Erschriebene Ordnung

Adalbert Stifters "Nachsommer"

Von Christian BegemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Begemann

Es fällt leicht, sich über Stifters Nachsommer lustigzumachen. Eine Handlung, die diesen Namen kaum verdient, weil sie nur in homöopathischen Dosen serviert wird, die übermenschliche Bravheit des Helden, die Monotonie, mit der hier die immer gleichen Spaziergänge gemacht, die immer gleichen Gemälde gemustert, die immer gleichen Vögel gefüttert und die immer gleichen Gespräche geführt werden, die Betulichkeit und Umständlichkeit, die alles und jedes, vom Sitzmöbel bis zum Kaktus, registriert, katalogisiert und einer Sammlung einverleibt, ein zwanghafter Ordnungssinn, der den Helden nicht nur zumutet, vertrocknete Blätter von den Büschen zu lesen, Baumstämme abzuwaschen oder beim Durchqueren einer Marmorhalle regelmäßig Filzpantoffeln anzulegen, sondern der diese Verrichtungen auch noch jedes Mal erwähnen zu müssen glaubt, als handle es sich um lebensentscheidende Akte - dies alles und vieles mehr hat so manchen Leser, angeblich auch Germanistikprofessoren, dazu bewogen, die Lektüre noch vor der erlösenden Seite 731 abzubrechen. Der Nachsommer, soviel scheint klar, ist ein langweiliges Buch. Eine Zeitlang war es unter den Interpreten Mode, ihre Stifterforschungen mit Titeln wie 'Literatur und Langeweile' zu versehen, und das haben sie von einem der frühesten Rezensenten des Nachsommers gelernt. Er hieß Friedrich Hebbel, attackierte Stifters "aufs Breite und Breiteste angelegte Beschreibungsnatur" und holte rhetorisch bis nach Polen aus: "Drei starke Bände! Wir glauben nichts zu riskieren, wenn wir demjenigen, der beweisen kann, daß er sie ausgelesen hat, ohne als Kunstrichter dazu verpflichtet zu sein, die Krone von Polen versprechen."[1]

Und vergessen wir nicht die Sprachform, die gleichfalls für Verwunderung, ja für Hohn und Spott sorgte. Die "nackte Unfähigkeit und Albernheit" wird Stifter von Arno Schmidt attestiert.[2] Sätze wie "Sie hatte unter der Stirne zwei sehr große schwarze Augen"[3] haben bei den Lesern ebenso Bestürzung ausgelöst wie die Exzesse der Tautologie in Stifters Spätwerk: "'So schließen wir die Verhandlung über diesen Gegenstand', sprach die Tante. / 'Schließen wir sie', erwiderte der Oheim, 'da ja doch nichts zu verhandeln ist.' / Sie schlossen, weil wirklich nichts da war, das verhandelt werden konnte."[4] Was mag ein solcher Text verhandeln?

Aber irgendetwas muß ja wohl daran sein, an dieser Scharteke, daß Nietzsche sie zum halben Dutzend der besten deutschen Bücher gerechnet hat, daß Thomas Mann ihren behäbigen Autor einen "der merkwürdigsten, hintergründigsten, heimlich kühnsten [...] Erzähler der Weltliteratur"[5] genannt hat, daß sich so unterschiedliche Temperamente wie Karl Kraus und Peter Handke in gemeinsamer Stifterverehrung fanden. Und in der Tat: Läßt man sich einmal auf den Nachsommer ein, dann entwickelt gerade das, was man ihm vorwerfen kann, einen eigenartigen anziehend-abstoßenden Sog. Im Zeitalter einer rasanten Beschleunigung aller Lebensvollzüge kann man den Nachsommer genießen als eine Art therapeutischen Entschleuniger, man kann ihn lesen als Panorama der Zwanghaftigkeiten des viktorianischen Zeitalters oder als den ersten ökologischen Roman. Und ausgerechnet Stifters literarischer Erbfeind Hebbel formuliert am deutlichsten, freilich als Vorwurf, was heute vielfach als das Faszinosum an Stifter empfunden wird. "Was wird hier nicht alles weitläufig betrachtet und geschildert; es fehlt nur noch die Betrachtung der Wörter, womit man schildert, und die Schilderung der Hand, womit man diese Betrachtung niederschreibt, so ist der Kreis vollendet."[6] Ohne es noch begreifen zu können, artikuliert Hebbel, wie nahe Stifter einem wesentlichen Prinzip der literarischen Moderne kommt: der Selbstreflexivität der Literatur, der Ostentation ihrer Künstlichkeit, der Ausstellung ihres Materials und ihrer Produktion: der Wörter, der Schrift, der Hand. Vielleicht ist es doch nicht ganz zufällig, daß der Nachsommer im selben Jahr 1857 erschienen ist wie Gustave Flauberts Madame Bovary und Charles Baudelaires Fleurs du Mal - eine ungewöhnliche Zeitgenossenschaft, die zu denken geben könnte. Heute jedenfalls, am Ende der Moderne, sieht man mit anderen Augen, was Hebbel noch als literarischer Aberwitz erscheinen mußte. Viele Möglichkeiten der Nachsommer-Lektüre also. Zumindest indizieren sie die hohe Komplexität dieses befremdlichen, dieses schauderhaften, dieses großartigen Romans, der sich unter jeder vereindeutigenden Lesart hinweg dreht. Der Züricher Literaturhistoriker Peter von Matt hat das so ausgedrückt: "Wer nicht weiß, daß er mit ihm nicht fertig wird, sollte sich ohnehin nicht auf Stifter einlassen, sei er nun dessen Verehrer oder Verächter oder beides durcheinander."[7] In diesem Sinne deute ich hier nur einige grobe Linien des Romans an.[8]

In jenem Jahr 1857, als der Nachsommer in drei starken Bänden veröffentlicht wurde, war der damals zweiundfünfzigjährige Stifter Schulrat für das Land Oberösterreich. Seine Aufgabe war die Inspektion der gesamten Volksschulen dieser Region und die Vermittlung zwischen Schulen und Ministerium. Das war ihm keineswegs an der Wiege gesungen. Nur durch glückliche Zufälle nämlich gelangte der 1805 im südböhmischen Oberplan geborene und in ärmlichen ländlichen Verhältnissen aufgewachsene Junge überhaupt in eine höhere Schule, und zwar gleich in das angesehene Benediktinerstift Kremsmünster, das für seine naturwissenschaftlichen Forschungen bekannt war. Stifter hat diese intensiven Anregungen dort aufgesaugt und ist ihnen sein Leben lang treu geblieben - auch im Nachsommer. Sein Studium in Wien freilich galt den Rechtswissenschaften, doch führte es zu keinem Erfolg: In einem Akt der Selbstsabotage verabsäumte es Stifter, zur allerletzten Prüfung zu erscheinen. Viele Jahre lang hielt er sich daraufhin als Hauslehrer über Wasser, unter anderem in der Familie des berühmt-berüchtigten Staatskanzlers Fürst Metternich, der Inkarnation der Restaurationsepoche gleichsam. Die nicht abwegige, aber doch forcierte Einschätzung, er sei zum Landschaftsmaler berufen, wich erst spät, um 1840 etwa, der Einsicht, daß seine eigentliche Begabung eher doch anderswo lag. Stifter war Mitte Dreißig, als er seine ersten literarischen Texte veröffentlichte. Über Nacht fast wurde er mit den seit 1844 dann unter dem tiefstapelnden Titel Studien gesammelten Erzählungen zum Erfolgsautor für ein biedermeierlich-bildungsbürgerliches Publikum, das ihm später den Rigorismus, mit dem er sich ästhetisch weiterentwickelte, nicht verziehen hat. Schon in den fünfziger Jahren ließ das Publikumsinteresse deutlich nach, für seine letzte Erzählung hat Stifter keinen Verleger mehr gefunden.

