Der Heimatphilosoph aus dem badischen Geniewinkel

Alfred Denker und Elsbeth Büchin über Heideggers Verhältnis zur Heimat

Von Stefan DegenkolbeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Degenkolbe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heideggers Heimatverbundenheit hat schon so manchen Leser irritiert. Was soll man von einer Philosophie halten, die dann erst klar und stark wird, wenn der Schneesturm um die Ecken der Todtnauberger Hütte pfeift? Hans Blumenberg hielt nicht allzu viel davon; es könne, wenn sich die Beispiele eines Philosophen auf Haus und Hof, Berg und Wald, Hörsaal und Schreibzeug, und nur im Ausnahmefall auf einen im Hörsaal halluzinierten Elefanten beziehen, mit der Welthaltigkeit dieser Philosophie nicht allzu weit her sein. Adorno dagegen sah in Heideggers Heimattümelei eine Verbindung zu seinem politischen Engagement, die Verklärung des Schwarzwaldes und des deutschen Bauerntums als "Blubo-Reklame". Und Jean Améry stellte nüchtern fest, dass sich Heideggers Deutschland auf den Schwarzwald reduziere; vom Ruhrgebiet wisse er gar nichts. Wenn Heidegger an Deutschland denke, denke er schlicht an Deutschland vorbei.

Was hat es also mit der Heimat auf sich, die in Heideggers Werk eine so bedeutende und eigenartige Rolle spielt? Alfred Denker und Elsbeth Büchin wollen mit ihrem weitestgehend dokumentarischen Band einen klärenden Beitrag dazu leisten. Sie haben Dokumente zusammengetragen, die das Verhältnis von Heidegger zu seiner Heimat und zu Heimat überhaupt erhellen sollen.

Alfred Denker eröffnet den Band mit einem kurzen Essay, der die Bedeutung der Heimat als "philosophisches Leitmotiv" bei Heidegger erörtern soll. Dabei zeigt sich Denker als einer der Autoren, die Heidegger in einer Weise nahe stehen, dass sie kaum noch in der Lage sind, etwas über Heidegger zu sagen. Denker erklärt dem Leser, dass Heimat niemals Besitz sei, sondern eine Aufgabe bleibe, die im Vollzug des Wohnens wese. Sie, die Heimat, würde uns nur selten gegönnt und zwar dann, wenn wir die Gelassenheit aufbrächten, sie sein zu lassen. Wer Heimat selbstverständlich nehme, dem verschwinde sie wie Schnee in der Sonne. Denker ist sich gewiss, dass Heidegger, der ein bescheidener Mensch gewesen sei, es ihm sicher nicht verübelt hätte, dass er ihn einen "Heimatphilosophen" nennt. Der Denkweg des Heimatphilosophen sei im wahrsten Sinne des Wortes ein bedachtsame Heimkunft.

Denker schwelgt in Heidegger'schem Sprachkitsch, dass es eine wahre Freude ist. Weder erfährt der Leser dabei etwas über die philosophische Bedeutung, die die Heimat für Heidegger hat, noch über die politische Dimension der Heimat. Alfred Denker ist hier kurzsichtig oder vielleicht auch geschickt. Indem er Heideggers Heimat auf das Meßkircher Umfeld reduziert, wird allen kritischen Fragen, die mit seinem politischen Wirken zusammenhängen, oder die sich aus der eigentümlichen Rolle des deutschen Volkes in seinem Werk ergeben, ausgewichen. Denker stellt Heidegger als einen bodenständigen Sohn des badischen Geniewinkels dar, abgehoben von dem gesellschaftlichen und politischen Geschehen seiner Zeit. Zwar wirkt der Philosoph bei solcher Behandlung recht provinziell, in der poetischen Überhöhung, die Denker ihm zuteil werden lässt, rückt er jedoch in die Nähe des von ihm so geschätzten Hölderlin. "Heimisch werden in einer langen Herkunft ist nichts anderes als Hineinwachsen in die Bodenständigkeit", schreibt Denker, und die Bodenständigkeit habe Heidegger am tiefsten mit Hölderlin ausgedrückt: "Voll Verdienst, doch dichterisch, wohnet der Mensch auf dieser Erde." Und der Mensch wohne, indem er auf der Erde wohne, auch schon unter dem Himmel. Womit Denker die von Heidegger am häufigsten gebrauchten Metaphern für die Heimat, Feldweg und Glockenturm endlich auf Hölderlin'sches Niveau gebracht hat und seinen Heidegger auf den Boden der Heimat: "Ohne gelebte Heimat wäre sein Denken bodenlos geblieben."

