'Überlebensschrift'

Neue Studien zur Autobiografik der Shoah

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einem Brief an Max Brod spricht Franz Kafka, die Situation des jüdischen Schriftstellers analysierend, von den drei Unmöglichkeiten des Schreibens: "der Unmöglichkeit, nicht zu schreiben, der Unmöglichkeit, deutsch zu schreiben, der Unmöglichkeit, anders zu schreiben", um noch eine vierte hinzuzufügen, "die Unmöglichkeit zu schreiben".

Der ungarische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Imre Kertész, dessen Texte durchzogen sind von einem Um- und Weiter-Schreiben dieses Kafka'schen Axioms, sieht die Paradoxien in seinem programmatischen Essay "Die exilierte Sprache" nach 1945 um eine wesentliche 'Unmöglichkeit' erweitert: "die Unmöglichkeit, über den Holocaust zu schreiben", wobei sich diese Reihe nach Kertész noch differenzieren ließe: "Wir könnten die Unmöglichkeit nennen, nicht über den Holocaust zu schreiben, die Unmöglichkeit, über den Holocaust deutsch zu schreiben, und die Unmöglichkeit, anders über den Holocaust zu schreiben".

Wenn Kertész hier und an anderen Stellen das Phänomen des Erzählens als Phänomen des Bezeugens weniger der Singularität der Shoah als vielmehr eines sich fortzeugenden Traumas sowie der Wunden und Beschädigungen der Sprache beschreibt, so verknüpft sich damit die These, dass von diesem Ereignis her - nach Auschwitz - Licht auf die aporetische Dimension von Erzählungen und ihrer Lesbarkeit fällt. Pointiert fasst Kertész diese Überlegungen in folgenden Fragen zusammen: "Wo aber findet das Bewußtsein des Holocaust seine Heimat, welche Sprache kann von sich sagen, allgemeines Subjekt des Holocaust, dominantes Ich des Holocaust, Sprache des Holocaust zu sein? Und wenn wir diese Frage stellen, können wir dann unterlassen, auch die folgende zu stellen, die, ob eine eigene und ausschließliche Sprache des Holocaust überhaupt vorstellbar ist? Und wenn ja, müßte diese Sprache dann nicht so grauenhaft und so düster sein, daß sie schließlich die zerstören würde, die sie sprechen?"

Shoah - Holocaust - Auschwitz: Drei Chiffren für den von 1941 bis 1945 bürokratisch organisierten und industriell durchgeführten Mord an sechs Millionen europäischen Juden im nationalsozialistischen Machtbereich, drei Passwörter für das stets unvollständige Begreifen dieser Massenvernichtung, die als jeweils bevorzugtes Schibboleth die Grenzen des Verstehens markieren und zugleich verdecken. Indem mit ihnen die bleibende Unzugänglichkeit eines einmaligen 'Zivilisationsbruchs' definiert und datiert werden soll, ist für Kertész zugleich eine unhintergehbare Aporie zwischen dem Datum und dem, was sich diesem entzieht, gegeben. Dem Problem der Verstehbarkeit korrespondiert somit stets dasjenige der Repräsentierbarkeit. Wenn die Diskussion um die Erinnerung an den 'Zivilisationsbruch' immer von dem Zweifel begleitet ist, ob das 'Unfassbare', das sich jedem Verständnis letztlich entzieht, überhaupt dargestellt werden könne, so hat sich doch gezeigt, dass literarische Texte als Zeugnisse von Überlebenden einen wichtigen Stellenwert gewonnen haben. Auch wenn philosophische Ansätze die Problematik jeder Darstellung nachdrücklich ins Bewusstsein rufen, auch wenn die Geschichtswissenschaft durch die Rekonstruktion von Fakten und Entwicklungsprozessen wesentliche Dimensionen des Geschehens zu erhellen vermag, so sah sich angesichts des Grenzereignisses der Shoah vor allem die Literatur in der paradoxen Situation, von dem Unfassbaren Zeugnis abzulegen und Darstellungsmethoden zu finden, die indirekt, vermittelt und verschlüsselt den Zivilisationsbruch evozieren.

In den verzweifelten Versuchen, das Überleben durch eine schriftliche Fixierung der Vergangenheit zu überleben, gewissermaßen eine 'Überlebensschrift' zu produzieren, wird diese unmögliche Position im "Niemandsland" ausgelotet. Welche Optionen dieses Schreib-Projekt freisetzen kann, zeigt auf sehr eindrückliche Weise der von Manuela Günter herausgegebene Sammelband "Überleben schreiben. Zur Autobiographik der Shoah". Neben den bereits kanonisierten Texten Primo Levis und Jean Amérys stehen literarische Zeugnisse der letzten beiden Jahrzehnte von Cordelia Edvardson, Ruth Klüger, Louis Begley und Roman Frister im Fokus der Betrachtung, die die Shoah als Kinder oder Jugendliche überlebten. Explizites Anliegen des Bands ist es, "[d]ie 'negative Poetik' dieser Texte zu ermitteln, ihre widerständige Ästhetik gegen die Identifizierung als sprachlose Opfer herauszuarbeiten und für die spezifische Hybridität der Texte - im Sinne der in ihnen artikulierten Grenzerfahrung wie auch ihrer genealogischen 'Herkunft' - Kategorien der Analyse zu finden, die neben der historischen auch die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung vertiefen können".