Doch noch einmal einen Schritt zurück. Die Revolution von 1848 begrüßte Stifter anfangs lebhaft, er wandte sich dann aber angeekelt von den vermeintlichen Exzessen einer, so schien es ihm, von Triebhaftigkeit und Leidenschaft beherrschten Volksmasse ab. Stifter war kein politischer Kopf. Ich erwähne das nicht einfach aus biographischem Interesse, sondern weil wir uns hier bereits an den Ursprüngen des Romans befinden. Stifters Reaktion auf die Revolution ist gewissermaßen sehr deutsch: Es wiederholt sich ein Argumentations- und Verhaltensschema, das wir auch nach der Französischen Revolution beobachten können. Die Radikalisierung politischer Bewegungen gibt den Anlaß, notwendige gesellschaftliche Veränderungen nicht bei den Strukturen beginnen zu wollen, sondern bei den Individuen. Diese seien allererst zu vervollkommnen, alles weitere werde sich dann ergeben. Stifters Berufung zum Schulrat ist von daher ebenso konsequent wie der pädagogische Impuls des Romans, dessen Vorarbeiten bereits in den frühen fünfziger Jahren beginnen. Die Berufserfahrung allerdings wurde schnell schon zur Quelle tiefster Ernüchterung: Der Zweifrontenkrieg mit bornierten und geizigen staatlichen Institutionen einerseits und inkompetentem Schulpersonal andererseits rieb Stifter auf, die pädagogische Emphase zerbrach an den Nichtigkeiten des Alltags, und die hohe Arbeitsbelastung zehrte auch an den künstlerischen Energien. Stifters Werke - sie sind zum Teil auf Dienstreisen in der Postkutsche entstanden - sind dem abgetrotzt: Die Erzählsammlung der Bunten Steine von 1853, schließlich auch Stifters zweiter Roman Witiko, der zwischen 1865 und 1867 erschien. Die Reihe der Porträts zeigt den Leidensdruck auch physiognomisch an. Aus dem gemütlichen Biedermeierjüngling wird ein Mann mit unübersehbaren Gewichtsproblemen, der, wie schon Zeitgenossen bemerkten, einem melancholischen Fleischermeister gleicht. Wie einige überlieferte und wahrhaft staunenswerte Speisepläne belegen, flieht Stifter in eine, man kann es nicht anders sagen, Freßsucht, die wohl auch den Alkohol mit eingeschlossen hat. Auf späten Porträts sehen wir dann einen vorgealterten Sechzigjährigen, der von einem Leberleiden gezeichnet ist, das ihn physisch und psychisch gleichermaßen ruiniert. Die letzten Lebensjahre sind von fortschreitender Krankheit und seelischer Verdüsterung geprägt. In tiefer Depression beendet Stifter im Januar 1868, zweiundsechzigjährig, sein Leben: Er schneidet sich mit dem Rasiermesser die Kehle durch. Auch das erwähne ich nicht um des angenehmen Schauers willen. Denn dieses Ende gab und gibt viel Stoff zum Nachdenken. Katholische Stifterverehrer haben die Hände gerungen, den Autor des "sanften Gesetzes" nicht mehr begriffen oder das Faktum schlechthin leugnen wollen. Aber der blutige Tod und das vermeintlich so idyllisch-harmonische Werk, und gerade der Nachsommer, hängen doch zusammen. Denn dieser Roman ist in all seiner kühlen Schönheit und perlmuttenen Glätte mit Pessimismus, Resignation, ja Verzweiflung unterfüttert. All das, was die Epoche und das eigene Leben an Häßlichkeit, Gemeinheit und Widerwärtigkeit beinhalten, ist aus der Nachsommer-Welt strikt verbannt. Bis in die frugalen Mahlzeiten hinein ist hier alles anders und besser als im wirklichen Leben. Biographisch gesehen, schreibt Stifter sich das Elend seiner Lebenswelt vom Leib.