Auf Seite 35 beginnt dann endlich der dokumentarische Teil. Im ersten Text, der den Abschnitt "Heidegger als Schriftsteller" eröffnet, stellt sich dieser - zwanzigjährig - die große Stadt vor, in der die Allerseelenglocken läuten. Die Menschen der Stadt "schleppen ihre müden, überreizten Körper durchs Dasein. Fast brechen sie zusammen unter der ,Wucht des Lebens'". Diese "Modernen" wissen nicht mehr von der Wahrheit, die durch die Glocke tönt, deshalb hören sie sie nicht. Doch plötzlich eine überraschende Wendung: Unvermittelt fantasiert Heidegger, dass viele nun doch das Mahnen der Glocken hören und zum Dom streben. Dort herrscht düsterste Stimmung; nicht ohne Grund steht über allem Dantes Ausspruch "Laßt alle Hoffnung fahren, die ihr eingetreten". Im Dom gibt es nur teilnahmslose Menschen, fahle Blicke, trauernde Beter. Die Orgel klagt, Kerzen schwelen, blasse Gesichter, kalte Steine. Eine Todeshymne erklingt, Stimmen tönen aus versunkenen Gräbern, Violinen klagen und weinen, eine Flöte stöhnt, die Pauke dröhnt, wie Sturmesheulen schallt der Chor. In diesem Moment, in dem selbst dem schreckerprobten Vergil Angst und Bange würde, erbebt ein Jüngling. Ein Zittern überschleicht seine Seele, ebenso kalte Schauer. Verständlicherweise will der Jüngling hinaus, doch eine eiserne Faust hält ihn. So geht Heideggers schaurige Erzählung weiter, bis schließlich der Jüngling sinkt und sinkt - bleiche Hände, wieder Zittern und zum guten Schluss sanft und flehend wie Kinderbitten: "Barmherzigkeit". Heidegger beschließt triumphal: "Es zwingt ihn auf die Knie ... Allerseelentag ... im Todesmonat." Man mag ja von solch einer kruden katholischen Mischung aus Gewalt- und Erlösungsfantasie halten was man will; jedenfalls fällt dieser Text nicht ganz zu Unrecht unter den Titel "Heidegger als Schriftsteller".

Was die Herausgeber danach angefügt haben, ist durchaus auch Geschriebenes und auch Katholisches. Sie dokumentieren in allen Einzelheiten die Kontroverse, die Heidegger mit dem "Grenzbotenphilosophen" ausgefochten hat. Heidegger hatte im katholischen Blatt einen bissigen Artikel über eine liberale Versammlung veröffentlicht. Im liberalen Grenzboten wurde gekontert, dass die ungebildeten Katholiken rückständig seien. Heidegger war der Meinung, der Autor des Grenzboten müsse ein Professor gewesen sein, der auf der liberalen Versammlung anwesend war. Entsprechend ernsthaft wirft er sich ins Zeug. So geht es eine Weile hin und her, mit mehr oder weniger niveauvollen Beschimpfungen. Der Streit endet damit, dass Heidegger feststellen muss, dass sein Kontrahent nicht der Professor, sondern nur ein Lehramtspraktikant ist. Dem Leser wird also eine fast sechzigseitige Provinzposse geboten, in der er Gelegenheit hat, den jungen Heidegger als schneidigen, durchaus sehr gebildeten katholischen Studenten kennen zu lernen, der sich von einem liberalen Lehramtspraktikanten schon gar nichts sagen lassen muss. Der Titel "Heidegger als Schriftsteller" wirkt hier allerdings schon etwas emphatisch.

