Parabeln auf das Leben in einer untergehenden Welt

Galsan Tschinags Prosaauswahl "Mein Altai"

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor fast einem Vierteljahrhundert (1981) machte Erwin Strittmatter auf ein außergewöhnliches Erzähltalent aufmerksam. Im Nachwort von Galsan Tschinags deutschem Debüt "Eine tuwinische Geschichte" konstatiert der arrivierte DDR-Schriftsteller lakonisch: "Ein Land macht seinen Dichter, und der Dichter macht sein Land." Strittmatters Diktum gilt auch nach gut 24 Jahren, wenngleich der tuwinische Dichter Tschinag spätestens nach dem Chamisso- und dem Heimito-von-Doderer-Preis heute längst kein Unbekannter mehr ist.

Die untrennbare Verbindung von Land und Dichtung bestimmt aber bis heute die Rezeption des rund zwei Dutzend Bücher umfassenden Œuvres von Tschinag, eigentlich Irgit Schynykbaj-oglu Dshurukuwaa, (="Pelz-Baby"). Der deutschsprachige tuwinische Dichter, Schamane und Stammesfürst Galsan Tschinag kam im Winter 1943 oder Frühjahr 1944 im Westen der Mongolei im Altai als jüngster Sohn einer Nomadenfamilie zur Welt.

Der Münchner A 1 Verlag gehörte - neben dem schweizerischen Waldgut Verlag in Frauenfeld - zu den ersten, der die literarische Qualität der Werke Tschinags erkannte. Bei A 1 sind nun auf über 550 Seiten einige ältere Prosatexte Tschinags unter dem Titel "Mein Altai" neu versammelt, wie etwa die Erzählung "Eine tuwinische Geschichte". In eindringlich poetischen Bildern erzählt Tschinag das Schicksal des alten genossenschaftlichen Kamelzüchters Dshaniwek. Es ist zum einen der dramatisch-tragische Handlungsstrang, der die Eigenart dieser Erzählung ausmacht, zum anderen die Verdichtung von Poesie und Prosa, die sich etwa in solchen Passagen ausdrückt: "Der Regen, den wir durch das Heulen des Windes und das Trommeln der Hufe zunächst als Summen, dann als immer heftigeres Rauschen vernommen hatten, überfiel uns prasselnd wie ein verheerender nasser Brand. Wir ritten wieder langsam. Dicke, helle Tropfen schlugen schräg auf den Kiesboden, prallten zurück, und es sah aus, als hüpften Millionen glitzernder Käfer über die Steppe. Das Feuer, das aus allen Himmelsrichtungen zugleich aufflammte, beleuchtete sie grell, ließ sie erzittern und erbeben. Über den Pferdemähnen zuckten knisternde, blaue Flammen, es roch nach versengtem Haar."

Thema der Erzählung ist die Verführung durch die Macht, der Widerstreit zwischen individuellem Wunsch nach Liebe und Geborgenheit und dem Begehren nach öffentlicher Anerkennung "in den Jahren der revolutionären Umordnung und der konterrevolutionären Unordnung (sowie) in den Jahren des Krieges".

Nachdenklich und melancholisch endet auch die Erzählung "Jaskan" mit dem Fazit, "dass Dinge zwischen Menschen passieren können, die sich nicht wiedergutmachen lassen".

Bei A1 wieder abgedruckt ist auch die Erzählung "Bisen", die die traurige Geschichte des gleichnamigen Hirtenjungen erzählt, sowie die 1993 publizierte romanhafte Erzählung "Das Ende des Liedes", vielleicht nach der ähnlichen Kinogeschichte vom "weinenden Kamel" vermehrt bekannt. Es ist die Erzählung des Schicksals einer Halbwaisen, der etwa dreizehnjährigen Dombuk, ihres Vaters Schuumur und seiner ehemaligen Geliebten Gulundshaa.

Die Liebesnovelle "Dojnaa" (2001) ist die anrührende Geschichte zweier starker Frauen. Sie erzählt zum einen von der gleichnamigen Heldin, die mit dem Vollwaisen Doormak, einem mit Minderwertigkeitsgefühlen behafteten Taugenichts, wie sich herausstellt, verheiratet wird, und der sie am Beginn der Erzählung endgültig verlassen hat. Am Ende steht der Kampf um ihren guten Ruf und die Liebe zu Ergek, dem alten Nachbarn und Freund. "Dojnaa" ist aber auch die Geschichte der alten Nachbarin Anaj, die - mit Ergek kinderlos geblieben - aus Liebe zu ihrem Mann dessen Liebe zu Dojnaa zulässt.

Ist "Dojnaa" die Parabel auf die "nomadische Frau, auf deren Schultern das Geschick einer untergehenden Welt ruht", so ist das Tagebuch über "Die Karawane" (1995) das Dokument des einzigartigen Behauptungswillens eines Teils dieses untergehenden Volkes der tuwinischen Nomaden bzw. ihres Anführers Galsan Tschinag. Denn dieser verwirklichte seinen Traum, indem er vor zehn Jahren einen Teil der tuwinischen Nomaden in einer Karawane über fast 2000 Kilometer in den hohen Altai, in das angestammte Weide- und Jagdgebiet zurück führte.

Zwar sind die hier versammelten Texte nicht neu und der Verlag verabsäumt es leider, die Daten der Erstpublikation mitzuteilen oder in einem Vor- bzw. Nachwort weitere Erläuterungen zu Tschinag und seinem Œuvre zu geben. Dennoch macht das Prosa-Lesebuch "Mein Altai" neugierig, den Erzähler Galsan Tschinag kennen zu lernen und im Zuge dessen vielleicht auch die Gedichte oder die autobiografischen Romane "Der blaue Himmel" (1994), "Die graue Erde" (1999) und "Der weiße Berg" (2000) zu entdecken.


Titelbild

Galsan Tschinag: Mein Altai. Erzählungen.
A1 Verlag, München 2005.
556 Seiten, 26,80 EUR.
ISBN-10: 3927743828

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