Worum geht es nun eigentlich? Ich rekapituliere kurz den kargen Inhalt. Der Roman ist die fiktive Autobiographie eines Ich-Erzählers, der seinen Lebensweg bis zur Hochzeit wiedergibt. Heinrich Drendorf stammt aus gutbürgerlichen Verhältnissen, ist finanziell unabhängig und erfreulicherweise nicht auf Berufsarbeit und Broterwerb angewiesen. Das ist die conditio sine qua non alles folgenden. Heinrich beginnt eine weithin autodidaktische Ausbildung in aller Breite, aus der sich dann die Naturstudien als Schwerpunkt herausschälen, insbesondere die Geologie und Geographie. In regelmäßigen Wanderungen erforscht er die einheimischen Gebirge. Bei einer dieser Reisen findet er Unterkunft in einem großzügigen Landhaus, das Heinrich durch die Fülle von Rosen beeindruckt, die eine ganze Fassadenseite bedecken. Es gehört einem alten Mann, dem Freiherrn von Risach, einem Junggesellen, der sich hier eine ideale kleine Welt aufgebaut hat. Heinrich wird bewirtet, er lernt Haus und Garten kennen und ist tief beeindruckt von der genauen Ordnung der Räume, den Sammlungen von Natur- und Kunstgegenständen und den ausgefeilten ökologischen Techniken, mit denen der Garten in ein üppiges Paradies verwandelt worden ist. Heinrich schließt Freundschaft mit Risach, der für ihn in der Folge zur entscheidenden Bildungsinstanz wird. Der Roman erstreckt sich über mehrere Jahre, die Heinrich im Wechsel zwischen winterlichen Stadtaufenthalten mit privaten Studien und sommerlichen Forschungsreisen verbringt, die ihn regelmäßig einige Wochen lang auch ins Rosen haus führen. Dort belehrt er sich gleichermaßen durch die Gespräche des Hausherrn wie durch die von diesem aufgebaute Ordnung des gesamten Lebens. Alles läuft hier ruhig, gemessen und in größter Gleichförmigkeit ab. Das Vorbildhafte dieser kleinen Welt zeigt sich nicht in bedeutenden Ereignissen und umfassenden Plänen, sondern gerade im schlichten, aber völlig durchgearbeiteten Alltäglichen - wie es ja für Stifter immer das Kleine ist, in dem sich das Richtige realisiert. Durch Risach wird Heinrich des weiteren auch an die Kunst herangeführt, die im Rosenhaus gesammelt und restauriert wird. Eines Tages lernt er eine Freundin Risachs mit ihrer Tochter kennen, Mathilde und Nathalie, die gleichfalls auf einem Gut, dem Sternenhof, leben. Jahre vergehen mit regelmäßigen Begegnungen, bis sich eine Liebe Heinrichs zu Natalie abzeichnet. Am Ende des zweiten Bandes wird sie in der sprödesten Liebeserklärung der deutschen Literatur geoffenbart. Bevor aber die Hochzeit gefeiert wird, muß Risach seine Lebensgeschichte erzählen, denn sie ist der Schlüssel zur Rosenhauswelt. Risach war in seiner Jugend Hauslehrer, hatte sich in seine Schülerin Mathilde verliebt, doch war es dann zu Mißverständnissen und zur Trennung gekommen, und zwar durch das unheilvolle Wirken der Leidenschaften. Risachs weiteres Leben hatte ihn in hohe Staatsämter geführt, die er aber aus Enttäuschung wieder aufgab, um sich aufs Land zurückzuziehen und sein Haus zu bauen. Jahrzehnte später war es zur Wiederbegegnung mit Mathilde gekommen, beide waren gereift und hatten die Gründe ihrer jugendlichen Fehler eingesehen, aber für eine Ehe war es zu spät. Nachträglich wird dabei enthüllt, daß das Rosenhaus eine Form der Kompensation darstellt, entworfen einerseits in Anlehnung an die frühe Jugendliebe, die sich gleichfalls im Umkreis eines rosenbewachsenen Hauses entfaltet hatte, andererseits als Gegenentwurf gegen die Leidenschaften, die damals alles Unglück herbeigeführt hatten. Die neue Lebensordnung ist daher nahezu klinisch frei von ihnen, sie verdankt sich geradezu dem Impuls, alles Affektive und mithin Gefährliche zu bannen. Was für Risach und Mathilde bleibt, ist - darum der Romantitel - ein Nachsommer des Lebens, ohne daß dem ein Sommer vorausgegangen wäre. Eine Erfüllung der Liebe ist erst in der nächsten Generation möglich - der Schock der einstmaligen Verirrung sitzt tief. Nach Heinrichs Eheschließung mit Natalie wird er zum guten Schluß auch noch der Erbe Risachs. Dessen Lebensordnung wird weitergegeben, darf jedoch nach Bekunden ihrer Protagonisten nicht mehr verändert werden. Alles hat am Ende, so der letzte Satz, "Einfachheit Halt und Bedeutung" (S. 731).

Im Freiherrn von Risach spiegelt sich Stifters politische, soziale und persönliche Resignation nach der Revolution von 1848. Risach zieht sich, wie gesagt, als hoher Staatsbeamter und Politiker von seinen Ämtern zurück, weil er keine Möglichkeiten sieht, in ihnen zu realisieren, was er für notwendig hält. Der Maßstab, den er dabei verfolgt, ist "die Ehrfurcht vor den Dingen, wie sie an sich sind", und "das, was die Dinge nur für sich forderten, und was ihrer Wesenheit gemäß war" (S. 614). Die vom Eigeninteresse geleitete Politik, ja überhaupt die gesamte Kultur seiner Zeit verfehle dieses Konzept, und ein Leben, das ihm folgen will, kann sich unter den gegebenen Verhältnissen daher nur im Privaten verwirklichen.

Risachs Maßstab - die "Ehrfurcht vor den Dingen" und ihrer Wesenheit - ist auch der Fundamentalbegriff von Stifters eigenem Denken und Schreiben. Risach ist nicht nur eine poetische, sondern auch eine poetologische Figur. In ihm reflektiert Stifter sein literarisches Programm. Auch er reagiert mit einem gegenbildlichen Konzept auf die Misere seiner Epoche, das die Wendung aus dem Öffentlichen ins Private glorifiziert. Der Nachsommer solle, so schreibt Stifter seinem Verleger Gustav Heckenast, "etwas Höheres" darstellen, "das den Leser über das gewöhnliche Leben hinaus hebt": "Ich habe wahrscheinlich das Werk der Schlechtigkeit willen gemacht, die im All gemeinen [...] in den Staatsverhältnissen der Welt in dem sittlichen Leben derselben und in der Dichtkunst herrscht [...]. Ich habe ein tieferes und reicheres Leben, als es gewöhnlich vorkömmt, in dem Werke zeichnen wollen und zwar in seiner Vollendung"[9]. Das hat Folgen. Wenn der ursprünglich geplante Untertitel des Romans "Eine Erzählung aus unseren Tagen" lautete, dann ist eine radikale Selektion des zeitgenössischen Materials mitzudenken. Alle häßlichen und verabscheuenswerten Züge der Gegenwart werden ausgeblendet. Sie sind lediglich indirekt wirksam als der Anlaß des Aufbaus einer ganz anderen Lebensform, der aber selbst nicht thematisiert wird. "Dampfbahnen und Fabriken" zum Beispiel haben laut Stifter in der schönen Literatur nichts zu suchen[10], und das gilt für nahezu alle übrigen charakteristischen Züge der zeitgenössischen Welt. Stifter trifft sich in dieser Konzeption mit den meisten anderen Autoren des deutschen Realismus: Realismus - und der Nachsommer gehört dazu - bezieht sich demnach nicht auf das Vorfindliche, sondern auf die "Wesenheit" der Dinge, ihre verschüttete Ordnung, die freilich allererst entfaltet und zur Erscheinung gebracht werden muß. Das ist der Anspruch des Romans. Wenn er scheinbar eine heile Welt darstellt, dann liegt darin keine ideologische Verklärung des Bestehenden, sondern dessen ebenso versteckte wie fundamentale Kritik.

