold im Mund" mindestens fünf Ansätze zu kurzen Geschichten, die aber stets bald abgebrochen werden, bevor sie böse enden oder langweilig werden könnten, nur weil man sich als Autorin "den Notwendigkeiten der Erzählung oder der psychologischen Glaubwürdigkeit" unterwerfen zu müssen glaubt.

"Worum geht es nun eigentlich in diesem Buch?", fragt die Autorin selbst einmal, Beschwerden von Lesern oder Kritikern vorwegnehmend, die der schon früh ausgesprochenen Warnung zum Trotz, auch im Folgenden geschehe nichts mehr, das Buch nicht zugeklappt haben. Sie antwortet mit dem Bekenntnis, sie wollte ein Buch "schreiben, in dem es um nichts, jedenfalls um nichts Resümierbares geht."

Das ist mitnichten eine Unverschämtheit, sondern die Fortsetzung des Vorhabens, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen, ohne sich dem Zwang zur Geschichte unterwerfen zu wollen. Das kann man gutheißen oder nicht; der Rezensent heißt es gut, wie die geneigten Leser schon bemerkt haben werden. Angesichts der nicht zu leugnenden Tatsache, dass alles irgendwie mit allem zusammenhängt, wie auch die Autorin einräumt, stellt sich die Frage, ob es überhaupt möglich oder sinnvoll ist, zwischen auch nur "zwei beliebigen Erscheinungen" erzählerisch "einen Zusammenhang herstellen zu wollen". Webers Antwort lautet natürlich Nein, und sie setzt der scheinbaren Ordnung der Welt die des eigenen Denkens entgegen: "Die Ordnung des Hirns ist die Assoziation."

Mit der daraus resultierenden künstlerischen Form einer Welterlebensbeschreibung, die letztlich auf die genannte Selbsterlebensbeschreibung ohne jegliche Auktorialität hinausläuft, sucht Anne Weber den Beruf des Schriftstellers "wieder vor seinen Mitmenschen zu rehabilitieren". Es ist kein Möglichkeitserzählen, sondern ein Tatsachenerzählen, womit Weber ihren hehren Vorsatz verfolgt, welcher sich aber der größtmöglichen Offenheit bedient. Interessant wird die Erzählung dabei nicht wegen des berichteten Geschehens (denn da geschieht ja nichts oder doch nur sehr wenig), sondern zum Beispiel wegen der Spannung zwischen der Ordnung der Ökonomie bzw. des Büros (die "Großraumwelt ist nicht noch, sondern schlechthin in Ordnung, sie ist die Ordnung") und der subjektiven Ordnung oder auch Unordnung des Gehirns und seiner assoziativen Struktur.

Dabei können interessante Verwerfungen entstehen, und diese sind es schließlich, die literarisch fruchtbar werden. Zwar weiß die Autorin "Bescheid, über Ausbeutung, Arbeitslosigkeit, soziale Spannungen, Massenentlassungen" und so weiter, aber "mit Staunen und Bedauern" stellt sie fest, dass die Wirklichkeit, der sie sich "nun endlich einmal ausgiebig gestellt und ausgesetzt habe, sich weigert, unsere vorgefassten Vorstellungen zu illustrieren und zu bestätigen." Dazu gehört etwa auch, dass in der markt- und produktanalytischen Abteilung der Firma, die keineswegs in irgendwelchen Möglichkeitswelten agiert, sondern in der Realität mit ihrer ökonomischen Ordnung, keineswegs "die", sondern nur "eine Wahrheit" gesucht wird, was betriebswirtschaftlich vielleicht noch akzeptabel, makroökonomisch oder philosophisch betrachtet aber natürlich absurd ist. Und doch werde in dieser Abteilung angeblich "überprüft, ob die Realität mit der Idee übereinstimmt."

Die sich an solche Fragen und Beobachtungen knüpfenden Reflexionen machen einen guten Teil des Vergnügens aus, das man als Leser mit dem Buch haben kann. Freilich nicht muss: Allzu ernsthafte Zeitgenossen mögen sich stören an dem heiteren (aber nicht humoresken) Ton, und Geschichtensucher (die gerade "die Brüder Karamasow ausgelesen" und "sich nicht nur aufgewühlt, sondern ausgestoßen und verwaist" vorkommen, wie die Erzählerin verständnisvoll lästert) kommen kaum auf ihre Kosten. Die andern aber werden ihr Vergnügen an dem kleinen Band haben, der neben der neuen Erzählung "Gold im Mund" auch den alten Prosatext "Liebe Vögel" enthält, von dem zu Anfang die Rede war, und der insofern auch zum Vergleich zwischen der frühen und der jüngeren Anne Weber einlädt und ihre Entwicklung gleichsam ins Werk einführend offen legt.

Ohne künftigen Urteilen vorgreifen zu wollen, und ohne, dass ich wüsste, wie es weiter geht, glaube ich doch bemerken zu können, dass wir es mit einer Autorin zu tun haben, die zunehmend ihre Erzählungen in Digressionen auflöst, sodass die Erzählung "Gold im Mund" nunmehr fast nur noch aus "Abschweifungen" besteht, wie es Anne Weber selbst auf gut Deutsch nennt. Wenn aber nicht mehr erkennbar ist, wovon, um es mal so zu sagen: abgeschweift wird, dann ergibt der Begriff der Abschweifung keinen Sinn mehr. Und das scheint mir das Neue zu sein, was Webers Prosa, die aus gutem Grund seit dem zweiten Buch keine Gattungsbezeichnung mehr im Untertitel trägt, zukunftsträchtig macht. Es ist eine Prosa, die in einer unordentlich geordneten Welt die autochthone Leistung der Literatur wieder zu rehabilitieren vermag: Mit ihrer, eine andere Subjektivität zugänglich machenden Manier, intersubjektive Wahrheiten zu vermitteln, ohne einer philosophischen Engführung zu verfallen. Wir dürfen gespannt sein, was Anne Weber als Nächstes einfällt.

Titelbild

Anne Weber: Gold im Mund.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
127 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-10: 3518417134

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