Widerstreit der Lesarten

Felix Philipp Ingold spricht "Im Namen des Autors"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch wenn der Autor selbst, wie so oft proklamiert und ebenso oft auch wieder bestritten wurde, verschwunden sein sollte - die Frage nach einem komplexen Tableau avancierter Konzepte einer Theorie von Autorschaft hat sich in den letzten Jahren eher verstärkt. Darin liegt zweifelsohne das bis heute währende Verdienst des 1968 in der Zeitschrift Manteia erschienenen Essays "La mort de l'auteur" von Roland Barthes, in dem der französische Intellektuelle auf Poetiken der Moderne verweist, in denen Autoren ihre Rolle beim Schreibprozess marginalisieren. Der "Autor" als Ursprung aller Bedeutungssetzung sei abgelöst worden durch den "Schreiber" (scripteur), der lediglich auf das kulturelle Gedächtnis zurückgreife.

Diesen Befund verknüpft Barthes mit einer Texttheorie, der zufolge ein Text nicht eine feste Bedeutung habe, die durch den Verweis auf den Autor gesichert werden könne, sondern ein Raum sei, in dem sich differente Schreibweisen vereinigten und bekämpften. Diese Schreibweisen sind nun nach Barthes aber keineswegs originell, zumal der Text einem "Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur" gleiche. Dementsprechend hat sich auch die Arbeit des Lesers zu ändern: Er soll nicht versuchen, den einen Sinn des Textes ausfindig zu machen, sondern soll stattdessen den Textbewegungen, seiner Sinnbildung und -auflösung folgen und sie entwirren.

Der bekannte und vielfach zitierte Schlusssatz des Essays bringt den angestrebten Paradigmenwechsel auf den Punkt: "Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors".

Wie eine Revitalisierungsmaßnahme dahinsiechender Autorschaft erscheint auf den ersten Blick ein Band des Schweizer Kulturwissenschaftlers Felix Philipp Ingold, der "[i]m Namen des Autors" elf Arbeiten zur literarischen und künstlerischen Kultur zwischen klassischer Moderne und Postmodernismus versammelt. Thematisiert werden dort die vorsprachlichen Entstehungsbedingungen des Gedichts, die Funktion und Bedeutung des Autornamens, das Verhältnis der Belletristik zur Tierwelt sowie die prekären Interdependenzen von Text und Lebens-Texturen. Gemeinsamer Fokus dieser Essays ist einerseits die Frage nach dem Verhältnis von Autorschaft und Werkautonomie, zum anderen die mindestens ebenso gewichtige Frage nach der Konstitution von Textbedeutung und -sinn.

Auf den zweiten Blick versteht Ingold - in erkennbarer Anlehnung an Barthes - den Autor als "'Mehrer'", als "Arrangeur, der Vorgefundenes, Einfallendes, Zugefallenes aufnimmt, um es neu zu ordnen, es durch Verfremdung, durch Umwandlung neu erkennbar zu machen". Individuelle Autorschaft wird somit von der Aura originalen künstlerischen Schöpfertums befreit, um stattdessen die "Eigengesetzlichkeit des Materials" und die "Eigendynamik des Verfertigens" zu privilegieren. Konstitutiv für das Verständnis eines künstlerischen Werks sind nach Ingold zum einen "dessen interpretative Erschließung im Nachvollzug des vom Autor vorgegebenen Bedeutungszusammenhangs" und zum anderen "der Sinn, der vom Rezipienten individuell zu bilden ist". Je weiter der Leser darin gehe, desto höher werde der Sinngewinn, aber auch die - ebenfalls eine Evokation Barthes' - 'Lust am Text'. Das Konzept der Autor-Leser-Interaktion bzw. die Ineinssetzung von Autor und Leser zum 'Autor-als-Leser' zeichnet Ingold an Schriftstellern wie Rainer Maria Rilke, Boris Pasternak, Elias Canetti oder Edmond Jabès nach.

Besonders der Essay über den ägyptisch-jüdischen "poetischen Denker" Edmond Jabès ("Schreiben heißt geschrieben werden"), der ursprünglich für den Sammelband "Und Jabès" (Verlag Jutta Legueil, Stuttgart 1994) verfasst wurde, darf als ein Glanzstück dieses Buches angesehen werden. Jabès, dessen Texte zu Unrecht hierzulande noch immer kaum bekannt sind, obwohl (oder doch eher: weil?) sie befreundete Intellektuelle wie Maurice Blanchot, Jacques Derrida und Paul Celan in hohem Maße beeinflusst haben. Bei Jabès zieht die Vorstellung von der Unabhängigkeit der Sprache in radikaler Weise die Infragestellung des Autors nach sich; seine Texte reflektieren die Frage, ob das Autorsubjekt nur ein passives Medium ist oder sogar gänzlich verschwindet.

