Warum wir fähig sind, mit unserem Körper zu verstehen

Joachim Bauer über die neurobiologische Entdeckung der Spiegelneurone

Von Alexander GröschnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Gröschner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Warum können wir uns intuitiv mit anderen Menschen "verstehen"? Warum können wir fühlen, was sie denken? Warum sind sie uns sympathisch oder nicht? Warum ahmen wir ihre Bewegungen unbewusst nach oder stecken uns mit ihrem Lachen an? Diesen Fragen widmet sich Joachim Bauer in seinem neuen Buch "Warum ich fühle, was du fühlst". Als Internist, Psychiater und Facharzt für Psychotherapeutische Medizin beschäftigt er sich seit langem mit der Frage, wie zwischenmenschliche Beziehungen durch die Biologie unseres Körpers (vorher-)bestimmt bzw. gesteuert werden. Dies stand auch im Mittelpunkt seines letzten Buchs "Das Gedächtnis des Körpers" (2004).

Damals noch auf der Spur der Gene, folgt Bauer nun, laut Untertitel, der "intuitiven Kommunikation und dem Geheimnis der Spiegelneurone". In insgesamt zwölf Kapiteln geht der Autor unter Verwendung von aktuellen Forschungsergebnissen und mit Verweisen auf weitere Literatur dieser neurobiologischen Entdeckung nach. Dabei analysiert er ihre Folgen für Gebiete wie etwa Kindheit, Jugend und Schule, Sprache, Identität, zwischenmenschliche Liebesbeziehungen und soziale Gemeinschaft. Darüber hinaus beschreibt er neue Erkenntnisse und mögliche Konsequenzen für die Medizin und Psychotherapie, fragt nach dem freien Willen und dem Leitgedanken der Evolution, der im Prinzip in der "Spiegelung" zum Ausdruck kommt und für die Entwicklung des Menschen und seiner Kulturen wohl eine "besonders bedeutsame Funktion" hatte. Sein Spektrum an Themenfeldern ist umfangreich, doch der Kern sehr rasch erfasst: Spiegelneurone beziehungsweise Spiegelnervenzellen ermöglichen in unserem Gehirn "Resonanzphänomene wie die intuitive Übertragung von Gefühlen oder körperlichen Gesten". Sie sind verantwortlich dafür, dass wir "aus dem Bauch heraus" Entscheidungen fällen, emotionales Verständnis aufbringen und Empathie zeigen. Resonanz meint dabei, dass etwas zum "Schwingen oder Erklingen" gebracht wird und so "sozial verbindende Vorstellungen nicht nur untereinander ausgetauscht, sondern im Gehirn des jeweiligen Empfängers auch aktiviert und spürbar werden können".

Erst Mitte der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts an der Universität Parma entdeckt, bilden die Spiegelnervenzellen ein neurobiologisches System, welches im Körper dann aktiv wird, wenn wir eine durch einen anderen vollzogene Handlung beobachten und in uns selbst - im Bauer'schen Terminus - ein "Programm" aktiviert wird, welches die beobachtete Handlung selbst zur Ausführung bringen könnte. So definiert Bauer: "Nervenzellen, die im eigenen Körper ein bestimmtes Programm realisieren können, die aber auch dann aktiv werden, wenn man beobachtet oder auf andere Weise miterlebt, wie ein anderes Individuum dieses Programm in die Tat umsetzt, werden als Spiegelneurone bezeichnet". Dies gilt jedoch nicht nur für beobachtete Handlungen, sondern auch für andere, sinnlich wahrgenommene wie z. B. Geräusche sowie sogar für Vorstellungen. Wie Bauer mehrfach festhält, können durch bildgebende Verfahren in einer bestimmten Situation aktivierte Nervenzellnetze des Gehirns anschaulich gemacht werden, wodurch die Forschung in den letzten Jahren weitreichende Erkenntnisse über das "Abfeuern" von handlungssteuernden Spiegelneuronen sammeln konnte.

Bauer macht im weiteren Verlauf seiner Erläuterungen deutlich, dass durch die Entdeckung der Spiegelneurone nun erklärt werden kann, was bisher nicht möglich war: intuitives Handeln. Dieses beschreibt er so: "Die Beobachtung von Teilen einer Handlungssequenz eines anderen reicht aus, um im Beobachter dazu passende Spiegelneurone zu aktivieren, die ihrerseits aber die gesamte Handlungssequenz 'wissen'". Diese Fähigkeit der Ergänzung ist besonders bei der Fähigkeit des Menschen zum intuitiven Verstehen "ein Geschenk". So werden im Alltag verschieden erlebte Szenen im Gehirn fortgesetzt, wodurch individuelle Vorerfahrungen eine enorme Bedeutung erhalten. Ob man positive oder negative Erfahrungen in diesen oder jenen Situationen gemacht hat, wird im Gehirn gespeichert und in ähnlichen Momenten wieder abgerufen beziehungsweise gespiegelt. Da die Intuition offensichtlich auch bewussten Täuschungen unterliegen kann, spielen ergänzend, so Bauer, der Verstand und die rationale Analyse für die "richtige" Bewertung einer Situation eine wichtige Rolle. Daher ist die Sprache ein überragendes Instrument der menschlichen Kommunikation, denn "Intuition ist ohne Sprache möglich, aber nur die Sprache versetzt uns in die Lage, uns explizit über intuitive Wahrnehmungen zu verständigen" .

