Alterität und Transgression

Verena Olejniczak Lobsien und Eckhard Lobsien über die "Imaginationskultur" des elisabethanischen Zeitalters

Von Uwe LindemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Uwe Lindemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Verena Olejniczak Lobsien und Eckhard Lobsien haben mit "Die unsichtbare Imagination. Literarisches Denken im 16. Jahrhundert" eine breit angelegte Studie zum Selbstverständnis der literarischen Kultur des elisabethanischen Zeitalters vorgelegt, wobei auch einschlägige Texte aus Frankreich, Italien und Spanien berücksichtigt werden. Ziel der Studie ist es, nicht nur die vielfältigen Äußerungen über die Imagination in der poetologischen, philosophischen und medizinischen Theorie des 16. Jahrhunderts zu erfassen, sondern, jenseits einer rein begriffsgeschichtlichen Vorgehensweise, die Imagination dort zu suchen, wo sie häufig "unsichtbar" am Werk ist, nämlich in der Literatur selbst. So besteht ein Großteil der Studie aus detaillierten Analysen und Interpretationen einzelner literarischer Texte, in denen die allgegenwärtige Präsenz der "unsichtbaren" Imagination überzeugend aufgewiesen wird.

Die Studie besteht aus insgesamt fünf umfangreichen Kapiteln. Das erste Kapitel "Sichtbare und unsichtbare Imagination" widmet sich zunächst dem begriffsgeschichtlichen Rahmen, in dem sich die theoretischen Diskussionen um den Ort, die Vermittlungsaufgaben und die Funktion der Imagination im 16. Jahrhundert, nicht selten im Rückgriff auf antike Traditionen, bewegen. Drei begriffsgeschichtliche Untersuchungsfelder rücken in den Blick: zunächst die von Aristoteles, Platon und dem Neuplatonismus teils medizinisch, teils philosophisch bestimmten Debatten: von der Imagination als bildlichem Vorstellungsvermögen bis hin zum topischen "Wahn des Dichters". In einem zweiten Schritt wird die Rolle der Imagination im Bereich der poetologischen Theorie des 16. Jahrhunderts (Puttenham, Webbe, Sidney u.a.) untersucht. Der dritte Abschnitt fokussiert die Allegorie als literarische Figur der Imagination par excellence: "Die Allegorie ist die Anwendung der Imagination auf sich selber". Dies wird eindrucksvoll an Texten von Dante, Spenser und Shakespeare gezeigt. Schon aus diesen Analysen und Interpretationen wird deutlich, dass der Imagination im 16. Jahrhundert vielfältige Aufgaben und Funktionen zugewiesen werden, die sich auf keinen einheitlichen Nenner bringen lassen. Sie ergeben sich vielmehr aus dem jeweiligen Sachverhalt und Kontext, in dem die Imagination "thematisch" oder "symptomatisch", das heißt rhetorisch, narrativ oder ästhetisch sichtbar wird.

Das zweite Kapitel "Die pastorale Imagination" befasst sich mit der Allegorie in bukolischer bzw. bukolisch akzentuierter Literatur. Ausgehend von Theokrit, Vergil, Petrarca und Boccaccio wird die paradoxe Struktur der Allegorie im Pendeln zwischen "Beginnlosigkeit", das heißt dem vorausgesetzten Zustand eines Goldenen Zeitalters, und den Grenzen seiner Realisierungsmöglichkeit im jeweiligen Rahmen des Textes aufgezeigt. So erscheint die pastorale Imagination einerseits "als Rezeptions- und Performanzphänomen" sowie andererseits als Möglichkeit einer "Selbstbegründung literarischer Traditionalität". An Spensers "Shepeardes Calender" zeigen die Autoren, wie im 16. Jahrhundert die pastorale Imagination einer idealen Welt einerseits destruiert wird und dennoch als perfektes Modell imaginativer Arbeit gelesen werden kann. Bei Tasso und Shakespeare ("As You Like It", "A Midsummer Night's Dream", "The Winter's Tale") wird die pastorale Imagination mit dem Thema Liebe verbunden, wobei die Liebe als "ein Sehen-als, als eine Art 'natürlicher' Verblendung" inszeniert und damit als Vermögen zur Alterität lesbar wird, in dem die Kontingenz der Welt radikal aufscheint.