Strukturell und gattungstheoretisch gesehen, lassen sich im Nachsommer zwei Hauptstränge unterscheiden. Zum einen die Entfaltung einer vorbildhaften Ordnung des Lebens - das Rosenhaus. Zum anderen die Entfaltung der Frage, wie die Individuen zu einer solchen idealen Lebensform gebracht werden können. Die Antwort heißt 'Pädagogik' und Bildung. Diese erscheinen als Mittel einer grundlegenden Veränderung der Welt, die am Einzelnen anzusetzen habe. Der Werdegang Heinrichs soll das demonstrieren. Mit Blick auf diese zweisträngige Grundkonstellation hat man den Nachsommer in verschiedene Traditionen eingeordnet. Zum einen in die der Idylle und der Utopie, genauer der Raumutopie. Zum anderen in die des Bildungsromans. Mag ersteres plausibel scheinen, so muß man mit letzterem wohl seine Schwierigkeiten bekommen. Gewiß, emphatisch könnte man sagen: Der Nachsommer ist ein Bildungsroman par excellence, ja vielleicht der einzige wirkliche Bildungsroman der deutschen Literatur schlechthin - Zweifel, ob es diese Gattung überhaupt gibt, sind nicht nur zulässig, sondern unvermeidlich. Der Roman nämlich entfaltet systematisch ein Programm des Wissens und der Entwicklung, wie es einzigartig ist in der Literatur. Nur hat das einen Schönheitsfehler: Das Subjekt solcher Bildung ist nicht nur klammheimlich, sondern geradezu programmatisch abhanden gekommen.

Betrachten wir zunächst Heinrichs 'Bildungsweg' etwas genauer. Er erscheint als systematischer Prozeß einer Modellierung des Ichs. Der Plan einer grundlegenden und umfassenden Ausbildung wird dabei mit eherner Konsequenz verfolgt. Drei Hauptstationen lassen sich unterscheiden: Natur - Geschichte und Kunst - Liebe.

Heinrich eignet sich als erstes die allgemeinen Grundlagen der Wissenschaft an, bevor er sich zur Naturwissenschaft wendet, zur Pflanzenkunde, Zoologie und Mineralogie, um sich schließlich in immer weiterer Konzentration für die Erdgeschichte zu entscheiden. Vieles an der dabei entfalteten Wissenssystematik erinnert an Stifters Schulort Kremsmünster. Die Theorie wird von der Anschauung flankiert, die sich der Eleve auf Wanderungen im Gebirge erwirbt, die sich zu wissenschaftlichen Forschungsreisen ausdehnen. Heinrichs Verfahren folgt zunächst in sehr zeittypischer Weise dem Prinzip des Positivismus: Er geht vom Tatsächlichen und Vorfindlichen aus, von den Fakten, die er sammelt. Auch sonst sind Sammlungen aller Art von maßgeblicher Bedeutung. Die Sammlung ist zwar immer unvollständig, sie zielt aber tendenziell auf die Repräsentation des Ganzen im Kleinen, auf die Rekonstruktion der Struktur und Ordnung ihres Gegenstandsbereichs ab. Über die Gesteinssammlungen im Gebirge mutmaßen Heinrichs Arbeiter, "daß, wenn ich mir merken könnte, woher alle die gesammelten Stücke seien [...] ich das Gebirge im kleinen auf einer Wiese oder auf einem Felde aufstellen könnte. Ich sagte ihnen, daß das ein Teil meines Zweckes sei" (S. 201). Mit dem Prinzip der Sammlung erfolgt bereits der Übergang zum nächsten Schritt: Er liegt in der Wendung vom einzelnen Faktum zu größeren Einheiten. Die Fakten werden gegliedert und systematisiert, die verbale Beschreibung der Dinge wird von ihrer wissenschaftlichen Zeichnung ergänzt, und schließlich geht Heinrich über zum Erfassen erdgeschichtlicher Zusammenhänge und morphologischer Einheiten. Ich übergehe weitere Details. Das virtuelle Endziel dieser von unten nach oben, vom Einzelnen zum Ganzen fort schreitenden Verfahren jedenfalls ist nicht weniger als die Nachkonstruktion der Natur, ihrer Gesetzmäßigkeit und Ordnung.

Mit den Besuchen im Rosenhaus kommen weitere Inhalte dazu: Neben der musterhaften Ordnung aller Lebensbezüge und Lebensweisen sind das insbesondere Geschichte und Kunst. Der Umgang mit diesen folgt zum einen gleichfalls dem positivistischen Prinzip der Sammlung, zum anderen dem Prinzip der Restauration. Für die Instandsetzung von Gemälden und Möbeln unterhält Risach eine eigene Werkstätte. Kunst wird dabei immer im Hinblick auf ihren Entstehungszeitraum, ihre Geschichte und ihren ursprünglichen Zustand betrachtet. Mit dem Nachsommer befinden wir uns historisch am Punkt der Erfindung der Denkmalpflege, und Stifter selbst war zwischen 1853 und 1868 Conservator für Oberösterreich, eine Art oberster Denkmalschützer, damals ein Nebenberuf. Unter dem Einfluß der theoretischen und praktischen Kunstpflege im Rosen haus wendet sich Heinrich von der naturwissenschaftlichen Abbildung zur künstlerischen Landschaftsmalerei. In einem mühevollen Prozeß versucht er eine Dimension der sichtbaren Welt malerisch einzufangen, die in den naturwissenschaftlichen Zeichnungen nicht repräsentiert ist. Geht es dort darum, die Teile korrekt wiederzugeben und additiv zusammenzusetzen, so ist die neue Aufgabe, "die Seele eines Ganzen" zu erfassen: "Es war ein gewaltiger Reiz für das Herz, das Unnennbare, was in den Dingen vor mir lag, zu ergreifen" (S. 293). Es handelt sich um die Erlernung einer anderen Perspektive auf dieselben Gegenstände, einer Perspektive, die die naturwissenschaftliche Sicht keineswegs infrage stellt, sie aber auf dem Weg einer umfassenden Weltaneignung notwendig ergänzen muß. Dies ist dann aber auch die wesentliche Funktion: Heinrich muß den Blick durch die Dinge hindurch auf ihre Wesenheit, Seele und Bedeutung erwerben - ein richtiger Landschaftsmaler aber muß er nicht werden. Der Nachsommer ist kein Künstlerroman. Kunst ist eine Etappe, ein Teil und ein Mittel, nicht aber das Ziel einer anzustrebenden Lebensordnung.

Wichtig für das nachsommerliche Kunstprogramm ist vor allem die Verflechtung von Klassizismus und Historismus. Stifter und Risach beklagen einen aktuellen Kunst- und Kulturverfall, und das entspricht dem zeittypischen Epigonenbewußtsein nach dem vielfach diagnostizierten Ende der 'Kunstperiode', wie Heine die Ära der Klassik und des deutschen Idealismus genannt hat. In dieser Phase des Niedergangs habe sich die Kunst an älteren Vorbildern zu orientieren, freilich nicht sklavisch, sondern eher im Sinne einer Inspiration, insbesondere an der Antike und am Mittelalter. Dahinter steht nicht zuletzt eine Legitimationsproblematik: Will der Gegenentwurf gegen die schlechte vorfindliche Realität nicht selbst dem Verdacht verfallen, bloß willkürlich zu sein, so muß er an anerkannte Gewährsinstanzen anknüpfen.

