Trotz aller Schwere

Gila Lustigers autobiografischer "Familienroman" über jüdisches Leben nach dem Holocaust in Deutschland und Israel

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Frankfurt am Main, Ende der 1970er Jahre. Der neue Lehrer, hochmotiviert und politisiert, will Themen wie "Selbst-Verwirklichung", "Umwelt-Verseuchung", "Instand-Besetzungen", "Notstands-Gesetze", "Wieder-Aufrüstung" und den "Holocaust" im Gemeinschaftskundeunterricht behandeln. Überzeugt davon, dass allein schon die feierlich geraunten Namen der KZs Auschwitz, Majdanek, Theresienstadt oder Treblinka eine mystische Wandlung auslösen, will er die persönliche Betroffenheit seiner Klasse dadurch steigern, dass er die Schülerin Gila direkt anspricht und nach ihrem Vater fragt: "Ja, antwortete ich, mein Vater war dort gewesen." Na und?

Das Interesse der Mitschüler flackerte kurz auf, doch "erlosch es so schnell, wie es gekommen war". Denn das, womit sich Gila nach des Lehrers Ansicht "nun zu brüsten hatte, interessierte sie nur bedingt." Was die Erzählerin nicht störte noch stört, denn auch sie interessierte es nur bedingt. Gut, sie war die "Tochter eines Überlebenden" des Holocausts, doch was hatte das mit ihr zu tun? Ihre Individualität und ihr Wesen ließe sich "doch nicht nur aus der Leidensgeschichte [...] des europäischen Judentums" erklären. "Ich bin neunzehnhundertdreiundsechzig geboren, warum soll mich etwas, das vor neunzehnhundertdreiundsechzig geschehen ist, etwas angehen. Keiner kann mich zwingen, mich damit abzugeben". Die pubertierende Schülerin hatte genug mit sich selbst zu tun, mit den "Irrwegen meiner Wünsche und Ängste wie jedermann". Auf den Holocaust angesprochen zu werden, empfand sie als Bloßstellung.

Jahre später, inzwischen nicht mehr der Meinung, dass das, was vor ihrer Geburt geschah, nichts mit ihr zu tun habe, überkam die Erzählerin gleichwohl ein verwandtes Gefühl. Sie sitzt bei einer Lesung ihres Vaters im Zuschauerraum. Arno Lustiger, der sich als Zeithistoriker einen Namen machte, wird vorgestellt als "Überlebender" des nationalsozialistischen Lagersystems. "Jahrelang, jahrzehntelang, nannte man ihn nun schon so", empört(e) sich die Tochter. Man reduziert(e) ihn auf diese Rolle, instrumentalisiert(e) ihn für die "Wochen der Brüderlichkeit" und "Versöhnungsfeiern", und was das Schlimmste ist, "gutwillig" und "zukunftsgläubig" spielt er mit: "das steigerte meine Wut, und ich hatte Lust, sie zu zermalmen, mit geballten Fäusten auf sie loszugehen, auf die Schöngeister und ihre Sanftmut, auf die Barmherzigen und ihre Anteilnahme, auf die Mitleidenden und ihre Nachsicht, und auf meinen Vater, der darum bat, anerkannt zu werden, angehimmelt, verehrt und geachtet zu werden". Indem ihr Vater nur noch ein "Überlebender" war, wurde er "ausradiert", wohlwollend "ausgelöscht"; es verschwand der Vater und mit ihm die Kindheit der Erzählerin. Der Vater nur noch ein "Überlebender", sie die "Tochter eines Überlebenden": ein "falsches Bild", "ein Vorstellungsklischee zur Einschläferung des Grauens", eine Zumutung sondergleichen. Und die jahrelang angestaute Empörung der Erzählerin explodierte in einem Satz: "So sind wir nicht."

Gila Lustigers Buch verspricht eine Korrektur: "So sind wir" lautet der Titel des so genannten "Familienromans"; auf dem Schutzumschlag wird unnötigerweise präzisiert: "So sind wir". Wie der Titel insgesamt schillert auch das "Wir" mehrdeutig, es geht nicht nur um das Ich und den Vater, sondern auch um die Schwester Rina und die Mutter Drora, um Großvater und Großmutter, um die Juden, die Deutschen und die Israelis: die "Familie". Der Zugriff ist subjektiv, die Erzählung forsch. Ein Romancier wie Henry Miller, der auf Peter Weiss in den 1940/50er Jahren mit seiner "Rücksichtslosigkeit" als "Gigant" inmitten "einer verfaulten, todessüchtigen Zivilisation" wirkte, erscheint Lustiger noch viel zu sanft: "Wer will schon einen zartfühlenden Schriftsteller? Ich jedenfalls nicht."

