Meilenstein der Antike-Rezeption

Uta Korzeniewski untersucht die Beziehung Lessings zu den antiken Dramatikern

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stand und Zuschnitt der klassischen Philologie in der ersten und zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unterscheiden sich fundamental. Bis etwa 1750 wird an Schulen und Universitäten hauptsächlich Latein unterrichtet, da es wichtiger als Griechisch ist. Die klassischen Dichter werden nicht unter ästhetischen Gesichtspunkten gelesen, vielmehr dienen die antiken Quellen als Material für ein enzyklopädisches Wissen. Am Ende des Jahrhunderts zeigt sich dann ein nahezu völlig verändertes Bild. In der Forschung wird diesbezüglich von "Neohellenismus" gesprochen, einem "zweiten Humanismus" (nach dem "ersten" der Renaissancezeit), aus ideengeschichtlicher Perspektive von "Neuheidentum". Griechenland löst Rom als Leitbild ab, das Studium der Dichter soll den "Geschmack" kultivieren, das Ideal des "ganzen" Menschen, das dem stoischen Helden entgegengehalten wird, assoziiert man mit dem "griechischen Menschen".

Gotthold Ephraim Lessings Auseinandersetzung mit der Antike gilt als Meilenstein auf diesem Weg. Dabei bahnt sich der Wandel bereits seit dem Beginn des Jahrhunderts an. Zu nennen sind vor allem Johann Albert Fabricius, dessen vielbändige, auch von Lessing benutzte "Bibliotheca Graeca" (1705-28) die Grundlage für die nachfolgende Geschichtsschreibung der griechischen Literatur abgibt, Johann Matthias Gessner, dessen "Chrestomathia Graeca (1731) die griechischen Klassiker in den Schulunterricht einführen soll, und der Leipziger Lehrer Lessings, Johann Friedrich Christ, dessen Bedeutung allerdings mehr auf dem Gebiet der Archäologie liegt. Lessing benutzt etwa in seinen Sophokles-Studien, die man mit Wilfried Barner sowohl als wichtiger Auslöser für seine Beschäftigung mit den antiken Dramatikern als auch als generelle Zäsur für den Wandel der Antike-Rezeption im 18. Jahrhundert ansehen kann, die Hilfsmittel, die eine Jahrhunderte alte Tradition der gelehrten Klassiker-Lektüre bereitgestellt hat. Wenngleich diese philologische Orientierung seinen Studien auf den ersten Blick eine rückwärtsgewandte Seite aufprägt, so kündigt sich in ihnen doch der neue Zugang zur Antike an.

Ob und wie sich gelehrtes Studium und philologische Orientierung bei der Darstellung von Leben und Werk des Sophokles durchdrungen haben, lässt sich an den erhaltenen Fragmenten (1760 werden bei Voß in Berlin sieben Bögen des Werks ausgedruckt, aber nicht ausgeliefert) jedoch kaum ermessen. Am Material der Sophokles-Tragödien klärt Lessing den für seine eigenen Dramen zentralen Begriff von Menschlichkeit ab, zugleich möchte er aber auch den Blick auf das genuin Theatralische lenken, gewissermaßen Fingerzeige für pathetische Situationen geben, in denen das Menschliche an den "Grenzen der Menschheit" aufscheint.

Die interpretierenden Passagen des Sophokles-Konvoluts weisen auf die bahnbrechende "Philoktet"-Analyse im "Laokoon" (1766) voraus. Dort fungiert die Tragödie des Sophokles als Modell für das Drama schlechthin. Lessing analysiert das Stück, um ein Exempel für die Möglichkeiten der Literatur im Vergleich zu den anderen Künsten zu geben. Alle Momente einer glücklich konstruierten Handlung greifen ineinander, was ein Maximum an Empfindung freisetzt: Verzweiflung, körperlicher Schmerz, der sich in lautem Schreien äußert, Ekel, den der Anblick von Philoktets Wunde verursacht. Die Darstellung der conditio humana, die "Fühlbarkeit" des Helden, ist dabei jedoch nicht Selbstzweck, vielmehr verbindet sie sich mit seiner Grundsatztreue zu einem komplexen Bild 'moralischer Größe'.

Obwohl Lessing den antiken Tragiker, was den Gehalt der Werke angeht, ganz für das Theater der Gegenwart funktionalisiert, bildet die Auseinandersetzung mit ihm auch ein Meisterstück klassischer Philologie im 18. Jahrhundert. Daran wird vor allem deutlich, dass Lessing für die Darstellung des Menschen auf der Bühne neben dem selbst mehrfach erprobten "bürgerlichen Trauerspiel" die "hohe" Tragödie nach antikem Muster als gleichermaßen gültiges Modell ansieht.