Im dritten Kapitel "Die höfische Imagination" wird das Moment imaginativer Alterität weiter betont und deren wirkungsmächtige Relevanz für die englische Literatur zunächst an einer Analyse von Castigliones "Cortegiano" demonstriert. Hier wird das imaginativ mögliche Anders-Sehen durch eine strategische Praxis des Anders-Könnens in der Spannung von Künstlichkeit und Natürlichkeit, Simulation und Dissimulation, Ethik und Ästhetik erfasst. In Sidneys "Old Arcadia" wird Castigliones Konzept dann allerdings auf die Probe gestellt, die Kosten und Schwierigkeiten höfischer Perfektion und Souveränität bilanziert und die Imagination der Perfektion gegen die Unmöglichkeit ihrer Verwirklichung ausgespielt. Im englischen Petrarkismus des 16. Jahrhunderts wird dieser Zwiespalt in der literarischen Konstellation von liebendem Dichter und der idealen, unerreichbaren Geliebten vertieft. Einmal mehr scheint hier das Problem der höfischen Imagination auf: "Wenn alles immer auch noch als etwas anderes gesehen werden kann, dann ist die Imagination jene geistige Kraft, dieses Anders-Sehen zwingend und immer neu zu motivieren. Sie operiert als Vermögen zur Alterität gleichsam horizontal, immer auf der gleichen Ebene zwischen je singulärem, kontingentem Detail (...) und abstraktem Konzept (...). Etwas Vollkommenes aber wäre nur im Stillestellen der Imagination gegeben, in ihrem Selbstdementi. Das wäre nur dann selber noch einmal als Zustand der Imagination zu sehen, wenn diese in einer Imagination der Imagination 'gehalten' wäre. Idealität, Vollkommenheit, Ganzheit von Welt und Selbst könnten Objekte einer Imagination sein, wenn diese zugleich Imagination der Imagination sein könnte." Genau dieser Punkt werde in der elisabethanischen Literatur erreicht. Es erfolge eine emphatische Neubestimmung des Literarischen, bei der Kultur, Imagination und Literatur "einen wesentlichen Bedingungszusammenhang" bildeten.

Das vierte Kapitel "Die heterotopische Imagination" beleuchtet verschiedene weitere Aspekte der elisabethanischen Imagination. Geht es im ersten Abschnitt um imaginative Konstruktionen von Raum und Zeit, so im zweiten Abschnitt um die 'Imaginationskrankheit' schlechthin - die Melancholie - im dritten schließlich um "Verbalimaginationen". Im ersten Teil rücken theatrale Räume, Landkarten und Reiseberichte in den Mittelpunkt. Es wird gezeigt, wie hier Imaginationen im Spiel sind, die das 'Andere' räumlich oder zeitlich zu vergegenwärtigen suchen - mit all den auch von Zeitgenossen wahrgenommenen Problemlagen, welche die alternierende Charakteristik der Imagination mit sich bringt. So etwa könne die "reisende Imagination" potentiell die Konsistenz des vernünftigen Selbst in Frage stellen. Der zweite Abschnitt verdeutlicht die privilegierte Verbindung von Imagination und Melancholie. Die Melancholie wird als "Ordnungsfigur der Unordnung", als "Topik der Heterotopie", als "Figur disharmonischer Korrespondenz" beschrieben und lässt sich damit als "Allegorie der literarischen Einbildungskraft" im Sinne einer "innere[n] Bewegtheit" lesen. Der dritte Teil versucht die Rolle der Imagination für die textliche und sprachliche Produktion selbst zu begreifen. Besonders eindrucksvoll gelingt es den Autoren, diesen Aspekt anhand von Nashes "Terrors of the Night" zu verdeutlichen, indem "in diesem fast gegenstandslosen Text" die Arbeit einer Imagination beobachtet werden kann, "die ein linear-flächiges Dahinfließen der Sprache veranlasst, in der alles mit allem verknüpft ist und doch ohne Halt vergeht": eine imaginative "Imitation des Traumerlebens" selbst. Nochmals rücken in diesem Teil auch Reiseerzählungen in den Fokus der Interpretation, wobei das Reisen selbst als Allegorie einer verbalen Imaginationstätigkeit erscheint, welche die Statik der literarischen Reise-Topik zu mobilisieren vermag.