Der intuitiven Wahrnehmung sind wir auch in unserem Körperempfinden, unserem Gefühl ausgesetzt, auf welches die Spiegelneurone großen Einfluss haben. So setzen Personen, die wir in unserer Umgebung erleben, unbewusst ein Programm in Gang, welches der Frage nachgeht, wie sich gewisse Handlungsabsichten "jetzt und im weiteren Geschehen anfühlen". Dabei beschränken sich Spiegelungsvorgänge, dem Autor zufolge, nicht nur auf die motorische und sensible Dimension, sondern beziehen auch Wahrnehmungen unserer inneren Organe und das emotionale Empfinden mit ein: "Die Spiegelresonanz ist die neurobiologische Basis für spontanes, intuitives Verstehen, [...]. Sie ist nicht nur in der Lage, bei der in Beobachterposition befindlichen Person Vorstellungen anzuregen, Gedanken und Gefühle hervorzurufen, sie kann unter bestimmten Voraussetzungen auch den biologischen Körperzustand ändern".

Hat man sich auf diese neurobiologische Entdeckung und die Funktionsweise der Spiegelneurone erst einmal eingelassen, kann man relativ schnell den weiteren an beispielhaften Lebensbereichen orientierten Ausführungen Bauers folgen: Ob im Bereich der motorischen, emotionalen und kommunikativen Entwicklung im Kindesalter, der Identitätsfindung, dem ersten Flirt oder der ersten Liebe, über das Zusammenleben in der sozialen Gemeinschaft bis hin zu den neurologischen Folgen und Therapiemöglichkeiten (z. B. neue "gezielte Spiegelungstherapien") - in allen Facetten bieten die Spiegelnervenzellen und durch sie hervorgerufene Resonanzen den Ausgangspunkt der Analysen und Betrachtungen. Wenn dies auch als Anliegen des Buches gelten kann, so entsteht beim Lesen doch zeitweise der Eindruck, die Spiegelneurone hielten für alle offenen Fragen, für jeden zu klärenden Sachverhalt eine passende Antwort bereit. Dies muss wohl als Bedürfnis des Autors angesehen werden, vielleicht mit dem Zusatz: für all jene Fragen und Sachverhalte, die mit dem Menschen und seinen Handlungen in der Welt zu tun haben.

Als besonderes Anliegen darf dahingehend auch Bauers bildungspolitische Forderung gelten, dass sich Selbstgefühl, Kommunikationsfähigkeit, Wissen und Kompetenz bei Kindern und Jugendlichen nicht von selbst entwickeln, "sich auch nicht anordnen lassen" oder "von der OECD oder von Kultusbürokratien zu Standards erklärt werden". Vielmehr ist die "Entfaltung der neurobiologischen Grundausstattung des Menschen [...] nur im Rahmen von zwischenmenschlichen Beziehungen möglich, Beziehungen, die aus dem persönlichen und sozialen Umfeld an das Kind herangetragen werden". Da Empathie nicht angeboren ist, muss das Kind früh Gelegenheit bekommen, Beziehungen einzugehen, die Vertrauen und Sicherheit im Umgang mit Bezugspersonen aufbauen. Erst durch diese Form der Spiegelung, der Resonanzkommunikation, kann die vollständige Entwicklung und Funktionstüchtigkeit des neuronalen Spiegelsystems sichergestellt werden.

Am Ende wird deutlich: das Wissen um die neurobiologische Funktion der Spiegelneurone kann zwar helfen intuitives Handeln und Verstehen zu erklären, jedoch erst im Gleichgewicht mit "den intellektuellen Mitteln der Ratio", der vernünftigen Urteilsfähigkeit, entfalten sich die menschlichen Fähigkeiten in Situationen richtig zu kommunizieren sowie unseren Körper und mit ihm andere zu begreifen. Dazu liefert Bauer mit seinen Ausführungen einen wichtigen Beitrag.

Titelbild

Joachim Bauer: Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern.
Piper Verlag, München 2005.
272 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-10: 3492241794

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Joachim Bauer: Warum ich fühle, was Du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2005.
192 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-10: 3455095119

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