Am deutlichsten wird die normative Kraft der Antike in einem besonderen Zusammenhang: Im Zentrum des Rosenhauses wie des Romans überhaupt steht eine antike Marmorstatue. Wenn man für sie ein reales Vorbild sucht, dann findet man es in der Münchner Glyptothek, wo Stifter die Figur in ergänztem Zustand kennenlernte. Heinrich sieht jahrelang an ihr vorbei, weil er noch kein Sensorium für die Kunst entwickelt hat. Erst im Laufe seines Bildungsprozesses kommt es zur 'Entdeckung' der Statue während eines Gewitters, in dem sich der Marmor zu beleben scheint. Diese Plastik bildet in mehrfacher Hinsicht das 'Zentrum': kunstgeschichtlich und kunsttheoretisch, gewissermaßen aber auch lebenspraktisch. Für Heinrich markiert sie einen neuerlichen Übergang in seiner Entwicklung: Von den Gegenständen der außermenschlichen Natur wendet er sich nun zum Menschen. Heinrich beginnt jetzt auch Personen zu zeichnen, und derart bereitet und vermittelt das Kunstwerk den Weg zur Sicht des Menschen.

Das zeigt sich auch in einem weiteren, einigermaßen befremdlichen Zusammenhang: Es ist auffällig, daß Natalie häufig mit antiken Kunstwerken verglichen wird, mit Statuen und Abbildungen auf griechischen Gemmen. Stifter stellt sich hier in eine seit dem 18. Jahrhundert zu verfolgende Tradition, in der Frauen immer wieder als Statuen beschrieben werden. Die antike Kunst erscheint dabei als Medium, durch das hindurch eine neue Wahrnehmung des Körpers etabliert wird. Das hat einen leicht zu identifizierenden Grund: Denn die antike Kunst, so lautet seit dem Klassizismus Winckelmanns im 18. Jahrhundert ein Konsens, den auch Risach wiederholt, die antike Kunst sei gekennzeichnet durch die Abwesenheit aller Leidenschaften. Sie gebe das Bild eines ins Vollkommene, Reine und Maßvolle abgeklärten Menschseins. In der Plastik erscheine der menschliche Körper als Abbild der Idee, als Ausdruck des Höheren und Reineren im Menschen. Alle Beschreibungen des Körpers im Roman zielen genau darauf: Körperlichkeit als Basis der verfehlten Affektivität und insonderheit des Eros, der in Risachs Jugendgeschichte so mächtige Verirrungen heraufbeschworen hatte, muß entmächtigt werden, und zwar nach dem Vor-Bild der Antike. Der Körper soll wie ein Kunstwerk wahrgenommen und dadurch gleichsam neu erschaffen werden. Er darf keinen Eigenwert haben, sondern muß transparent sein auf das, was eigentlich zählt: das Geistige und Seelische. Und als solcher, als Körper, muß er abgekühlt, ja abgetötet werden. All das leistet die Wahrnehmung der Frau als Statue. Werden alle Arten von körperlicher Erhitzung im Roman durch seitenlange Ermahnungen geahndet, so versteht es sich fast von selbst, daß der außerordentlich prekäre Moment der Liebeserklärung besonderer Zurüstungen bedarf. Durch ausladende Gespräche über Marmor, Hochgebirge, Schnee und Eis wird er gleichsam in Kühlpackungen eingeschlagen, und vor allem: Er findet im Angesicht eines weiteren Marmorbildes statt. Die Liebe von Heinrich und Natalie wird derart durch das Medium der Kunst hin durch gefiltert und in ihm bearbeitet, bevor sie erfüllt werden kann. Am Ende unzähliger Strategien, die in diese Richtung zielen, erscheint Natalie "befestigt, veredelt und geglättet" (S. 682) - das läßt sich nun freilich nur von einer Statue sagen. Jetzt kann geheiratet werden. So geht Heinrichs Erziehung zur Liebe - die dritte maßgebliche Station seines Wegs - aus der Kunst hervor, erfolgt in deren Medium und zielt auf eine umfassende Kontrolle und Bearbeitung der inneren Natur.

Diesen Aspekt, Kontrolle und Zähmung der Innenwelt, kann man allerdings von Anfang an im Roman verfolgen. Im Gegensatz zu allen anderen Entwicklungsgeschichten des 18. und 19. Jahrhunderts ist Heinrichs Weg frei von allen Abweichungen und Verirrungen. Geht der biographisch strukturierte Entwicklungsroman zumeist von einem Anfangszustand der subjektiven Selbstverfallenheit und Weltverkennung, der unrealisierbaren Wunschbilder und Illusionen aus, so ist bei Heinrich nichts derartiges gegeben. Heinrich ist ein Musterknabe, eine 'Un-Person', ein reines Kunstprodukt, und das war mit der Andeutung gemeint, es gebe im Nachsommer kein eigentliches Subjekt der Bildung mehr: Der Held hat keine Leidenschaften, keine falschen Anlagen, nichts, was in einem Entwicklungsgang abgeschliffen werden müßte. Er hat keine besonderen Eigenschaften und ist von Anfang an in einem gewissen Sinn immer schon dort, wo er ankommen soll. Ja, Heinrich ist so wenig Individuum, daß Stifter ihm erst am Ende des Buches einen Eigennamen gönnt. Heinrichs Weg ist darum mehr oder weniger prädeterminiert; der Protagonist muß nur noch die einzelnen Stationen durchlaufen, die vorher sagbar sind. Wie im Märchen vom Hasen und dem Igel ist Risach jeweils schon da, wo Heinrich mit Sicherheit ankommen wird. Den am Etappenziel Eintreffenden pflegt Risach mit den Worten zu empfangen: "Ich habe mir es gleich so gedacht". In der Konsequenz einer derartigen 'Subjektlosigkeit' zeichnet sich eine merkwürdige Beschaffenheit der 'Bildung' ab. Meinte 'Bildung' einmal emphatisch die harmonische Ausbildung aller Geistes- und Seelenkräfte oder wenigstens den Abgleich individueller Strebungen mit objektiven Erfordernissen, so reduziert sich Heinrichs Bildung auf einen Prozeß der Einspeicherung von Wissen über die Welt und einen Prozeß der Integration in eine schon bestehende ideale Lebensform. Bildung reduziert sich im Extremfall zu einem Katalog von Inhalten, die lediglich aufgezählt werden. Deutlich wird das an Heinrichs abschließender Bildungsreise. Traditionell krönte diese die Lehrjahre wohlhabender Jünglinge. Sie verschaffte die Anschauung der bis dahin nur aus Büchern bekannten Kunstwerke und Naturschönheiten, sie erprobte und stärkte die Weltläufigkeit und stabilisierte die eigene Identität in der Auseinandersetzung mit dem Fremden. Anders im Nachsommer. Es handelt sich wohl um die längste und die kürzeste Reise der Weltliteratur in einem. "Ich ging zuerst über die Schweiz nach Italien; nach Venedig Florenz Rom Neapel Syrakus Palermo Malta. Von Malta schiffte ich mich nach Spanien ein, das ich von Süden nach Norden mit vielfachen Abweichungen durchzog. Ich war in Gibraltar Granada Sevilla Cordoba Toledo Madrid und vielen anderen minderen Städten. Von Spanien ging ich nach Frankreich, von dort nach England Irland und Schottland und von dort über die Niederlande und Deutschland in meine Heimat zurück. Ich war um einen und einen halben Monat weniger als zwei Jahre abwesend gewesen." (S. 708)

