Antimoderner Sonderweg

Georg Bollenbeck über Tradition, Avantgarde und Reaktion

Von Christina UjmaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Ujma

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Tradition, Avantgarde, Reaktion", diese gewichtigen Titelbegriffe führen eigentlich in die Irre, denn Georg Bollenbeck tritt mit dem Anspruch an, eine Diskursanalyse der deutschen Antimoderne von 1889 bis 1945 zu schreiben. Auch dieses Versprechen wird nur teilweise eingehalten, denn auf den 463 Seiten von "Tradition, Avantgarde, Reaktion" fehlen durchgehende und systematische Argumentationslinien. Obwohl Bollenbeck darauf verweist, dass die aggressive Ablehnung der kulturellen wie der gesellschaftlichen Moderne ein gesamteuropäisches Phänomen ist, belastet er die Abhandlung mit dem gewichtigen Postulat vom deutschen antimodernen Sonderweg. Dies ist angesichts der Tatsache, dass zum Beispiel England seine nationale Identität bis heute aus einem vorindustriellen ländlichen Ideal bezieht und seine Modernen wie Oscar Wilde oder D. H. Lawrence ziemlich ruppig behandelte, zumindest eine erklärungsbedürftige These. Erklärungsbedürftig wäre auch Bollenbecks Modernebegriff. Nun ist angesichts der Vielschichtigkeit des Phänomens in Geschichte, Kunst und Politik und seiner ungezählten Deutungen kaum zu erwarten, dass Bollenbeck diesen eine weitere hinzufügt, aber eine Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes wäre schon von Vorteil gewesen. Immerhin teilt Bollenbeck mit, dass er einen weiten Modernebegriff hat, der auch die Populärkultur, die bei ihm zur Massenkunst avanciert, umfasst.

Bollenbeck fängt seine Untersuchung mit dem Ende an, mit einem traurigen Höhepunkt der deutschen Antimoderne, dem Protest der "Richard-Wagner-Stadt-München" gegen die Wagner-Rede des Schriftstellers Thomas Mann im April 1933 und der darin enthaltenen Selbstaufgabe des deutschen Bildungsbürgertums. Danach geht es zurück in die Geschichte, zu den Schillerfeiern von 1859. Die kultische Verehrung der Weimarer Klassik in jenen Jahren sei die Legitimationsideologie des jungen deutschen Nationalstaates gewesen. Der Klassikerkult zeuge von einem konsenssuellen Kunstnationalismus, dessen Bildungs- und Kulturbegriff Bollenbeck im folgenden erläutert. Dabei kommt ihm zeitweise sein eigentliches Thema, die Antimoderne, abhanden.

Die nächste Station ist bereits das Jahr 1904, historischer Ort einer Reichstagsdebatte über das Thema, wer die deutsche Kunst auf der Weltausstellung in St. Louis repräsentieren solle. Die eigentlich antimodernen Züge des späten 19. Jahrhunderts wie die europaweite Begeisterung für Mittelalterliches, aber auch die Polemiken gegen den Naturalismus werden nicht analysiert. Hier verwundert es, daß Bollenbeck das 19. Jahrhundert überhaupt in seinen Untersuchungszeitraum miteinbezieht, denn diskurs- wie kulturgeschichtlich bleibt es in seinen Ausführungen konturlos, auch wenn er im folgenden Kapitel des öfteren dorthin zurückspringt.

Schließlich beginnt damals das Auseinanderdriften von Künstlern und Bildungsbürgertum. Der konsensuelle Kunstnationalismus zerbricht, Nationalismus und radikale Abwehr des Fremden und Anstößigen machen sich im Bürgertum breit. Begriffe wie Entartung, popularisiert durch das gleichnamige Buch des späteren Zionisten Max Nordau, Dekadenz und Kulturzerfall dienen nun häufig zur Charakterisierung moderner Kunst. Bei den so beschimpften Künstlern macht Bollenbeck einen Prozess der Entbürgerlichung fest: Je mehr sich die wilhelminische Monarchie mit dem Prunk von Siegessäulen und Hermannsdenkmälern schmückt, desto angewiderter ziehen sich die Künstler in Fluchträume des In- und Auslands zurück, nach Worpswede, Schwabing oder Ascona. Diesem recht verständlichen Verhalten wirft Bollenbeck vor, dass den Künstlern dadurch die Gesellschaft abhanden komme, unterschätzt aber gleichzeitig die Produktivität dieser Flucht- und Freiräume. Sie bekommen nicht nur der Kreativität recht gut, hier werden auch neue Lebensformen und Geschlechterverhältnisse ausprobiert, sehr zum Schrecken der Modernekritiker, deren Polemiken oft genug einen hysterischen Antifeminismus enthalten, ein Aspekt, auf den Bollenbeck nicht eingeht. Wie auch darauf nicht, dass die Modernen die Schelte ihrer Gegner mit Polemiken gegen die Dumpfheit der Philister und die Flachheit der materialistischen Bürgerwelt ganz gut zu parieren wissen. Die künstlerischen Avantgarden sind in ihrer Ablehnung von wilhelminischer Kunst und Gesellschaft kaum weniger verbalradikal als die Kulturpessimisten in ihrer Ablehnung der Moderne. Deshalb greift Bollenbecks Rede von der Entbürgerlichung der Modernen, seine Dichotomisierung von Bildungsbürgern und modernen Künstlern zu kurz, denn gerade die deutschsprachige Moderne war oft genug innerbürgerliche Rebellion und trat mit dem Anspruch auf, der Kunst und dem Geist in einer Gesellschaft Stimme zu geben, die in lähmendem Materialismus und Oberflächlichkeit versumpft ist. Neben dem Kunst und Leben meinenden radikalen Erneuerungspathos findet sich in vielen Vorkriegsschriften der Modernen auch eine gehörige Portion antimoderner Kulturkritik.