Zartfühlend ist sie nicht, Lustiger nennt alles und alle beim Namen so wie die genauen Daten. Wie in der französischen Tradition üblicher als in der deutschen tut sie alles, um die akademische Differenz zwischen Autorin und Erzählerin zu verwischen; der scheinbar nackte autobiografische Bericht wird aber gerade deswegen zur Literatur, weil er die Entblößung bis auf die Spitze treibt, also gelegentlich Details erfindet und die Lüge durch die Wahrheit maskiert wie umgekehrt: "Die Schaustellung bleibt in ihrer stilisierten Übertreibung immer nur ein Spiel. [...] Je aufreizender, desto keuscher; je hässlicher, desto schöner; je mutiger, desto feiger. Wer das wahre Gesicht hinter der Maske erblicken will, muss suchen", erklärt Lustiger dem "arglosen Leser" und versichert ihm: "obwohl so manches hinzugedichtet ist, verschweige ich nichts".

Das Spiel mit den Paradoxa und Gegensätzen durchzieht das Buch, und es ist das Prinzip einer "genauestens ausgeklügelten Erzählstruktur", von der Lustiger recht selbstbewusst spricht. Sie versucht dadurch, das "zweifelhafte Durcheinander", das "künstlich zusammengeleimte Konglomerat" nicht nur der eigenen Biografie in ihrer widersprüchlichen Vielschichtigkeit erfahrbar zu machen. Dass sie als Tochter eines "Auschwitzüberlebenden" und Enkelin eines "zionistischen Pioniers" in der Bundesrepublik Deutschland aufwuchs, dass sie ihre Jugend in Frankfurt am Main und in Tel Aviv verlebte: Bedeutet das etwas? "In Wahrheit sind Herkunft, Religion, Nationalität nichts. Ein Deckmantel allenfalls [...]. In Wahrheit sind die meisten ihrer unmittelbaren Umgebung und Erziehung derart ausgeliefert, dass sie nichts als Herkunft, Religion und Nationalität sind." Ebenso widersprüchlich erscheint das Verhältnis zwischen der 'großen' Geschichte und der Familiengeschichte. Die "Irrungen und Wirrungen der Meinigen sind Marginalien im großen Buch der Geschichte", zugleich aber gilt: "Jalta, das Abkommen von Potsdam - sie sind nicht mehr als Fußnoten in der Geschichte meines Vaters."

Auch das Personal dieser Familiengeschichte wird, ohne dass die Autorin irgend unwahrhaftig wäre, in dieser Hinsicht stilisiert. Der Vater zeichnet sich durch sein Schweigen aus; ein Schweigen, das zugleich anziehend und bedrohlich ist und dem Schutz der Familie dient; seine Leidenschaft ist die Lektüre der in Zeitungsspalten geordneten Welt. Die Mutter dagegen erzählt Geschichten aus der Geschichte, in denen sie alles durcheinander bringt und die erschreckend und berauschend wie die Freiheit sind, die einem den Boden unter den Füßen wegzieht. Die Schwester ist sentimental und lässt sich "allein vom Gefühl leiten", während die Ich-Erzählerin ein "elender Kopfmensch" ist, nüchtern, ironisch, pragmatisch.

Doch ausgerechnet dieser Kopfmensch von Tochter fühlt sich aufgerufen, zur "Gefühlschronistin" der Familie zu werden, weil nur sie als rationaler Mensch wahrnehmen konnte, was in dieser Familie ausgeblendet wurde, nämlich das "Fühlen". Anders als die Schwester hat die Erzählerin von den Eltern und Großeltern gelernt, dass man nicht an den Umständen oder mangelnder Willenskraft zugrunde gehe, sondern an Gefühlen. Das unausgesprochene Gebot der Familie lautete: "Du sollst nicht über Gefühle sprechen, [...] und ganz bestimmt nicht über solche, die ein glückliches, friedvolles Leben sabotieren. Denn ein glückliches, friedvolles Leben war und bleibt unser gemeinsames Familienprojekt." Das ist nun nicht spezifisch für die Familie Lustiger, aber es gewinnt an Brisanz durch den historischen Hintergrund der Familiengeschichte.

Dadurch, dass die Familie väterlicherseits fast vollständig in den deutschen Konzentrationslagern umkam, dass die Familie mütterlicherseits zu den jüdischen Pionieren in Palästina zählte, bezieht sich das "Fühlen", besonders wenn es um den Schmerz geht, nicht zuletzt auf den Holocaust und das israelische "Durchhalteprojekt", welche in der Familie immer präsent waren, aber immer nur subkutan. Denn der "Vater konnte über seine Vergangenheit nicht reden" und "hat sich und seine Gefühle nie zur Kenntnis genommen"; die Mutter weigerte sich ebenfalls, irgendwelche kontraproduktiven Gefühle (zum Beispiel Angst) zur Kenntnis zu nehmen und verübelte den Töchtern, dass sie "deutsche Kinder" wurden, denen "Tapferkeit" und "Pflicht" nicht viel bedeuten.