Subjektlosigkeit also, ein tiefes Mißtrauen in die dunklen Mächte des Inneren, die vom Guten und Richtigen ablenken und zu Irrtum und Gewalt führen. Und auf der anderen Seite das Postulat der Wendung zur Objektivität der Außenwelt, zur Natur und ihrer Gesetzmäßigkeit, zu Geschichte und Kunst und zum sozialen Anderen, zum Menschen. Das kann nicht ohne Konsequenzen bleiben für die Art und Weise der erzählerischen Präsentation. Die Entsubjektivierung und Wendung zum Objektiven, die Stifter seinen Figuren abverlangt, vollzieht er nämlich auch in seinem eigenen Erzählen. Stifters Frühwerk, geschult an E.T.A. Hoffmann und Jean Paul, kennt noch überschwenglichen Gefühlsausdruck, ist metaphernreich, weist stilistische Vielfalt, differenzierte Satzgliederungen und ein sehr präsentes Erzählersubjekt auf. Seit dem Beginn des mittleren Werks läßt sich der Abbau von allem beobachten, was auf die besondere Sichtweise eines Erzählers hindeuten könnte. Denn 'subjektiv' wird für Stifter zunehmend synonym mit 'verzerrend' und 'verfälschend'. Der Erzähler hat deshalb alle Besonderheiten abzulegen und ganz hinter der Ordnung dessen zurückzutreten, was er darstellt. Stifter versucht, eine Art Selbstpräsentation der Dinge im Text zu simulieren, oder mit anderen Worten: Er tut so, als gäbe es gar kein Subjekt mehr, das erzählt.

Es ist daher zunächst das auktoriale Erzählen, das diesem Anliegen zum Opfer fällt: Kommentare und Reflexionen des Erzählers. Es ist weiter die Innensicht, die weichen muß: Der Erzähler weiß über seine Figuren nur, was allgemein wahrnehmbar ist: das Handeln, Verhalten und Sprechen. Die Gedanken und Gefühle seiner Geschöpfe aber scheint er nicht zu kennen. Diese strikte Außensicht schließt ein psychologisches Erzählen aus. Stifter ist ein unpsychologischer Erzähler par excellence. Im Nachsommer gibt das einen eigentümlichen Effekt, denn wir haben es ja mit einem Ich-Erzähler zu tun, der ohne Verletzung des Objektivitätspostulats seine inneren Vorgänge schildern könnte. Das ist aber nicht der Fall. Innere Prozesse kommen allenfalls in vergegenständlichter Form zur Erscheinung: in Gesprächen, Handlungen, einigen ganz wenigen Symbolen. Wenn Risach seine Rosen betrachtet, dann schwingt wohl seine ganze Vergangenheit mit. Wenn Heinrich ins Gebirge fährt und, auf dem Lautersee im Boot sitzend, den Seegrund mit dem Lot ausmißt, um anschließend eine Karte anzufertigen, die er am Ende mit Staunen betrachtet, dann hat der Leser den dumpfen Eindruck, er wohne gerade einer Selbsterforschung des Helden bei. Belegen läßt sich das kaum. Stifters Schreiben ist verschwiegen, es arbeitet mit leisen Hinweisen und Andeutungen, und gerade das Aussparen, das Nicht-Aussprechen wird dabei gelegentlich besonders aussagekräftig. Denn das kategorische Vermeiden alles irgendwie Subjektiven erzeugt ja gewissermaßen auch einen Umkehreffekt: Die fast schon panische Aussparung affektiver Vorgänge weist gerade auf das hin, was die beruhigte Rosenhaus-Welt bedroht und wogegen sie ja überhaupt erst aufgebaut worden ist. All die Gefährdungen, die der Text programmatisch nicht vorkommen läßt, bleiben derart im Untergrund des Romans wie ein leises Beben spürbar. Das verleiht dem Text seine ungreifbare innere Spannung.

Die Tendenz zur Objektivierung des Schreibens bringt schließlich auch den unverwechselbaren Stifterschen Stil hervor, der sich im Nachsommer bereits auf dem Weg zu der grandiosen Verkarstung und monumentalen Versimpelung des Spätwerks befindet. Ich nenne nur einige Aspekte. 1. beginnen bei Stifter die schlichten Hauptsätze zu dominieren. Oder, um es auf germanistisch zu sagen: Stifter bevorzugt gegenüber der Hypotaxe zunehmend die Parataxe, denn hypotaktische Sätze konstruieren Abhängigkeitsverhältnisse, Über- und Unterordnungen, Beziehungen also, die erst ein Sprecherindividuum stiftet. Parataktische Sätze dagegen sagen das schlichte Nebeneinander von Sachverhalten in Form einer Reihung aus, ohne sie durch die Art ihrer sprachlichen Vergegenwärtigung gewissermaßen schon zu kommentieren. 2. neigt Stifter zur Tilgung aller Metaphern. Was hat das mit Objektivierung zu tun? Metaphern gehen in traditioneller Sicht auf den 'Witz' eines Subjekts zurück, also die besondere Fähigkeit, Verbindungen zwischen entlegenen Gegenständen herzustellen und sprachlich den einen durch den anderen zu ersetzen. Ähnlich verhält es sich 3. bei so scheinbar harmlosen Kleinigkeiten wie Adjektiven. Auch sie setzen einen besonderen Blick auf die Dinge voraus, die Hervorhebung eines besonderen Aspekts. Im Nachsommer gibt es daher einen stilistischen Kunstgriff, den ich als 'analytische Adjektive' bezeichnen möchte: Von 'rotem Mohn' und 'blauen Kornblumen' ist da etwa die Rede. Das Adjektiv also gehört hier selbst schon zum Begriff der Sache und fügt dieser keinen besonderen Akzent hinzu. Das deutet 4. darauf hin, daß Stifter am liebsten die Dinge nackt und bloß in den Raum stellt. Das betrifft auch die Wahl der Substantive und der Verben. Vor allem in den späten Texten, aber auch schon im Nachsommer, wählt Stifter, wann immer es möglich ist, das Wort 'Ding' und das Hilfsverb 'sein' anstelle exakterer Bezeichnungen. In einer etwas gerafften Schilderung nimmt sich das so aus: "Das nächste Zimmer [...] war das Schlafgemach. [...] Das Bett stand mitten im Zimmer und war mit dichten Vorhängen umgeben. Es war sehr nieder [...]. Sonst waren die Geräte eines Schlafzimmers da [...]. Die Innenseiten der Türen waren hier wieder zu den Geräten stimmend [...]. Sonst war weder ein Stuhl noch ein anderes Geräte in dem Zimmer. Vor den Fenstern waren waagrechte Brettchen [...]" usw. (S. 79). Es ist nun nicht einfach so, daß Stifter auf einmal die Worte fehlten, vielmehr steht hinter solchen Befremdlichkeiten durchaus eine Absicht. Mit Recht hat man hier von einem 'ontologischen Stil' gesprochen, der dazu neigt, nur noch das bloße Dasein der Dinge auszusagen - 'Objektivität' in Reinform. Der Leser wird Zeuge einer extremen Reduktion und Abstraktion, einer unerhörten Radikalisierung der Sprache, die Monotonie nicht scheut, aber zugleich auch etwas durchaus Frappantes bekommt. Auch die bereits angesprochenen Listen sind als drastische Konsequenz eines unsubjektiven Erzählens aufzufassen. Das potentielle Endziel einer solchen Objektivität wäre vermutlich der Satz 'Die Dinge sind'. Freilich gäbe es dann nicht mehr viel zu erzählen. Am Ende seines Lebens aber ist Stifter nicht mehr weit von diesem Punkt.

