Die Liste als unterbewertetes Kunstwerk

Nicht schlecht, aber es ginge noch mehr in Christine Brincks Listenbuch

Von Mario Alexander WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Alexander Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Umberto Ecos Verschwörungsroman "Das Foucaultsche Pendel" ist es eine fehlinterpretierte (Einkaufs-)Liste, die das Geschehen in Bewegung setzt. Auf eine Liste mussten sich jüngst die fusionierten Parteien PDS und WASG einigen. Private to-do-Listen ("Donnerstag: Gelber Sack!") hängen an unzähligen Pinnwänden, und wenn man den Begriff "Liste" ein wenig weiter fassen mag, kann man gleich die "Zehn Gebote" nennen, so wie Christine Brinck in ihrem Listenversammlungsbuch "Das Beste von allem". Im Anfang war das Wort und gleich darauf folgte die Liste.

Christine Brinck präsentiert auf 300 Seiten unzählige davon. Gegliedert in zwölf Rubriken, die von "Die ältesten Listen und drei für die Zukunft" über "Bücher für die einsame Insel" bis hin zu "Guess who's coming to dinner" reichen. Sie hat recherchiert, Statistiken bemüht ("10 Stadt- oder Landkreise mit den reichsten Rentnern"), liefert harte Fakten wie die "9 Gewichtsklassen beim Boxen", doch in den meisten Fällen sekundieren Cristine Brinck Experten ihres jeweiligen Gebiets, die uns schön subjektiv ihre Rangordnungen um die Ohren hauen. So schiebt Henryk M. Broder eine gallige "Top 10 der deutschen Nervensägen" ein, deren vermutete Haltbarkeitsdauer allerdings nicht mit den "11 Nahrungsmitteln mit niedrigem Kaloriengehalt" konkurrieren kann. Marcel Reich-Ranicki unterstreicht seine Extravaganz dadurch, dass er eine untypische "Top 11" seiner "liebsten Romane der Weltliteratur" zur Diskussion freigibt (auf der Nummer Eins: "Rot und Schwarz"), während sich der amerikanische Autor Louis Begley mit den eher üblichen zehn Nennungen begnügt, diese jedoch nicht in eine wertende Reihenfolge setzt, sondern nur alphabetisch sortiert. Kurzum: Es gibt viel Interessantes und auch Kurioses zu entdecken, genug Stoff, um sich abends im Freundeskreis genüsslich darüber aufzuregen ("Bitte, dieser Roman hat nicht mal was in der örtlichen Leihbibliothek zu suchen...") und freundschaftlich zu streiten.

Einiges gibt es aber zu bekritteln: So gibt es eine Übersicht über die "30 beliebtesten Theaterstücke auf deutschsprachigen Bühnen" (Numero Uno: Brechts "Dreigroschenoper"). In einer kurzen Erläuterung zu dieser Liste steht: "35 Millionen Besucher gehen jährlich in Theater-, Opern- und Konzertaufführungen, fast dreimal so viele wie in die Fußballstadien." Die Kultur schlägt den Fußball 3:1? Dieses angebliche Verhältnis kann man nicht nur in Christine Brincks Listenbuch lesen, dieser Irrtum wird regelmäßig in Zeitungs- und Zeitschriftenartikel verbreitet. Zu den Fakten: In der letzten Bundesligasaison 2004/2005 besuchten 10,8 Millionen Zuschauer die Fußballstadien. Doch damit ist es ja nicht getan. Es addieren sich 3,7 Millionen Besucher hinzu, die "zweitklassigen" Fußball sehen wollten. "Fast dreimal so viele" stimmt nach Adam Riese hiermit schon nicht mehr. Dazu kommen - um im Profibereich zu bleiben - die DFB-Pokalspiele, die internationalen Wettbewerbe (Champions League und UEFA-Cup, einschließlich der Vorausscheidung UI-Cup), ganz zu Schweigen von den Auftritten der Nationalmannschaft, sprich: den Länderspielen. All das findet definitiv in "Fußballstadien" statt. Wenn man jetzt noch den gesamten Amateurbereich berücksichtigt - ein "achtklassiges" Lokalderby mit Bratwurst, Bier und Sonnenschein zwischen Breitengüßbach und Kemmern lockt mehr Zuschauer an als ein hochambitioniertes Schauspiel in Berlin - dreht sich die Relation dramatisch um. Was einmal mehr beweist, dass man keiner Statistik trauen darf, die man nicht selbst gefälscht hat.

Ungeachtet dieser Zahlenspiele mangelt es in der Gesamtbetrachtung dem Listenbuch ein ganz klein wenig an durchschlagender Originalität und Neuigkeit. In Zeiten des Internets - die Fundgrube für Detailfanatismus, Gesamtbetrachtungen, Abseitigkeiten - hat es dieses Buchprojekt schwer. Wem beim Surfen langweilig wird, der soll einfach mal auf die offizielle Seite des Statistischen Bundesamts Deutschland schauen: www.destatis.de.

Vieles darüber hinaus erfordert "Fachkenntnisse", die auch kein "Googeln" liefern kann. Ein Blick auf www.rocklist.net offenbart, dass es nicht mehr viel Neues unter der Sonne geben kann. Zu viele "Experten" im Buch sind letztlich doch keine, was dazu führt, dass einige der im Buch erstellten Listen so auch locker zwischen drei und vier Uhr morgens im Freundeskreis erstellt werden könnten - mit gefühlt höherem Originalitätsfaktor. Außerdem: Nicht jeder, der eine umfangreiche Bibliothek oder Schallplattensammlung sein Eigen nennt, ist automatisch ein begnadeter Listenersteller. Es ist eine Kunst, eine gute Liste zu erstellen. Umfangreiche Fachkenntnisse sind nur die Basis. Einen Vorteil hat hier per se, wer sich beispielsweise mit Zahnpastatuben oder stotternden Außenministern beschäftigt. Wer über Allgemeingut Listen erstellt, bedarf eines genialischen Moments.

Dies sind jedoch alles Einwände aus der Perspektive des Listenfetischisten - Wie heißt es doch so schön: Für Einsteiger, aber auch für Fortgeschrittene bietet dieses Buch große Unterhaltung.


Titelbild

Christine Brinck: Das Beste von allem. Buch der Listen.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2005.
312 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 3499619008

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