Verschwiegene Verwandtschaft

Viola Roggenkamp begibt sich auf Spurensuche in der Familie Mann-Pringsheim

Von Rosalin-Christine LangeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rosalin-Christine Lange

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie war vielseitig begabt, unbequem, angriffslustig, politisch mutig und selten untätig. Und sie war die "Galionsfigur am Familienschiff". Aus heutiger Sicht bedauerlicherweise wenig beachtet, war und bleibt sie vor allem zumeist eines - des Kapitäns Tochter. Erika Mann war vornehmlich Vaters Erstgeborene, die ihn durch manch windstilles und stürmisches Fahrwasser begleitete. Insbesondere in Thomas Manns späteren Jahren stand sie auch öffentlich hinter ihm und an seiner Seite. Sie wurde ihm unverzichtbar, und genau damit identifizierte sie sich. Mit ihm, seinem Werk und Sein - und mit ihrer Rolle als seiner Tochter. Weitaus weniger sah sie sich als Tochter der Mutter, die das familiäre Steuerrad eigentlich in der Hand hielt. Katia Mann, geborene Pringsheim, lenkte und lotste die ganze Familie aus dem Hintergrund und nahm während vieler Flauten selbstverständlich die Ruder in die Hand.

Besonders diesem Teil des großen familiären Gefüges widmet sich Viola Roggenkamp in ihren Betrachtungen, die noch pünktlich vor Erika Manns 100. Geburtstag am 9. November 2005 erschienen sind. In ihrer treffenden Analyse weist sie eindringlich auf einen Aspekt dieser "amazing family" hin, der bislang in nahezu der gesamten Darstellung über Thomas Mann und die Seinen unbeachtet blieb. In argumentierenden Erzählungen führt Roggenkamp hierfür nicht nur weit in die Biografien der Familien Mann und Pringsheim ein. In Erläuterungen, Rückgriffen und Erwägungen verschiedener Aspekte wird hier überdies ein umfassenderes historisches Bild nachgezeichnet, das die Autorin geschickt an der Person Erika Manns exemplifiziert. Das mütterliche Erbe ist Ausgangspunkt reizvoller und vielschichtiger Beleuchtungen von Zusammenhängen und Entwicklungen, die sich mit den facettenreichen Belangen um Definition und Identifikation des "Jüdischseins" befassen.

"Erika Mann - Eine jüdische Tochter" ist zunächst eine Auseinandersetzung mit der zentralen Frage, inwie weit es möglich sein kann, sich eines durch Geburt gegebenen Attributs zu verschließen. Überhaupt werden allerhand einleuchtende Fragen aufgeworfen, die in ihrer Eindringlichkeit und Offensichtlichkeit keinen Zweifel an der Relevanz dieses heiklen Themas zulassen.

Dabei weist Roggenkamp gleich zu Beginn auf eines hin: Worüber sie schreibt, "hätte Erika Mann nicht gefallen, und ihrer Mutter Katia Mann auch nicht." Hier wird Thomas Mann selbst zunächst ausgeschlossen, denn "von seiner Seite kam es nicht. Es kam mit der Familie seiner Frau und ist von den Frauen verschwiegen und verleugnet worden." Denn Katia Manns Eltern waren Juden waren und "also waren durch sie auch ihre und Thomas Manns Kinder jüdisch."

Nahezu alles, was hiermit in unmittelbarem Zusammenhang steht, enthüllt Viola Roggenkamp als verleugnet, widersprüchlich und verheimlicht. Nicht nur innerhalb der Familie Mann-Pringsheim, sondern auch und besonders allgemein gültig für die deutsche Täter- und Mitläufergeneration, mit der Roggenkamp hart ins Gericht geht. Genau dies tat ja Erika Mann auch zeitlebens - sie hasste Hitler leidenschaftlich und klagte ihn, seine Schergen und jene, die sich einreihten, gepfeffert an. Sie verurteilte das 'Dritte Reich' und die Gräueltaten an den Menschen scharf. Doch "das jüdische Thema, wann immer sie sich damit befasste, als Kabarettistin, als Reporterin während des Zweiten Weltkriegs, als Berichterstatterin beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, sie hat es nie auf sich bezogen."

Roggenkamps Darstellungen zeigen auf, dass Erika Manns Selbstpositionierung gegenüber der jüdischen Identität offenbar tief in einer gewissermaßen traditionellen Haltung in der Frauengenealogie ihres mütterlichen Familienzweigs wurzelte. Lange Zeit hatten Erika und ihre Geschwister gar nichts vom mütterlichen Erbe gewusst. Desgleichen hatte Katia selbst lange von ihrer Mutter und Großmutter nichts über ihre eigene jüdische Geschichte wahrgenommen. Und wie Erika Mann in ihren Memoiren deutlich klarstellt: "Ich war weder Jüdin noch Kommunistin", wehrte auch ihre Mutter ab und rief "Unsinn! Alles Unsinn!", wenn sie sich mit dem eigenen Jüdischen konfrontiert sah.

An alle Fragen, die sich daraufhin aufdrängen, wagt sich Viola Roggenkamp nachdrücklich, bisweilen polemisch und zynisch. Gewisse Ausschweifungen sind dabei gerechtfertigt. Auch wenn mancher Exkurs zunächst nicht logisch oder sinnvoll erscheint, folgt zumeist die Einsicht, dass die Autorin in der Gestaltung ihrer Erläuterungen scharfsinnig zu kombinieren vermag und argumentativ fundiert signifikante Erklärungen herleitet. Sie geht beispielsweise in ihrer Suche nach Erkenntnissen über die Negation des Jüdischen weit zurück ins 18. Jahrhundert, abstrahiert mehrfach jüdisch-deutsche Geschichte und führt diese zurück in Auseinandersetzungen mit familienbiografischen Entwicklungen. Zugleich lenkt sie ihren kritischen Blick auf die Zeit nach der Shoah. Sie diskutiert den gesellschaftlichen Status überlebender und nachgeborener Juden, wie auch den Konflikt um deutsches Opferverhalten oder Erkenntnisresistenz.

Dass Erika Mann es ihrer Nachwelt anscheinend leicht gemacht hat, sie nicht als jüdische Tochter wahrzunehmen, verwundert nicht bei so viel vehementer Leugnung ihrerseits. Verblüffend ist jedoch die Nachlässigkeit, die Viola Roggenkamp auch namhaften Mann-Biografen nachweist. Sowohl Irmela von der Lühe, die Erika Manns einzige Biografie verfasste, als auch bekannte "Mann-Experten" wie Inge und Walter Jens oder Heinrich Breloer berühren das jüdische Thema kaum.

Viola Roggenkamp hingegen scheint tatsächlich eine aus welchem Grund auch immer vernachlässigte Lücke zu schließen. Ihr ist der Versuch geglückt, ein weitgehend ganzheitliches und aufschlussreiches Bild einer Vatertochter zu zeichnen. Dort, wo zwar Homosexualität offen bei Tisch besprochen wurde, blieb manch andere innerfamiliäre Angelegenheit gleichwohl ignoriert. Eine neuperspektivische Durchdringung dieses Geflechts der Familie Mann-Pringsheim und die Entdeckung von Kompensationen mancher Abgründe - Viola Roggenkamp hat ihre Erkenntnisse lesenswert aufbereitet.

Titelbild

Viola Roggenkamp: Erika Mann Eine jüdische Tochter. Über Erlesenes und Verleugnetes in der Familie Mann-Pringsheim.
Arche Verlag, Hamburg 2005.
272 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3716023442

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