Um zu begreifen, wie diese Konstellation ihr eigenes Leben bestimmte, brauchte die Autorin nach eigenem Eingeständnis vierzig Jahre. Erst schreibend wurden ihr die Muster des eigenen Lebens klar. Warum sie aber diese "Familiengeschichte" überhaupt begann, bleibt ungesagt. Vielleicht ist es das Bewusstsein, die "Hälfte des Lebens" (um es mit dem einmal verdeckt zitierten Gedicht von Hölderlin zu sagen) hinter sich zu haben, die ein Bedürfnis nach "Aussöhnung" (um es mit dem an der gleichen Stelle zitierten Gedicht von Goethe zu sagen) mit der eigenen Geschichte hervorbringt? Vielleicht ist es der "nostalgische" Blick zurück, der Freundin Dominique zufolge "alle Menschen ab vierzig" befällt, der die Erzählerin bewog, die Geschichte der eigenen Familie jetzt, wo wieder eine Generation abzutreten beginnt, genauer unter die Lupe zu nehmen?

Auf jeden Fall war es anfänglich wohl auch ein Versuch, sich durch das Schreiben der Geschichte das Vergangene vom Hals zu schaffen, den "Erinnerungsgiftstoff" erzählerisch gleichsam auszuschwitzen. Denn was die Erinnerung an die eigene Kindheit giftig machte, war, dass es in ihr "keine Leichtigkeit" gab, "keine Freizügigkeit", "keine offensichtliche und oberflächliche Einfachheit" und daher eine Sehnsucht danach, nicht Gila, sondern Bärbel, Bettina oder Susi zu heißen. Ganz normal zu sein also, und nicht "Sprössling einer kaputtgemachten Familie".

Sich der eigenen Kindheit zu nähern, bedeutete zunächst einmal im ersten Teil des Buchs, sich den verbliebenen Erinnerungsbildern anzuvertrauen, die vielleicht "so unwichtig für die Erzählung" seien, "wie sie für mich wichtig sind", wie es einmal heißt. Die Erzählung wird dadurch anekdotisch, sie heftet sich zunächst an die Erinnerung einzelner Situationen oder Dinge: die permanente Zeitungslektüre des Vaters bzw. sein Bücherregal oder den aus Galizien nach Palästina geschleppten Briefbeschwerer der Großmutter. Mit diesem assoziativen Verfahren kommt die Erzählerin aber nicht ans Ende. Die israelische "Staatsgründung" ließ sich so nicht erzählen, vor allem nicht deren paradoxe Qualität für die Gefühlsgeschichte der Familie.

Warum das so ist, wird im zweiten Teil erörtert, der im Grunde nur ein langes, durch Erinnerungen, Beobachtungen und Reflexionen unterbrochenes Gespräch mit der Freundin Dominique während und nach einer Party über das ins Stocken geratene familienbiografische Projekt ist. "Es kann doch nicht sein", meint diese, "dass dich das einzige Kapitel deiner Familiengeschichte, um das du hast beneidet werden können, dass dich das nicht gefesselt hat?" Doch dass dieser objektiv "wichtige und einschneidende Moment in der Geschichte meiner Familie und meines Volkes", die Gründung des Staates Israel, bei dem die Mutter als Kind dabei war, aber nichts mitbekam, für sie, die Erzählerin von zentraler Bedeutung sein müsse, ist eine Projektion wie die des Gemeinschaftskundelehrers, der sich von der Tatsache, dass seine Schülerin Tochter eines "Auschwitzüberlebenden" ist, weiß-der-Himmel-was erwartete. Lustiger bringt das Kunststück fertig, diese Geschichte im zweiten Teil des Buchs so zu erzählen, dass sie nicht eigentlich erzählt wird, sondern in der indirekten Spiegelung des Gesprächs darüber deutlich wird, wie dies Faktum für das Leben der Erzählerin zugleich wesentlich und gleichgültig ist. Das kann nur Literatur.

Die Bedeutung dieses Familienromans besteht darin, deutlich zu machen, dass es für die "Nachgeborenen", sowohl der "Über-Lebenden" (die eigentlich weiter "Lebende" sind) wie der "Umbringer", ein Leben voller Lebenslust und Familien- oder Liebesglück gibt, das die Tatsache des Holocausts nicht zu leugnen braucht, von ihr aber gleichwohl nicht determiniert ist. Der Roman ist ein Plädoyer gegen die "Kollektiverstarrung" verkrampfter Memorialkultur, der im Erinnerungsvollzug deutlich macht, wie man nicht vergisst und sich zugleich von der Erinnerung nicht drücken lässt. "Zeit für heroische Geschichten" hat die Erzählerin so wenig wie ihr Großvater. Dessen "sanfte, ironische Distanz", die es ihm im Alter erlaubte, "einfach nur da zu sein", macht sich auch Gila Lustiger zu eigen, um auf eine erzählerisch überzeugende Art - rücksichtslos wie die Mutter, stilistisch glänzend wie der Vater - den "Gefühlen, Geräuschen, Eindrücken, Begegnungen und Sehnsüchten" jenseits einer "Geschichte aus Unglück und Erniedrigung" den Raum zu gewähren, der ihnen im ganz normalen Leben zukommt.

Titelbild

Gila Lustiger: So sind wir. Ein Familienroman.
Berlin Verlag, Berlin 2005.
260 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3827005574

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