Bollenbecks nächste Station ist die im Februar 1919 gehaltene Ansprache Eberts zur Eröffnung der verfassungsgebenden Nationalversammlung in Weimar, in der der Reichspräsident und SPD-Vorsitzende als Bildungsbürger auftritt und unter Berufung auf die Weimarer Klassik dem Bürgertum einen Kompromiss anbietet. Aber die Traditionalisten wollten mit den "vaterlandslosen Gesellen" der Sozialdemokratie bekanntlich nichts zu tun haben. Die modernen Avantgardisten konnten mit diesem Angebot nichts anfangen, weil sie in Fundamentalopposition zur Weimarer Klassik standen, sagt Bollenbeck, vergisst aber hinzuzufügen, dass die von Ebert angeordnete Niederschlagung der Münchner Räterepublik, die von modernen Schriftstellern, sozialistischen oder kommunistischen Aktivisten jüdischer Herkunft angeführt wurde und ein zeitweiliges Zusammengehen der künstlerischen und politischen Avantgarde bedeutete, die Begeisterung vieler Moderner für die Republik von Weimar sehr gedämpft hat. In der Polemik gegen die Münchner Räterepublik zeigt sich bereits, wie der Hass auf die jüdisch-bolschewistische Avantgarde in Mordaufruf und Terror umschlägt, eine Entwicklung, die Bollenbeck erst viel später ansetzt.

In den 100 Seiten, die Bollenbeck der Weimarer Republik widmet, zeigen sich die Schwächen von "Tradition, Avantgarde, Reaktion" besonders deutlich, sie lesen sich streckenweise wie eine Exzerptsammlung und verärgern durch eine trockene, manchmal bürokratisch anmutende Sprache. Die erfolgreiche Moderne der Weimarer Republik nennt der Verfasser "freigesetzte Moderne". Thesen wie "Die republikanische Staatsform befördert eine kulturelle Moderne, deren Erfolg zur Labilität des parlamentarischen Systems beiträgt", werden eingestreut, aber weder hergeleitet noch begründet, muten auch etwas seltsam an, denn moderne Kunst, Kultur und Technik waren die einzigen gesellschaftlichen Bereiche, die mit Erfolg funktionierten, während Wirtschaft und Politik sich von Krise zu Krise hangelten.

In der Untersuchung der Weimarer Republik versäumt es Bollenbeck, die entscheidenden Entwicklungen in den antimodernen Diskursen zu analysieren und fällt damit hinter den aktuellen Forschungsstand zurück. Für ihn ist die Antimoderne ein eindeutiges Phänomen der Reaktion, er übersieht vollkommen, daß es auf der Linken ebenfalls einen starken Antimodernismus gab. Georg Lukacs übernimmt in manchen Aufsätzen die antimoderne Diktion bis hin zum Zersetzungs- und Dekadenzvorwurf und auch Adornos spätere Ausführungen über Jazz und amerikanisierte Populärkultur bedienen sich antimoderner Stereotypen.

Bollenbecks Bild von Moderne wie Antimoderne bleibt statisch, dazu gehört auch, dass er zwar Kulturkritiker wie Spengler oder Moeller van den Bruck zur Kenntnis nimmt, aber die Denker der konservativen bzw. reaktionären Moderne ignoriert, bei denen Moderne und Antimoderne bunt durcheinander gehen. Hugo von Hofmannsthal, der mit seinem Lord Chandos-Brief eine der Programmschriften der deutschsprachigen Moderne verfasst hat, gibt in seiner Nationenrede ein hochdifferenziertes und hochreflektiertes Plädoyer für die Antimoderne und benutzt gleichzeitig auch das neue Schlüsselwort "Konservative Revolution", das auch zu den bevorzugten Begriffen des von Bollenbeck gleichfalls weitgehend ignorierten Ernst Jünger gehört, des modernen Antimodernen schlechthin.

Inwieweit die Denker der konservativen Moderne das Bildungsbürgertum nach rechts mobilisierten, ist eine Frage, die sich für Bollenbeck erübrigt, denn er hat eine einfache Lösung: das von den Antimodernen geprägte Schlagwort "Kulturbolschewismus", ist "die semantische Brücke, auf der das Bildungsbürgertum ins dritte Reich gelangt".

Auf den verbleibenden 60 Seiten, die die Kultur im Deutschland der Jahre zwischen 1933 und 1945 zum Thema haben, geht es um eine überschaubar gewordene Kulturlandschaft, denn viele Verfechter der Moderne sind ihrer Ämter beraubt oder des Landes vertrieben worden. Hier nun liefert Bollenbeck eine differenzierte und einfühlsame Analyse der Entwicklung von Massenkultur und Höhenkünsten.

Abschließend bleibt die Feststellung, dass Moderne wie Antimoderne einfach nicht zu fassen sind, jedenfalls nicht von dieser Art der Diskursananlyse, die sich im Vorgängerband "Bildung und Kultur" noch bewährt hat. Als zu undialektisch, zu schematisierend und letztlich auch zu ungesellschaftlich erweist sich Bollenbecks Ansatz gegenüber der kulturellen Antimoderne wie gegenüber der Moderne, die gerade wegen ihrer Pluralität, ihrer Dynamik und ihrer Unübersichtlichkeit bemerkenswert ist. Das macht noch immer ihre Widerständigkeit und ihren zugebenermaßen provokanten Charme aus.

Titelbild

Georg Bollenbeck: Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880-1945.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
448 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3100048032

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