Langsamer reisen

Peter Handkes letztes Journal "Gestern unterwegs. Aufzeichnungen 1987 bis 1990" birgt Kleinodien und Glücksmomente sonder Zahl

Von Ulrike MatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Matzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass ihm das Format des Tagebuchs eine Möglichkeitsform literarischer Experimente ist, machte Peter Handke schon mit seinem ersten Journal "Das Gewicht der Welt" (1977) deutlich - damals als Versuch reflexhaften Reagierens mit Sprache auf Erlebnismomente, in allen Lebenslagen. Vier weitere Notizbücher folgten, ein jedes anders angelegt und in je unterschiedlichem Abstand zum Schreibzeitpunkt veröffentlicht; vom anfangs simultanen Mit-Schreiben hin zum nachträglichen Notieren. Letzteres rührt u.a. vom fast ständigen Unterwegssein her, ohne festen Wohnsitz in der hier memorierten Zeit. Danach, so der Autor, findet kein oder kaum ein Aufzeichnen mehr im Sinn der früheren Tagebücher statt.

Kreuz und quer durch Europa und in Japan, Alaska und Ägypten war Handke Ende der achtziger Jahre als Weltenfahrer unterwegs, nach seiner länger währenden Ansässigkeit in Salzburg, die für ihn mit Studienbeginn und Auszug seiner Tochter endete. Das Gehen und das Schauen hat er für sich zur Lebensart erhoben; ganz Auge und ganz Ohr, offen für die Dinge, die ihn "anwehen" und anmuten, rhythmisiert sich ihm die Außenwelt zur Form. Habhaft wird er dieses "Fastnichts, das die Welt umspannt" meist in haiku-artigen Ein-Satz-Gedichten, mitunter lediglich in ein paar Wörtern. Derart "durchlüftet" aufnotiert ist für ein Innehalten und Innewerden bei der Lektüre gut gesorgt - vergleichbar dem sukzessiven Sichbewegen in Kirchen und Kreuzgängen der Romanik (von ihm wieder und wieder aufgesucht), von der kindlich-naiven "Mittelalterbilderlandschaft" eines Kapitells zur nächsten. Mit ähnlich kindhaftem Staunen im Blick verleiht der Dichter Handke allem noch so Kleinen eine Feierlich- und Weiträumigkeit: "Von Angesicht zu Angesicht, so musst du schauen, auch auf den gesichtslosesten Stein". Beiläufigkeiten, derer er am Wegrand oder vom Busfenster aus ansichtig wird, lassen ihn die Welt immer noch neu entdecken: "Die Kinder als Dichter: Sie stehen da, halten die Hand in den Regen, und das ist ihr Gedicht".

Stets vorbereitet auf die Epiphanie des Schönen richtet sich seine Aufmerksamkeit beharrlich aufs Ereignislose, abseits so genannter Ereignisse. Denn: "Die Welt im Gehen, Schauen, Bedenken, Betrachten stellt sich anders dar als die Welt in den Zeitungen". - So findet man kaum Kommentare zu den weltpolitischen Umbrüchen jener Jahre; knapp notiert wird Tagesaktuelles - wenn überhaupt - nur aus persönlicher Betroffenheit: der Absturz des Flugzeugs über Lockerbie, in dem er zuvor saß, oder die Studentenunruhen am Tiananmenplatz. Ein vager Zeitbezug äußert sich höchstens indirekt, in weit gefasster Zivilisationskritik, oder in poetologischen Gegenweltentwürfen: "Mein vereintes Europa: Das der Feldwege und der Ackermauern".

Gedanken an Österreich lösen nur Grauen aus und scheinen - im Gegensatz zu früher - keiner weiteren Erwähnung wert. "Das Problem 'Deutschland' ist befruchtend; das Problem 'Österreich' dagegen nicht - nicht mehr, war es nicht einmal mehr bei Hofmannsthal?" Anfangs mehr im Unterwegs zu Hause, wird ihm die Suche nach Beheimatung zunehmend Movens. Die einstige und, wie sich gegen Ende der zweieinhalb Jahre dauernden Pèlerinage abzeichnet, auch künftige Wahlheimat Frankreich erscheint ihm im Gegensatz zum Herkunftsland als ein Land der Freiheit, als das Land seines Ideals.

Obwohl häufig in der Ich-Form gehalten, sind Einblicke in rein Privates in den Notizen ausgespart oder symbolhaft verschleiert. Das ewigjunge männliche Begehren und die Sehnsucht nach Lieben und Geliebtsein brechen freilich öfters durch; erhebende wie ungute Erinnerungen an die Kindheit; auch verhaltener Humor und leise Selbstironie. In erster Linie ist das Ich ein Fokus, der quasi unpersönlich aufnimmt und dies in Merksätzen, Geboten, kurzen Dialogen bildhaft werden lässt. Zu (Wort-)Bildern verwandeln sich auch Grabinschriften, Schilder- oder Hinweistexte. Unermüdlich wird dabei Sprache betrachtet und tranchiert, werden durch achtlosen Gebrauch entleerte Wörter und Wortfügungen in ihrer Aussagekraft neu gedacht ("behutsam", "Beherzung"); wird nach Verben gesucht, um einem Befinden, einem Sachverhalt gerecht zu werden ("Ruhe: nimmt mich auf (gastlich)").

Im peripatetischen Langsamschritt begegnen einem die Handke'schen Themen und Motive, wird über angedachte Werke reflektiert und auf frühere rekurriert - das Fahrtenbuch erweist sich vor allem auch als Arbeitsjournal für den damals verfassten "Versuch über die Jukebox" oder die später entstandenen Romane "Mein Jahr in der Niemandsbucht" und "Der Bildverlust". Zusammen mit wiederholt zitierten Weggefährten und geistigen Verwandten - Hölderlin, Goethe und Cézanne, René Char, Nicolas Born, Hermann Lenz oder Francis Ponge - erlaubt dies Einblick in die Herkunft seiner Weltsicht, seines Denkens, seines Schreibens. Der Prozess der Selbstverortung, des Selbstvergewisserns und Selbststilisierens mündet in teils originellen Formulierungen: "'Der Augenblicksdenker': nur das bin ich", "Mein einziges Talent ist von jeher die Sehnsucht gewesen; zum Beispiel habe ich nie schreiben können, als Können". - Gut so!, kann man da nur sagen, und sich ein Beispiel nehmen.

Dass sich die Notizensammlung als Reise-, ja Lebensbegleitbuch bestens eignet, als profanes Brevier gewissermaßen, wird sich an den künftig aus ihm zitierten Sinnsprüchen erweisen. "Für den, den's angeht", den Handke-Leser, die Handke-Leserin, birgt dieses weltdurchdrungene Itinerar funkelnde Kleinodien sonder Zahl, und in nuce den gesamten Handke-Kosmos. Nur scheinbar ohne inneren Zusammenhang ist das die Tagebuchreihe beschließende und zugleich sein Œuvre (neu) erschließende Journal vielsagender als manche Sekundärliteratur. Und weitaus beglückender auf jeden Fall.


Titelbild

Peter Handke: Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2005.
553 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 3902144998

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