1915 verfasst der inzwischen promovierte Martin Heidegger noch einen Artikel mit dem Titel "Das Kriegs-Triduum in Meßkirch". Heidegger bezichtigt die Deutschen mit Nietzsche, sich nicht besinnen zu wollen, sie seien umhergeirrt zwischen allen möglichen Ablenkungen und Interessen. "Da kam der Krieg" und die Menschen wurden nachdenklich, beteten, erhielten Feuertaufen an der Front, erwiesen Liebesdienste in der Heimat. Doch Heidegger weiß, die wahre Besinnung kam erst durch den Aufruf der Deutschen Bischöfe zum Kriegs-Triduum. Der Kern des Triduums besteht in Buße, Lebensänderung; Vertrauen und Bitten, dies alles im Bezug auf den Krieg und auf Gott. In Meßkirch habe dieses Triduum in einer einfachen und klaren Weise stattgefunden, die die "Modernen" dazu zwingt, endlich, hier zwischen Krieg und Gott, "prinzipiell aus der Prinzipienlosigkeit in den elementarsten Lebensfragen herauszukommen".

Es lässt sich nicht leugnen, dass dieser erste Teil des Buches von Denker und Büchin durchaus eine sinnvolle Ergänzung zur biografischen Auseinandersetzung mit Heidegger darstellt. Die weiteren Teile des Buches sind allerdings so überflüssig, dass man den Herausgebern dankbar sein muss, dass sie schon in der Einleitung darauf hinweisen, nur der erste Teil des Buchs sei für die Heideggerforschung von größerer Bedeutung.

Denn der zweite Teil trägt den Titel "Martin Heidegger im Spiegel der Lokalzeitungen". Jeder, der schon einmal ein Provinzblättchen gelesen hat, weiß, was nun kommt: ... freuen uns mitzuteilen, dass ... Abiturient Martin Heidegger ... promoviert ... Sohn unserer Stadt ... stolz auf ... Vortrag gehalten ... Ehrung entgegengenommen ... sechzigster Geburtstag ... Ehrenbürger. Die interessanten Jahrgänge 1933/34 der Lokalzeitungen fehlen allerdings in den Archiven.

Im dritten Teil wird es dann genealogisch: "Martin Heideggers Vorfahren". Wer will, kann hier bis in die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts Heideggers Familiengeschichte nachlesen. Man erfährt viel über Verwandtschaftsverhältnisse, Käufe und Verkäufe von Gehöften, alten Berufen etc. pp.

Und als wäre das nicht genug, enthält der Band auch noch einen vierzigseitigen Anhang, in dem der Leser, aus welchen Gründen auch immer, mit dem Großvater mütterlicherseits von Martin Heidegger bekannt gemacht wird. Dieser Mann namens Valerian Kempf war Lochbauer in Göggingen und zeichnete sich durch eine poetische Ader aus. Entsprechend sind drei Gedichtzyklen angefügt und einige Zeitungsberichte.

Natürlich ist gegen ein wenig Ahnenforschung nichts einzuwenden und irgendwie mag ja tatsächlich manches, was hier zusammengesammelt wurde, irgendwie erhellen, in was für einer Atmosphäre Heidegger aufgewachsen ist. Zum Verständnis der philosophischen Werke trägt es jedoch herzlich wenig bei, sodass zumindest der wissenschaftliche Leser den Herausgebern ernstlich dankbar sein sollte, dass sie ihn darauf hinwiesen, dass für ihn nur die Seiten 35 bis 115 relevant sind. Was den Rest angeht, an dem formal nichts auszusetzen ist, bleibt nur zu sagen, dass so mancher wohl eine Kaffeetasse aus dem Heidegger-Fanshop besser gebrauchen könnte.

Titelbild

Elsbeth Büchin / Alfred Denker (Hg.): Martin Heidegger und seine Heimat.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2005.
266 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-10: 3608940928

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