Das Paradoxon einer realen Irrealität

Ein Tagungsband beleuchtet die Beziehungen zwischen Walter Benjamin und den visuellen Künsten

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn Walter Benjamin fordert, man solle "die Hand [beachten], wie sie auf dem Blatt die Stelle sucht wo sie ansetzen will. Schwelle vorm Reich der Schrift", dann ist das Schreiben eine durch die Hand geleitete, produktive, materielle und a-repräsentative Geste des Entwurfs eines neuen Feldes, wie es die Erinnerung für den Erinnernden bedeutet. Als Geste überschreitet und konsolidiert Schreiben zugleich die "Schwelle" zwischen Erinnern und Vergessen, Konstruktion eines Textes und Destruktion der Verknüpfungen zur Vergangenheit, Unmittelbarkeit und Dispersion der Referenz.

Benjamins Denken der Erinnerung verweist somit als Leitmetapher wie als kulturgeschichtliches Medium auf eine Konzeption der Schrift und eine Praxis des Schreibens. Diese doppelte Schriftlichkeit der Erinnerung provoziert eine permanente Spannung zwischen 'Text' und 'Leben', wie sie vor allem in der "Berliner Kindheit um neunzehnhundert" nachgezeichnet wird.

Dort wird eine Erinnerung erzählt, die auf das Engste an die Gesten einer Handschrift gebunden ist: "Unter den Ansichtskarten meiner Sammlung gab es einige, deren Schriftseite mir deutlicher in der Erinnerung haftet als ihr Bild. Sie trugen die schöne, leserliche Unterschrift: Helene Pufahl. Das war der Name meiner Lehrerin. Das P, mit dem er anhob, war das P von Pflicht, Pünktlichkeit, von Primus; f hieß folgsam, fleißig fehlerfrei und was das l am Ende anging, war es die Figur von lammfromm, lobenswert und lernbegierig. So wäre diese Unterschrift, wenn sie wie die semitische aus Konsonanten allein bestanden hätte, nicht nur der Sitz der kalligraphischen Vollkommenheit gewesen, sondern die Wurzel aller Tugenden". Diese Passage ist eine exemplarische Engführung kabbalistischer Hermeneutik mit graphologischer Technik in einem Erinnerungsbild. So, wie in Kinderbüchern "die Buchstaben selbst vermummt" zu Sinnbildern werden, wird Schrift hier im doppelten Sinn zum 'Charakter' (von griech. charazein, ritzen, prägen): wörtlich als Buchstabe und übertragen als basales Verfahren der Einschreibung eines Eigenschaftsbilds.

Benjamin als Philosophen der Schrift zu verstehen, bedeutet seine verstreuten Bemerkungen vor dem Hintergrund einer Theorie der Materialität, Körperlichkeit und Bildlichkeit der Schrift so zu ordnen, dass die Schrift, die Bild wird, sowohl das Moment der Bindung als Fixierung enthält, wie es zur Tradierung unerlässlich ist, als auch die Dynamik der Lösung als Bewegung, die schöpferische Erinnerung auszeichnet. Die Bilderschrift ist, wie Benjamin anlässlich eines Berichts über die "Peintures chinoises à la Bibliothèque Nationale" bemerkt, eine "[...] chose éminement mouvante. Bien que les signes aient un lien et une forme fixés sur le papier, la multitude des 'ressemblances' qu'ils renferment leur donne le branle. Ces ressemblances virtuelles qui se trouvent exprimées sous chaque coup de pinceau forment un miroir où se réfléchit la pensée dans cette atmosphère de ressemblance ou de résonance".

Die Metaphorik ist beredt und eröffnet ein Verständnis der Schrift als synästhetischen Resonanzraum. Der Form des Buchstabens, die sich zum Bild verflüssigt, wird eine herkömmliche Graphologie nicht mehr gerecht. Sprache und Schrift stehen auf der Schwelle zwischen Ähnlichkeit und Entfremdung. Das Schreiben mit der Hand rekurriert bei Benjamin auf das generelle Gedächtnismedium und fokussiert es nicht auf ein statisches System, sondern auf den entscheidenden Moment der Produktion des Textes. Nur als Einschreibung zwischen écriture (Derrida) und Handschrift ist Schrift Medium der Erinnerung, ohne deren vereinnahmende Repräsentierung zu behaupten.