Da Jabès den Autor vor allem als Leser begreift, scheint sich bei ihm eine Verlagerung des produktiven auf den rezeptiven Aspekt anzudeuten. Unter mehreren Funktionsbestimmungen, die er für den Akt des Schreibens formuliert hat, finden sich viele, die den Schriftsteller als denjenigen ausweisen, der, indem er schreibt, einen stets schon vorgeschriebenen unsichtbaren Text sichtbar, also lesbar werden lässt. Wer schreibt, schreibe Gelesenes nach, wobei das Gelesene bloß eine mögliche Lesart des Unlesbaren sei. "Wir schreiben", so Jabès in "Elya" (1969), "nichts anderes als das, was zu lesen uns gestattet war und was bloß einem winzigen Teil des in Worte zu fassenden Alls entspricht". Poetisches Denken vollzieht sich - im Übrigen ähnlich wie in Celans Gedichten - simultan mit der Geste des Schreibens. "Ich schreibe in der Gegenwart", schreibt Jabès, und "[d]ie Gegenwart schreibt mich". Damit fällt Jabès' Schrift-Denken weitgehend mit dem zusammen, was er selbst in "La voix où elle s'est tue" (1987 in den "Cahiers pour un temps" erstpubliziert) "jüdisches Denken" nennt: "Jegliches Denken denkt sich im Wort; denn der Satz, der's enthüllt, enthüllt sich erst von einem Denken aus, das ihn, seinerseits, dazu veranlaßt, sich zu denken. Dieser Vorgang ist dem jüdischen Denken vertraut ... das Sagen des Judaismus ist dem Poetischen zugewandt, es ist das Sagen eines Werdens, das 'Werdende seines Werdens'". Jabès hat jüdische Schreibbewegungen als einen "Widerstreit von Lesarten" charakterisiert, was Ingold zu dem einleuchtenden Schluss verleitet: "[W]o aber die Wahrheit ihre Eindeutigkeit verliert, wo sie sich konstituiert als eine Vielfalt von unterschiedlichen, auch gegensätzlichen Lesarten, büßt der Autor viel von seiner Autorität ein. Andererseits zieht die solcherart bedingte Entmächtigung des Autors unweigerlich die Aufwertung des Lesers nach sich. Der Leser wird nicht auf ein bestimmtes Textverständnis festgelegt, sondern ist aufgefordert, anhand eines offenen Textangebots möglichst viele Bedeutungen zu eruieren".

Wie bei kaum einem anderen Autor erlauben Jabès' Texte Einblicke in die textuelle Verknüpfung von poststrukturalistisch durchwirkten Ansätzen und jüdischem Gedankengut aus Theologie, Mythologie und Kabbala. In diesem Kontext springt ein Vergleich der jüdischen Annahme von der schriftlichen Verfasstheit der Welt mit dem postmodernen Postulat vom texte général geradezu ins Auge. Vergessen werden sollte jedoch nicht, dass das Schema von Zerstörung und Erneuerung von Sprache bei Jabès (wie auch bei Celan) als ästhetisches Prinzip im Kontext der Shoah eine besondere Relevanz erhält.

Der physische Versuch der restlosen Vernichtung alles Jüdischen durch die Nationalsozialisten zeigt konkrete Auswirkungen auf seine Konzeption des Schreibens und deren Verwirklichung in Jabès' Texten, die diesem alles erschütternden Datum auch da Rechnung tragen, wo sie es nicht explizit thematisieren. Jabès' Werke und seine Vorstellung von Autorschaft konstituieren eine Poetik im Zeichen von Auschwitz, wobei er demonstriert, dass Auschwitz auch außerhalb einer vordergründig 'realistischen' Abbildung in seiner Wesenhaftigkeit evoziert werden kann. Auf diesen Aspekt macht Ingold aufmerksam, wenn er ausführt, dass Jabès "die Wörter diesseits ihrer gängigen Bedeutung für sich selbst sprechen [...], sich selbst besprechen, sich selbst widersprechen" lässt und sie so arrangiert, "daß in ihnen das Unaussprechliche zumindest als Frage anklingen kann".

Ähnlich wie für Roland Barthes wird für Jabès der Autor zum kompilatorischen 'Schreiber' vorgegebenen Sprachmaterials reduziert. Wenn die Autorität der Autorschaft der Sprache überlassen und die Schreibbewegungen des Autors nicht so sehr durch seinen Willen als vielmehr durch die lautliche und rhythmische Eigendynamik der Wörter mobilisiert werden, bleibt die Entstehung des Textes vom schöpferischen Ich weitgehend abgekoppelt. Um den Text zu erschließen, muss der Dichter, so Jabès in "El, ou le dernier Livre" (1973), "ihn in jedem seiner Wörter zerstören", während gleichzeitig der Text auch ihn, den Dichter zerstört, so dass schon "bald von ihm wie auch vom Buch nur zwei kleine Punkte übrig bleiben, der eine schwarz, der andre weiß, welche sogleich ineinander verschmelzen".

Es gelingt Felix Phillip Ingold mit seinen Essays nicht nur deutlich zu machen, dass die poststrukturalistische Kritik am Autor nicht allein auf den Schultern Roland Barthes' (oder Michel Foucaults) ruht, sondern die bereits als beendet erklärte Debatte über die Bedeutung von Autorschaft wieder zu beleben und unter wechselnden Gesichtspunkten neue Themen- und Problembereiche zu eröffnen. Man darf auf die folgenden Um- und Widerschriften der in diesem Band versammelten Ansätze sehr gespannt sein.

Titelbild

Felix Philipp Ingold: Im Namen des Autors. Arbeiten für die Kunst und Literatur.
Wilhelm Fink Verlag, München 2004.
404 Seiten, 32,90 EUR.
ISBN-10: 3770539842

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