Das fünften Kapitel "Die transgressive Imagination" betrachtet verschiedene Varianten einer Imaginationstätigkeit, in denen "das imaginative Sehen-als-etwas- oder das Jemanden-als-etwas-Imaginieren Teil der Wirklichkeit wird bzw. als ein Medium fungiert, um Wirklichkeitsveränderungen zu initiieren". Zunächst befassen sich die Autoren mit Texten über Hexen, Besessene und Märtyrer, in denen die transformierende Kraft der Imagination sowie im selben Maße die Kritik daran verdeutlicht wird. In den folgenden Ausführungen über die Rolle der Imagination in magischen Vorstellungen wird sie als "Mittel der Selbstermächtigung und Machttechnik des Renaissance-Magus" qualifiziert.

Den Abschluss des fünften Kapitels bildet eine Analyse von Shakespeares "King Lear" mit besonderem Blick auf die berühmte Klippen-Szene mit Gloucester und Edgar. Für die Autoren kulminieren in dieser Szene die transgressiven Momente der elisabethanischen Imagination: "Das Publikum 'sieht' auf der leeren Bühne des Shakespearetheaters eben das, was der unerkannte Sohn den blinden Vater imaginieren lässt, aber es sieht auch die Inszenierung dieser Imagination und vermag so, die evozierte Imagination zu imaginieren. Diese Klippenszene ist das wohl spektakulärste Beispiel für die Eröffnung und den Entzug, die Motivierung und die Destruktion einer Imagination, die aufgerufen ist, Bilder als Analoga einer sinnlichen Wahrnehmung zu erzeugen, und die in eben dem Maße an dieser bildlichen Konkretisierung gehindert wird, wie sie angefordert wird. Alle aufgeführten Leistungen der Imagination in diesem Stück - und damit alle - sind auf den Klippen von Dover versammelt und werden in den sich öffnenden Raum haltlos entlassen. Die Imagination der Frühen Neuzeit erfährt ihre Apokalypse."

Dieser kurze Überblick über den Inhalt, die Struktur und die Thesen der Studie von Verena Olejniczak Lobsien und Eckhard Lobsien kann gleichwohl nur ausschnitthaft wiedergeben, in welchem Umfang und mit welcher Reichweite die "Imaginationskultur" im England des 16. Jahrhunderts beschrieben und analysiert wird. Die Studie entfaltet ein weites literatur- und kulturgeschichtliches Panaroma, das insbesondere die paradoxen Aspekte und Effekte der "unsichtbaren" Imagination thematisiert. Wenn man eine kritische Anmerkung machen muss, so betrifft sie die in der Studie fast gänzlich ausgeblendeten Bereiche der Politik und des Rechts - zwei Gebiete, die im Rahmen der elisabethanischen Kultur in hohem Maße von Imaginationen bestimmt wurden. Man denke nur an die Zwei-Körper-Lehre und die prekäre Rolle der Königin in geschlechterpolitischer Hinsicht.

Doch auch dieser Einwand, der durch den Untertitel der Studie "Literarisches Denken im 16. Jahrhundert" (Hervorheb. U.L.) bereits abgefedert wird, kann das große Verdienst der Studie kaum schmälern, gelingt es ihr doch ebenso überzeugend wie detailgenau, Begriffsgeschichte und philosophische Analyse mit literaturwissenschaftlicher Interpretation zu verbinden.

Titelbild

Verena Olejniczak Lobsien / Eckhard Lobsien: Die unsichtbare Imagination. Literarisches Denken im 16. Jahrhundert.
Wilhelm Fink Verlag, München 2003.
434 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-10: 3770538994

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch