Keine Ursachen haben auch ihre Wirkungen

Zur grundlosen Aufregung später Kritik an Elfriede Jelineks Nobelpreis

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Dass Elfriede Jelinek das "Vorzüglichste in idealistischer Richtung auf dem Gebiet der Literatur geleistet" habe, wird niemand behaupten. Auch nicht, dass die 2004 mit dem Nobelpreis für Literatur geehrte Autorin "im verflossenen Jahr", also 2003, "der Menschheit zum größten Nutzen gereicht" habe. Beides aber fordert der Preis-Stifter Alfred Nobel in seinem Testament. Sähe Knut Ahnlund im Verstoß gegen die ursprüngliche Intention des Nobelpreises "den nicht wiedergutzumachenden Schaden", der ihn dazu bewog, unter Protest aus der Jury auszutreten, könnte man ihm wenig erwidern. Allenfalls ließe sich darauf hinweisen, dass der vom Stifter vorgesehene enge zeitliche Konnex von Werk und Würdigung nicht mit den Gesetzen von Buchmarkt und Kanonisierung in Übereinstimmung zu bringen war und die Nachlassverwalter diese Vorgabe schon zu einem frühen Zeitpunkt gelockert haben.

Es mag mit dieser pragmatisch begründeten Abweichung von Nobels Testament zu tun haben, dass Autoren seit je weniger für ein konkretes Werk ausgezeichnet zu werden scheinen als für ihr Lebenswerk. Das bedeutet naturgemäß eine nicht nur quantitative Verschiebung. Unter der Hand hat sich der Nobelpreis für Literatur von einer ethisch intendierten Auszeichnung zu einer ästhetisch motivierten Anerkennung gewandelt, wenigstens in den Augen der Öffentlichkeit. Entscheidungen, die dem ursprünglichen Geist des Preises sehr nahe kommen (etwa die für Heinrich Böll und Hermann Hesse), sind literarästhetisch fragwürdig und blieben literarhistorisch folgenlos. Gemessen am Kriterium der "idealistischen Richtung" seines Werks ist indes schon die Ehrung Gerhart Hauptmanns im Jahr 1912 zumindest erläuterungsbedürftig.

Kurz: Die In-eins-Setzung von Ethisch-Wertvollem und Ästhetisch-Reizvollem schien zwar Nobel selbstverständlich, war aber als "Vulgäridealismus", wie der Komparatist Erwin Koppen dies nannte, ideengeschichtlich schon zu Zeiten der ersten Preisverleihungen obsolet. Inzwischen arrangiert sich die Jury stillschweigend: Mal zeichnet sie die Guten unter den Autoren aus und mal die guten Autoren.

Über den Verdacht literarischen Gutmenschentums ist Jelinek erhaben - selbst bei ihren Kritikern. Ahnlund sieht den durch die Preisvergabe an Jelinek angerichteten "Schaden [...] für den Fortschritt der Literatur" dadurch verursacht, dass bei der Entscheidung "ästhetische Gründe [...] missachtet" worden seien.

Bei seinem Bemühen, einer formal-ästhetischen Argumentation das Wort zu reden, verwechseln sich Ahnlund die Kategorien Ethik und Ästhetik, Inhalt und Form in so verquerer Weise, dass es sich empfiehlt, nur auf seine zentralen Vorwürfe zu reagieren und die Nebenwidersprüche zu übergehen - so haben es im Übrigen auch die Pressemeldungen gehalten.

Ahnlund nennt Jelineks Werk "parasitär", "monomanisch" und monothematisch und denunziert es als "lustlose Gewaltpornographie". Beginnen wir beim Vorwurf des "Parasitären", nicht bei der unseligen Metaphorik, sondern dem unterstellten Gedanken: Vor 400 Jahren erschien der erste Teil eines parasitären Werkes: "El ingenioso Hidalgo Don Quixote de la Mancha" von Cervantes. Der Roman gehört zur Weltliteratur; seine Vorbilder, seinerzeit beliebte Ritterromane, von denen er sich 'nährt', indem er sie parodiert, sind, wenn nicht vergessen, so doch weitgehend ungelesen. Fürchtet Ahnlund, es könnte dem von Jelinek vorzüglich parodierten Genre, dem Porno, ähnlich ergehen? Moniert er deswegen ihre "lustlose Gewaltpornographie"? Wäre eine "lustvolle" besser?