Ihre Zeichen sind 'Charaktere' im doppelten Sinne: autonomes Bild und Spur der Erinnerung. Für Benjamin ist Schrift weder polyvalente différance noch einheitliche Hand, sondern die Geste, die die Erinnerung entwirft, ohne die vollständige Präsenz des Vergangenen zu behaupten.

An diesem Punkt setzt der Tagungsband zu der im letzten Jahr in Berlin gezeigten Ausstellung "Schrift. Bilder. Denken. Walter Benjamin und die Künste" an, wenn er nach der Rolle des Bildes und dem Begriff der Visualität in Benjamins Texten fragt. Letzterer umfasst nicht nur die physisch greifbaren Abbilder der Künste, sondern eben auch die immateriellen Bilder der Phantasie, die zu Schrift gerinnen. In drei Abteilungen beleuchten die Beiträger/innen das Verhältnis von Benjamin zu den Künsten in Berlin, Kunst, Medien und Ästhetik in seinen Schriften sowie die Benjamin-Rezeption in den Künsten. In seiner ausgesprochen informativen Einführung erläutert Detlev Schöttker "Benjamins Bilderwelten" anhand von zentralen Bereichen seiner Texte und stellt damit die Konzeption des Bands in einen werkgeschichtlichen Zusammenhang.

Deutlich wird, dass es Benjamin in einer ersten Phase nicht um stilistische, sondern um metaphysische Fragen des Bildes geht, was ihn von surrealistischen Texturen nicht unbeeinflusst erscheinen lässt. Verstärkt hat sich Benjamin Ende der zwanziger Jahre nicht mit realen Bildern, sondern mit Bildern der Vergangenheit und Phantasie beschäftigt, nicht ohne sich allerdings von dem "unmäßigen und leidenschaftlichen Gebrauch des Rauschgiftes Bild" (Aragon) zu distanzieren. Seine Aufmerksamkeit genoss in dem leider immer noch zu wenig beachteten Aufsatz "Der Sürrealismus" (1929) nicht "der Opiumesser, der Träumer, der Berauschte", sondern "der Leser, der Denkende, der Wartende, der Flaneur".

Die Bilderfahrung der Surrealisten hat Benjamin als "profane Erleuchtung" bzw. "anthropologische Inspiration" und zugleich als einen "Bildraum" bezeichnet, der als "Welt allseitiger und integraler Aktualität" aufzufassen sei. Dass dem "Bildraum" der Erinnerung immer auch der "Leibraum", der Körper der Schrift, beizugesellen ist, fordert nicht nur das Ende des Surrealismus-Aufsatzes, sondern auch eine Aufzeichnung Benjamins aus dem Nachlass (vermutlich aus dem Jahre 1936): "Die Erkenntnis, daß die Materie, an der sich das mimetische Vermögen versucht, der menschliche Körper ist, wäre mit größerem Nachdruck, als es bisher geschehen ist, für die Urgeschichte der Künste fruchtbar zu machen".

Die Auseinandersetzung mit dem Erinnern und seiner schriftlichen Umsetzung hat dazu beigetragen, dass Benjamin für seine 1932 begonnenen Kindheitserinnerungen nach neuen 'Aufschreibesystemen' (Kittler) gesucht hat. Im Gegensatz zu Prousts "Recherche" ist in Benjamins Text, wie er selbst in der "Berliner Chronik" ausführt, "von einem Raum, von Augenblicken und vom Unstetigen die Rede. Denn wenn auch Monate und Jahre hier auftauchen, so ist es in der Gestalt, die sie im Augenblick des Eingedenkens haben". Schöttker bezeichnet diesen Passus mit einigem Recht als "knappe Poetik der Berliner Kindheit", in der Benjamin "die eigene Vergangenheit in der Tat nicht als episches Kontinuum vergegenwärtigt, sondern in kurzen Sequenzen dargestellt [hat], die aus poetischen Bildern und Reflexionen bestehen". Dem entsprechend hat Uwe Steiner in seinem Beitrag für den Sammelband "Urgeschichten der Moderne" verdeutlicht, dass sich die "neue Funktion der Kunst" für Benjamin "auf dem Wege einer Konfrontation der Moderne mit der Urgeschichte" erschließt. "Im Rückgriff auf die Kunst der Urzeit, in der sie im Dienste der Magie stand, zeichnen sich ihm die Aufgaben ab, für deren Lösung die nicht zuletzt technisch heute am weitesten fortgeschrittene Gestalt der Kunst, der Film, die Mittel bereithält".