Ich komme noch einmal auf den Inhalt zurück. Das faktische Ausfallen eines Subjekts gehört zu einer erzählerischen Strategie, die noch einmal das Projekt des sog. 'Bildungsromans' realisieren soll: die Harmonie von Ich und Welt, die Versöhnung der Entwicklungs- und Lebensansprüche des Einzelnen mit den objektiven Gegebenheiten. Denn dieses Projekt scheint historisch unmöglich geworden zu sein, wie z.B. Gottfried Kellers kurz zuvor erschienene "Bildungstragödie" (Hermann Hettner) des Grünen Heinrich zeigt. Eine solche Harmonie erfordert zweierlei: Auf der einen Seite muß das besondere Individuum mit seinen abweichenden Neigungen, Trieben und willkürlichen Bestrebungen annulliert werden; wie das geschieht, haben wir gerade gesehen. Auf der anderen Seite kann die Welt, mit der eine solche Versöhnung allein möglich ist, selbst nur eine sein, die als ein Gegenbild zur schlechten vorgefundenen Wirklichkeit künstlich etabliert wird. Damit nun dieses Gegenbild nicht seinerseits als Produkt rein subjektiver Willkür erscheint, muß es sich als Ausdruck einer tieferen Ordnung erweisen, einer objektiven Ordnung der Dinge, der Natur, der Welt, die in der faktisch ablaufenden Geschichte verschüttet worden ist. Damit komme ich zu Risach und dem Rosenhaus.

Besonders augenfällig ist die Ordnung von Haus und Garten. Sie umfaßt noch die kleinsten Details des alltäglichen Lebens und trägt durchaus Züge des Sterilen, Zwanghaften, ja Gewalttätigen. Ich gebe einige Beispiele. Heinrichs erster Rundgang durch das Rosenhaus belehrt ihn darüber, daß hier eine ebenso strenge Ordnung herrscht wie in seinem Elternhaus. Vom Elternhaus heißt es gleich zu Beginn des Romans: "Überhaupt durfte bei dem Vater kein Zimmer die Spuren des unmittelbaren Gebrauches zeigen, sondern mußte immer aufgeräumt sein, als wäre es ein Prunkzimmer. Es sollte dafür aber aussprechen, zu was es besonders bestimmt sei. Die gemischten Zimmer, wie er sich aus drückte, die mehreres zugleich sein können, Schlafzimmer, Spielzimmer und dergleichen, konnte er nicht leiden. Jedes Ding und jeder Mensch, pflegte er zu sagen, könne nur eines sein, dieses aber muß er ganz sein" (S. 8). Auch im Rosenhaus wird auf die strikte Entmischung der Funktionen von Räumen gesehen. Ölgemälde finden sich ausschließlich im "Bilderzimmer" und Bücher nur im "Bücherzimmer". In diesem darf nicht gelesen und gearbeitet werden, während im dazu bestimmten "Lesegemach" keine Bücher aufbewahrt werden. Die Zimmer sollen also nicht weniger und nicht mehr als mit ihrem reinen Begriff zur Deckung kommen. Sie sind klar voneinander unter schieden, gehören aber als Teile zu einem übergeordneten Ganzen, in dem sie ihren systematischen Ort haben. Es geht darum, das Haus als Abbild einer 'wesentlichen' Ordnung der Dinge zu legitimieren, und die ist nur als eine Begriffsordnung greifbar. Stifter ist eben in manchem ein Scholastiker.

Der 'systematische' Zug, der im Rosenhaus herrscht, wird schließlich auch durch die "Sammlungen" unterstrichen, die in seinen Räumen untergebracht sind. Von dem Marmor im Marmorsaal über die Mineralien, Hölzer und anderen Naturalien im "Zimmer mit wissenschaftlichen Vorrichtungen", die Bilder im Bilderzimmer und die Bücher im Bücherzimmer, die alten Möbel und die Abbildungen historischer Bauwerke bis hin zu den Kakteen und selbst den Ananas im Gewächshaus gibt es in Haus und Garten kaum etwas, das nicht Teil einer "Sammlung" wäre. Das gilt auch und gerade von den Rosen, in denen für Risach und Mathilde das Glücksversprechen und die affektiven Verfehlungen ihrer Vergangenheit gespeichert sind. Auch die Rosenwand des Hauses ist eine "Sammlung", die in einem "Verzeichnisse" verbucht und der Herrschaft des Begriffs unterworfen ist: "An jedem Stämmchen hing der Name der Blume auf Papier geschrieben und in einer gläsernen Hülle hernieder" (S. 130). Alles Einzelne wird derart zum Exemplar einer Gattung und zum Indikator einer Systemstelle innerhalb einer ontologischen Ordnung. Diese Sammlungen repräsentieren in überschaubarer Form die systematische Ordnung der Dinge, nehmen sie exemplarisch ins Haus hinein und binden dieses derart an die Wirklichkeit in einem emphatischen Sinne an. Das Haus wird so zum Museum, einer Art Welt-Museum.

