Das System Don Quijote

Jürgen Wertheimer zu Besuch beim Ritter von der traurigen Gestalt

Von Walter WagnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Wagner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist 400 Jahre her, dass der erste Band von Cervantes' weltberühmtem "El Ingenioso Hidalgo Don Quixote de la Mancha" erschien und der abendländischen Literatur auf diese Weise ihr erster großer Roman geschenkt wurde. Dass über dieses Buch der Bücher überhaupt noch etwas Wesentliches zu sagen bleibt, ist angesichts einer unübersehbaren Sekundärliteratur kaum zu glauben. Jürgen Wertheimer scheint diese Absicht auch nicht zu verfolgen, und dennoch ist es ihm gelungen, einen neuen, will sagen: modernen Blick auf diesen Schlüsseltext zu werfen.

Worin besteht dieses Novum? Zunächst besticht der vorliegende Essay durch einen überaus pointierten Stil, der nicht mit zeitgenössischen Referenzen geizt. Schlagwörter wie "Easy Rider", "Bodyguard", "Terror", "Ökonomie", "Grufties", "boomen" oder "Event" spiegeln die Erfahrungswelt des heutigen Lesers sowie des Literaturwissenschaftlers wider, der von der Höhe seines Spezialwissens herabsteigt, um mit launigen Ausführungen die Einmaligkeit von Cervantes' Ritterroman-Travestie jedermann zugänglich zu machen. Dabei entpuppt sich der Autor als geschickter Schöpfer von Bildern, Prägungen und Formulierungen, die sich vorzüglich als Zitate für diverse "papers" eignen.

"Ein Mann aus Wort", so der erste Satz des "Cervantes Projekts", präfiguriert die Prägnanz von Wertheimers Synthese und hebt auf die von der Lektüre vergiftete Figur ab, die eines Tages auszieht, um ihre "erlesenen" Abenteuer in die Tat umzusetzen. Don Quijote, der "Irrläufer und Normenzerstörer", tritt auf den Plan und zieht eine Spur der Verwüstung und des Gelächters nach sich. Ihm zur Seite stellt der Dichter Sancho Pansa, der dem unheilbaren Romantiker und Träumer Paroli bietet. Die Figur des Doubles ist somit geboren und bevölkert als Wiedergänger in den Büchern von Sterne, Diderot bis hin zu Grass und Steinbeck seither die abendländische Literatur.

Cervantes' Geniestreich lässt sich allerdings nicht auf diese Konstellation reduzieren, sondern beruht vielmehr auf der Einführung metafiktionaler Elemente in seine Narrativik. Mit anderen Worten, der Roman wird sich seiner selbst bewusst, d. h. der Erzähler beginnt, über den Akt des Schreibens zu reflektieren. Was mithin zum gängigen Repertoire des Romans im 20. Jahrhundert zählt, wird in dieser frühen spanischen Prosa bereits wie selbstverständlich verwendet. Das dergestalt verursachte Aufhalten des Erzählflusses, das kunstvolle Abschweifen vom Plot assoziiert Wertheimer treffend mit Werbeeinschaltungen mitten im Spielfilm, was Cervantes als Vorläufer moderner Medienästhetik erscheinen lässt.

Immer wieder konfrontieren uns Wertheimers scharfsinnige Analysen mit der Ikonografie der Jahrtausendwende, die uns Don Quijote als "Web-Master eines exquisiten virtuellen Hypertextes" greif- und erlebbar machen. Im beständigen Changieren zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Narration und ihrer Subversion entfaltet sich ein fiktionaler Kosmos, der mit seinen zahllosen Verästelungen und intertextuellen Einschüben zur unendlichen Geschichte gerät. Wen wundert es, dass Cervantes' Meisterwerk zu den am häufigsten adaptierten Stoffen der Weltliteratur zählt.

Wo so viel auszuführen wäre und (wie im Fall Wertheimers) so souverän geballtes Wissen ausgebreitet wird, besteht die Gefahr des "name dropping", eine leichte Krankheit, an der nicht nur Don Quijote, sondern auch der Verfasser dieser Studie leidet. Aber wie kann man sich in das "System Don Quijote" vertiefen, ohne sich an seinem verrückten Protagonisten zu infizieren?

Der 1615 erschienene zweite Teil von "Don Quijote" verdichtet die aus Spiegelungen und Mystifikationen gefügten Episoden und verstärkt solcherart den Widerstand gegen eine simplifizierende Hermeneutik, denn es entspricht ja dem Wesen des Romans, um mit dem Verfasser zu reden, den Leser zu ermutigen, "den absurd scheinenden Ritt gegen die Schwerkraft der Norm, die Denkfestungen der Instanzen und Systeme zu wagen".

Was der Autor hier zum Besten gibt, darf als Exemplum eines derartigen Ausritts betrachtet werden, bei dem er es schafft, mit dem Gestus des hemdsärmeligen Gelehrten, die Komplexität von Cervantes' monumentalem Roman anschaulich darzustellen und dabei noch zu unterhalten. Wahrlich, ergötzlicher kann Literaturwissenschaft kaum sein!


Titelbild

Jürgen Wertheimer: Das Cervantes Projekt. Don Quijote - eine Figur auf Kollisionskurs gegen den Rest der Welt.
Konkursbuchverlag, Tübingen 2005.
48 Seiten, 6,00 EUR.
ISBN-10: 3887693485

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