Besonderes Augenmerk erhalten daher vor allem diejenigen Beiträge des Tagungsbands "Walter Benjamin und die Künste", die den Bild- und Schriftwandel Benjamins nachzeichnen, wie er sich in den dreißiger Jahren darstellt: von den metaphysischen Bildern des Innenraums zur Fotografie und zum Film. In diesen bild- und medienhistorischen Arbeiten rücken die realen Bilder und die gesellschaftlich geprägten Denkweisen in den Mittelpunkt. Auch hier setzt sich Benjamin explizit von den Surrealisten ab, wenn er im zweiten "Pariser Brief" von 1936 anmerkt: "Sie verkannten die soziale Durchschlagskraft der Photographie und damit die Wichtigkeit der Beschriftung, die als Zündschnur den kritischen Funken an das Bildgemenge heranführt".

Der Anspruch, die Fotografie zum Medium gesellschaftlicher Erkenntnis zu machen, verbindet Benjamin mit Brecht und der linken Avantgarde. In der "Kleinen Geschichte der Photographie" (1931) heißt es diesbezüglich über den Wandel der Wahrnehmung und Repräsentation, der nach Benjamin von der Fotografie ausging und sich in ihren Produkten manifestiert: "Es ist ja eine andere Natur, welche zur Kamera als welche zum Auge spricht; anders vor allem so, daß an die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt durchwirkter tritt. [...] Die Photographie mit ihren Hilfsmitteln: Zeitlupen, Vergrößerungen erschließt sie ihm. Von diesem Optisch-Unbewußten erfährt er erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch die Psychoanalyse".

Ähnlich wie nach ihm Roland Barthes in "La chambre claire" (1980) stellt die Fotografie für Benjamin ein Ereignis dar, das in der Geschichte des Menschen neuartiges Bewusstsein erfordert: ein Foto konfrontiert den Menschen mit dem Paradoxon einer realen Irrealität, denn es zeigt ein konkretes, wirkliches - oder zumindest real gewesenes - Objekt, das nicht mehr berührt werden kann. Der Gegenstand auf der Fotografie bewegt sich im Schwellenbereich zwischen Bild und Objekt. Die Katastrophe der Fotografie besteht allerdings darin, dass sie immer mit dem Tod paktiert. Das Foto als geronnener Moment der Vergangenheit immobilisiert die darauf abgebildeten Menschen, friert ihre Gesten ein, sodass sie wie Schmetterlinge hinter Glas im Schaukasten des Sammlers wirken. Benjamin wie Barthes setzen das Fotografiert-Werden einer schmerzhaften chirurgischen Operation gleich. Das stundenlange regungslose Posieren vor der Kamera erforderte eine Beherrschung und Disziplinierung des menschlichen Körpers. In einem Denkbild der "Berliner Kindheit" ("Die Mummerehlen") werden nicht nur die quälenden Eindrücke des Kindes während der Porträtstudio-Sitzungen geschildert, sondern auch verdeutlicht, dass das Foto mit der Doppelung von Anwesenheit und Abwesenheit die Möglichkeit birgt, einen Topos der ästhetischen Moderne zu variieren: die Selbstvergewisserung im Selbstverlust. Der 'photographischen Ek-stase' ist nur ein 'ver-rücktes' Schreiben adäquat, die enthemmte, befreite Sprache und der entgrenzte Text, in dem das Subjekt schreibend Kontur gewinnt - ein Aufschreibesystem, das Benjamin, wie die Beiträge des Tagungsbands verdeutlichen, zwar meisterhaft beherrscht hat, in der Forschung aber in seiner labyrinthischen Verästelung noch keineswegs erschöpfend nachgezeichnet wurde.


Titelbild

Bernd Seidensticker / Martin Vöhler (Hg.): Urgeschichten der Moderne. Die Antike im 20. Jahrhundert.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2001.
278 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 3476018598

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Titelbild

Detlev Schöttker (Hg.): Schrift. Bilder. Denken. Walter Benjamin und die Künste.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
263 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-10: 3518583956

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