Uta Korzeniewski nimmt Lessings emphatischen 'Schlachtruf' "Sophokles! Die Alten! Philoktet!" für die Darstellung und Begründung der Bedeutung griechischer Antike für seine eigenen Vorstellungen vom Theater als Ausgangspunkt ihrer Studie über "Lessing und die antiken Dramatiker". In ihrem einleitenden Überblick verweist sie zu Recht auf eine merkwürdige Diskrepanz in der Einschätzung Lessings in der Forschung. Während die germanistischen Arbeiten das Besondere seiner Beschäftigung mit der Antike in ihrem philologischem oder wissenschaftlichem Charakter sehen, kommen eher philologisch orientierte Arbeiten zu dem Ergebnis, Lessing sei kein Philologe gewesen. Vor allem Eduard Norden hat darüber deutliche Worte gefunden: Lessing sei kein eigentlicher "philologus der Praxis, aber ideell ein praceptor philologorum", da die eigentliche Geburtsstunde der Philologie mit dem Auftreten Friedrich August Wolfs erst auf die achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts zu datieren sei.

Trotzdem kann Norden Lessings kritische Methode, seine Suche nach den etymologischen Ursprüngen, seine Art zu argumentieren und seine literaturtheoretische Vorgehensweise als wichtige Beiträge zur Entstehung der Philologie würdigen. Ferner konstatieren viele philologische wie germanistische Arbeiten die für das 18. Jahrhundert singuläre Verbindung zwischen Gelehrsamkeit und Literatur, die Lessings Texte auszeichne. Bei beiden Gruppen bleibt aber - von wenigen Ausnahmen abgesehen - Lessings Umgang mit der Antike ein isoliertes Phänomen, ohne Vorläufer und mit mehr indirekten Nachwirkungen, die von Winckelmann überschattet werden. Vor allem fehlen bei Lessings Beschäftigung mit dem antiken Theater - wie Uta Korzeniewski kenntnisreich zeigt - die direkten Bezüge zu den zeitgenössischen deutschen Gelehrten, weil sich diese nur ausgesprochen spärlich mit den antiken Dramatikern beschäftigt haben.

Dies trifft wohl nur auf Johann Jacob Reiskes textkritische Arbeiten zu, Christs Vorlesung über Plautus ist leider nicht erhalten, so dass man über seine Arbeit in diesem Punkt nur spekulieren kann. Daher fußt Lessings Kenntnis des antiken Theaters primär auf Buchgelehrsamkeit, was man sehr schön an seinen "Collectaneen" beobachten kann. Die gelehrten Zeitgenossen, die er diesbezüglich heranzieht, sind Franzosen der Académie des Inscriptions oder Engländer wie Henry Home oder Richard Hurd. Persönliche Debatten über das antike Theater führt er mit dem befreundeten Philosophen Moses Mendelssohn, nicht aber mit Reiske oder Christian Gottlob Heyne, mit dem er sich nur kurz über Datierungsfragen für den "Laokoon" austauscht.

An diesem Punkt setzt Korzeniewski an, wenn sie den Blick auf Lessings Quellen und die seiner Zeitgenossen richtet, um seine Entwicklung als Dichter und Kritiker zu erhellen, seine Äußerungen zu einzelnen Dramen so weit wie möglich zu datieren und Bezüge zur zeitgenössischen Diskussion festzustellen. Dabei geht es ihr auch um Lessings Originalität als Gelehrter, die ihm immer wieder abgesprochen wurde, sich aber im Vergleich mit seinen Quellen deutlich erkennen lässt. Bei der Beschäftigung mit Lessings Dramen steht die Frage der Abwendung vom französischen Klassizismus und der Hinwendung zu den Griechen sowie Lessings Dramentheorie im Allgemeinen im Mittelpunkt ihres Interesses. Was Korzeniewskis Untersuchung - neben der zum Teil unglaublichen Sichtung und Auswertung der Quellen - auszeichnet, ist der Umstand, dass sie ihre Ergebnisse in den Rahmen neuer Tendenzen der Lessing-Forschung stellt.

So plädiert sie mit Recht für eine "ganzheitliche Sicht auf das antike Drama, die Lessings Sichtweise gerecht werden kann: Ein griechisches Drama ist immer ein Gesamtkunstwerk aus Verskunst, Gesang, Tanz, Kostümen, Schauspielkunst und Text - dem 'Theatermann' Lessing war das instinktiv klar, und er interessiert sich daher für die Schuhe der Schauspieler, die Richter beim Komödienagon, aber auch den Ursprung der Tragödie wie für die Textkonjekturen und Interpretation eines Drama".

Nur eine interdependente Deutung von Theaterpraxis, Textgestalt und der Frage des antiken Mythos und der historischen Bedingungen wird der Spezifik der Dramen Lessings im Kontext des 18. Jahrhunderts gerecht. Diesbezüglich hat Uta Korzeniewski Meilensteine für zukünftige Arbeiten der Lessing-Forschung bereit gestellt und en passant auch noch gezeigt, dass sich die Summe von Lessings Beschäftigung mit dem antiken Drama in dessen Deutung des Sophokleischen "Philoktet" zeigt, was ja durchaus auch Lessings Intention entsprochen hat: "Sophokles! Die Alten! Philoktet!"

Titelbild

Uta Korzeniewski: "Sophokles! Die Alten! Philoktet!". Lessing und die antiken Dramatiker.
UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2003.
585 Seiten, 54,00 EUR.
ISBN-10: 3879407827

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