Der Vorwurf, lediglich ein "monomanisches, äußerst schmal angelegtes Werk" hervorgebracht zu haben, lässt sich historisch relativieren mit der Frage, wie Ahnlund das Werk des Marquis de Sade charakterisieren und ob er dessen Platz in der Weltliteratur bestreiten würde. Im Kontext von Ahnlunds eigenen Ausführungen relativiert er sich selbst durch die Fülle der Themen, die er allein nach der Lektüre von fünf Romanen Jelineks aufzuführen vermag: Österreichs Geschichte und Gegenwart, Tourismus, Natur, Umweltverschmutzung, Geschlechterverhältnisse, Sexualität, Gewalt, Erniedrigung, Demütigung, Schändung, Selbstekel, Sadismus und Masochismus, Herrschaftsverhältnisse in Familie, Beruf, Staat, die Rolle von Kultur und Medien bei der Tradierung und Verschleierung dieser Verhältnisse usw. Dass die kompromisslose Kritik "alle und alles gleichermaßen trifft", hat Ahnlund ganz richtig verstanden. Nicht verstanden hat er, dass sie konsequenterweise weder vor literarischen Formen, also Genres von unterschiedlicher Provenienz und kulturellem Prestige, Halt macht noch vor den eigenen textuellen Verfahren. Doppelbödigkeit, Ironie, Sprachspiel, Witz, Rachsucht und Furor einer Sprache, vor deren Denunziationsmacht nichts besteht - all das lassen Ahnlunds platte Inhaltsangaben von Jelinek-Romanen nicht einmal erahnen. Seine Resümees scheinen hauptsächlich der Beweisführung geschuldet, dass er auf der Grundlage schwer erarbeiteter Lektüre urteilt und nicht nur vom Hörensagen, wie er den Stockholmer Jurykollegen unterstellt. Dass er trotz Lektüre vom ebenso zersetzenden wie aufklärerischen Geist der Jelinek'schen Texte unberührt geblieben ist, verdeutlicht seine Wortwahl, der man bestenfalls unterstellen kann, sie solle professionelle Distanz zum Gelesenen mit Kennerschaft in der Sache in einem Gestus abgeklärter Überlegenheit verbinden. Hermann (aus "Lust") als "erotischen Tausendsassa" zu bezeichnen, deutet allerdings weniger auf 'heiteres Darüberstehen' als auf unverständiges Danebenstehen (oder geht auch dies zu Lasten des Übersetzers?); zwanghaft brutale Sexualität mit 'vitaler' Erotik gleichzusetzen, dokumentiert, vorsichtig ausgedrückt, ein Wahrnehmungsdefizit; einen sprachlich in surrealer Hypertrophie dargebotenen Penetrationstrieb als ebenso staunenswerte wie löbliche sexuelle Tüchtigkeit misszuverstehen, offenbart das naive Realismuskonzept eines schlichten, nahezu illiteraten Lesers. Das Vertrauen auf den simplen Abbildcharakter einer traditionellen Mimesis hatte seinerzeit bei der Besprechung des Romans im "Literarischen Quartett" auch Hellmuth Karasek die erstaunliche Potenz der Figur Hermann bewundern lassen. Insofern ist Jelineks Entscheidung, dem Thema Sexualität und dem Genre Pornografie einen privilegierten Status im Kontext der experimentellen Literatur zu geben, klug gewählt: Scheinen doch selbst professionelle Leser angesichts dieser Gegenstände und Oberflächenreize, ungeachtet der avancierten literarästhetischen (und weniger avancierten ideologiekritischen) Fiktionalitätsstörungen und antimimetischen Verfahren, aus der Routine professionellen Lesens heraus- und in eine Perspektive naiven Literatur- und Wirklichkeitsvertrauens zurückzufallen.

Doch geht es nicht darum, Jelineks Werk gegen seine Kritiker zu verteidigen - es gehört zur Qualität der Texte, dass sich gegen sie kein Vorwurf formulieren lässt, der ihnen nicht schon 'eingeschrieben' wäre - so ostentativ und jargonhaft, wie es die Vokabel evoziert. Den Reiz einer Lektüre zu würdigen, die den Einwänden und Ausdeutungen des Lesenden immer schon zuvorkommt, ist hier nicht der Ort. Dass sie eine sehr elementare Konfrontation des Lesenden mit sich selbst als einem Lesenden erfordert, mag indes wenigstens denjenigen Kritikern gesagt werden, die eine solche Anstrengung als "reine Sklavenarbeit" erachten.

Die zuweilen lustvolle, manchmal komische, meist aber schmerzliche Begegnung mit der eigenen Lesebiografie und die Verunsicherung im eigenen Lesen und Sprechen verändern den Blick auf die Wirklichkeit. Und dies nicht, weil Jelinek Realität abbildete, sondern weil sie deren virtuelle Abbilder und sprachliche Zurichtungen vorführt. Wollte man daraus partout auch etwas 'Positives' ableiten, dann die Eröffnung der Möglichkeit, als - kritischer - Leser überhaupt etwas wie eine eigene Wirklichkeitswahrnehmung zu entwickeln.

Ahnlunds Vorwurf, der Preis für Jelinek habe "den Blick der Allgemeinheit auf die Literatur als Kunst verzerrt", meint das Falsche und sagt etwas Richtiges: Wider Willen erinnert er daran, dass Literatur als Kunst auch einen Ort hat jenseits der Mimesis, dass es zu ihren Zielen gehören kann, nicht zu erfreuen, sondern zu verstören.

Ahnlund überschätzt in Katastrophenstimmung den Einfluss des Nobelpreises auf die Literatur. Für seine Kritik an Jelinek gilt, was diese mit einem an Nestroy erinnernden Sprachspiel konstatiert hat: "Keine Ursachen haben auch ihre Wirkungen."