Zu den Strategien einer Beglaubigung der Rosenhauswelt gehört neben der Ordnung des Raums schließlich auch die Ordnung der Zeit. Auch diese folgt den Prinzipien der Natur. Im Gegensatz zur linearen Zeit der Geschichte, einer Verfallsgeschichte, wie immer wieder betont wird, vergeht die Zeit im Nachsommer zyklisch. Sie läuft im Kreis, folgt den Jahreszeiten und damit dem Lauf der Natur. Daher herrscht die Tendenz, daß immer das Gleiche geschieht, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Noch einmal eine Passage in starker Straffung: "Es war mir dieselbe Wohnung eingeräumt und hergerichtet worden, welche ich jedes Mal, so oft ich in dem Sternenhofe gewesen war, inne gehabt hatte. [...] Sogar die Bücher, welche der Hausverwalter jedes Mal zu meiner Beschäftigung herbeigeschafft hatte, waren nicht vergessen worden. [...] Ich überließ mich eine Zeit der Ruhe, dann ging ich in den Räumen herum, sah bald bei dem einen bald bei dem andern Fenster auf die bekannten Gegenstände auf die nahen Felder und die entfernten Gebirge hinaus, und kleidete mich zu dem Abendessen anders an. [...] Wir hatten an diesem Tage nicht viel miteinander gesprochen und nur die allergewöhnlichsten Dinge. Der zweite Tag verging wie der erste. Ich hatte die Bilder wieder angesehen, ich war in den Zimmern mit den altertümlichen Geräten gewesen, und hatte den Gängen Gemächern und Abbildungen des oberen Stockwerks einen Besuch gemacht." (S. 478f) Gewiß, das ist langweilig. Hier wird die Zeit lang, weil sie eigentlich gar nicht vergeht. Aber genau so soll es sein. Risachs Ideal ist ein erhabenes "Einerlei", das "als Einfachheit das All umschließt" (S. 456) - die Wiederkehr des Immergleichen also, der Stillstand. Das Gute muß, ja soll nicht vergehen. Und darum sind Langsamkeit, Wiederholung und Stillstand nicht nur ein Rückgriff auf Prinzipien der Natur, der zeigen soll, wie sehr die kunstgesättigte Lebensform des Rosenhauses selbst Natur sei, sie sind auch Strategien gegen den Tod. Alles, was an ihn erinnern, was auf Vergänglichkeit und Zerstörung hindeuten könnte, wird vermieden. Und darum müssen von den Rosenstöcken die vertrockneten Blätter abgelesen werden, darum die unvermeidlichen Filzpantoffeln im Marmorsaal.

Ich hoffe, soviel ist deutlich geworden: Der Nachsommer ist eine Art Laborversuch, dessen Faszination zum guten Teil darauf beruht, daß er ein künstliches Paradies aufbaut, in dem nichts ist wie in der schlechten Alltagswelt. Das große Projekt der Romanliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts kommt hier noch einmal zu einem Höhepunkt: die Idee der Bildung und darin die Idee einer Versöhnung von Subjekt und Welt. Dies aber scheint nur möglich unter der doppelten Voraussetzung eines zum Verschwinden gebrachten Subjekts und einer radikal verwandelten Wirklichkeit. Daher ist der Roman bei all seinem utopischen Glanz unterschwellig von einem abgrundtiefen Pessimismus gezeichnet. Der wahrhaft ungeheure erzählerische Aufwand, der nötig ist, um Bildung und geglücktes Leben noch einmal ins Bild setzen zu können, belegt die reale Unerreichbarkeit solcher Projekte.

Dieser narrative Aufwand macht schließlich noch ein weiteres sichtbar. Es handelt sich um eine durchaus paradoxe Konstellation. Der Roman läßt seine Helden die Ordnung der Dinge erforschen und rekonstruieren, und er tut selbst alles, um die dargestellten Lebensformen im Glanz 'wesenhafter' Ordnung und völliger Naturgemäßheit erscheinen zu lassen. Aber dieses Bemühen schlägt um in die äußerste Artifizialität. Der fremdartige, irritierende Reiz des Buches geht von der Radikalität aus, mit der Künstlichkeit hier zum Programm erhoben und zugleich kaschiert wird. Die Schönheit des Romans und seiner fiktiven Welt erhält dadurch etwas Lebloses und Starres. Und diese Künstlichkeit macht unverkennbar, daß die Ordnung, deren Zeuge wir werden, eine Ordnung ist, die allein vom Text produziert wird. Für Metaphysiker gewiß ein deprimierender Befund. Was sich als Rekonstruktion der Welt geriert, zeigt sich als Konstruktion. Die Form des Romans steht gewisser maßen gegen seinen Inhalt auf. Die vielbeschworene Ordnung - es scheint sie gar nicht 'wirklich' zu geben, sondern nur im Text und als Text. Dem heutigen Leser vermittelt der Roman nicht etwa eine Realitätsillusion, wie vielleicht ein Roman von Fontane, sondern er drängt ihm seine textuelle Verfaßtheit geradezu auf. Man kann das als den Salto mortale des Realismus bezeichnen. Der Ort, an dem er wieder auf die Füße fällt, ist die Moderne.

[1] Leipziger Illustrierte Zeitung, 4. 9. 1858, zit. nach U. Roedl, Adalbert Stifter in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek b. Hamburg 1965, S. 150.
[2] Der sanfte Unmensch. Einhundert Jahre Nachsommer, in: A. Schmidt, Nachrichten von Büchern und Menschen. Zur Literatur des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1971, Bd. 2, S. 131.
[3] Der leichteren Zugänglichkeit halber zitiere ich hier die Ausgabe des Deutschen Taschenbuch Verlags, die seitenidentisch ist mit der des Winkler Verlages: A. Stifter, Der Nachsommer, München 1977, S. 209. Zitatnachweise im folgenden im Text. Die maßgebliche Stifter-Ausgabe ist: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, hg. von A. Doppler und W. Frühwald, Stuttgart 1978ff. Für die dort noch nicht zugänglichen Texte sei verwiesen auf: Adalbert Stifters sämmtliche Werke, hg. von A. Sauer u. a., 25 Bde., Prag 1904ff., Reichenberg 1927ff., Graz 1958, Hildesheim 1979.
[4] Der fromme Spruch, in: Bunte Steine und Erzählungen, München 1979, S. 712.
[5] Die Entstehung des Doktor Faustus, in: Th. Mann, Doktor Faustus, Die Entstehung des Doktor Faustus, Frankfurt a. M. 1967, S. 774.
[6] Wie Anm. 1.
[7] Die Treulosen in der Literatur, München/Wien 1989, S. 145.
[8] Für eine ausführlichere Argumentation verweise ich auf Ch. Begemann, Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren, Stuttgart/Weimar 1995, S. 321-350.
[9] 11. 2. 1858, in: Adalbert Stifters sämmtliche Werke [Anm. 3] Bd. 19, S. 93f.
[10] Ebd. S. 14.

Anmerkung der Redaktion: Der Text erschien zuerst in: Dorothea Klein, Sabine M. Schneider (Hgg.), Lektüren für das 21. Jahrhundert. Schlüsseltexte der deutschen Literatur von 1200 bis 1990, Würzburg (Königshausen und Neumann) 2000, S. 202-225 Wir danken dem Autor für die Genehmigung zur Publikation.