Die meisten der in diesem Band versammelten Autorinnen und Autoren betonen die Möglichkeit literarischer Darstellung, auch und gerade wenn sie etwas anderes als 'die Wirklichkeit' erzählen, etwas, das selbst, wie Kertész es in seinem Essay "Über die Vergänglichkeit der Lager" formuliert hat, den Überlebenden "so verfremdet [erscheint] wie ein sorgfältig präparierter Ausgrabungsbefund, eine in allen Einzelheiten bekannte und endgültige Geschichte, die wir zu Recht im Präteritum erzählen". Ansichtig wird dabei das Grundproblem für die jüngere jüdische Literatur im Zeichen der Shoah: eine Form der Repräsentation jenseits des bereits etablierten und festgeschriebenen Diskurses über die Shoah zu finden. Manuela Günter hebt in ihrer Einleitung zu Recht hervor, dass die Darstellung "nicht nur durch den unheimlichen Kern des Ereignisses [prekär wird], sondern noch mehr durch die Abgeschlossenheit, die es im Diskurs erhält".

Vor allem die Texte Kertész' belegen deutlich, dass es zum Unsagbaren viel zu sagen gibt, nur dürfen die notwendigen Reflexionen über die Grenzen der Repräsentierbarkeit nicht zu neuen Tabus führen. In vielen seiner Texte werden bewusst die den Shoah-Diskurs jahrzehntelang kanalisierenden Normen aufgegriffen, die vom Problem des Bilderverbots und dem Topos der Undarstellbarkeit bis hin zum rigiden Postulat einer Authentizität reichen, demzufolge die Erinnerung möglichst ungefiltert und historisch exakt benennbar in portionierte schriftliche Zeugnisse einmünden soll. Nach Manuela Günter hat "eine solche konfrontative 'Poetik des Scheiterns' weit reichende Konsequenzen, da sie nicht länger der schreibenden Herstellung und Versicherung eines Subjekts dient", sondern stattdessen für die "Analyse der performativen Struktur von Identität als Folge einer - irreversiblen - Identifizierung" funktionalisiert wird. "Die jüngere autobiographische Holocaust-Literatur", heißt es in dem Beitrag von Günter Butzer, "bildet eine Literatur zweiten Grades: Ihren Gegenstand stellt nicht die eigene Erfahrung dar, sondern die Erfahrung im Lichte bereits literarisierter anderer Erfahrung". Gerard Genettes ausgesprochen produktive Kategorie der "littérature au second degré", auf die sich Butzer hier bezieht, erlaubt es in der Tat zu beobachten, welche Shoah-Zeichen oder Mnemotope bereits intertextuell verschachtelt sind. Dazu passen die Beobachtungen in Sigrid Langes Beitrag, in dem gezeigt wird, dass aktuelle Shoah-Repräsentationen die Diskussionen um die 'Grenzen der Repräsentation' hinter sich gelassen bzw. produktiv gewendet haben, indem sie die Unzulänglichkeit der Mimesis durch bewusste Asymmetrie von Darstellung und Dargestelltem ersetzen.

Dadurch rücken - anders etwa als in Eva Lezzis interdisziplinärer Annäherung an "Literarische Autobiographien zur Shoah", in der auch der historische Kontext, die unmittelbare Lebenssituation der Kinder und die psychische Wirkung von Traumatisierungen im Kindesalter miteinbezogen werden - bei allen Beiträgern vor allem Fragen nach den literarischen Strategien, den Erzählweisen, dem Umgang mit tradierten Gattungen beziehungsweise literarischen Vorbildern in den Mittelpunkt der Überlegungen. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der Beitrag von Erich Kleinschmidt, der sich - ausgehend von neueren Theoriekonzepten der Autorschaft - mit den problematischen Aspekten von Auktorialität in der Grenzzone schriftlicher Repräsentierbarkeit beschäftigt, wo allerdings Diskurstraditionen ebenso fragwürdig erscheinen wie traditionelle Paradigmen personalen Erzählens. Das Resultat seiner Analysen ist ebenso nüchtern wie einleuchtend, wenn er hervorhebt, dass die poetologische Negativierung der Autorschaft in der experimentellen 'Moderne' in der Shoah-Autobiografik ganz analog zu den Selbstlebensbeschreibungen der Exilliteratur weitgehend folgenlos bleibe: "Wer überlebt hat, denkt nicht über figurale Positionen seiner Depersonalisation nach. Die Shoah elementarisiert die Subjektkrise der 'Moderne' und führt sie auf das zurück, was in ihr schon mitenthalten war: die Zerschlagung eines ganzheitlichen Menschenbildes".

Es kann gar nicht genug unterstrichen werden, dass an die Stelle ästhetischer Fragmentierungen der Moderne in der Shoah-Literatur das Abbild eines real zerstörten Subjekts tritt, das sich darstellerisch mit Hilfe einer defektiven Sprache nicht als solches inszeniert, sondern bewahrendes Zeugnis von seinen 'Wunden' und traumatischen Destruktionen abzulegen versucht. Die von Kleinschmidt rigoros gesetzte Abgrenzung zu Maurice Blanchots Konzept einer Écriture du désastre ist in diesem Zusammenhang allerdings nicht nachvollziehbar, da sie dessen Ansatz gründlich verkennt. Nach Blanchot würde jede Schrift, die sich der Aufgabe der De-Skribierung ermächtigte, der Katastrophe gerade erst Sinn zuschreiben. Der einzig mögliche Weg der Schrift bleibt ihm zufolge die Wiederholung, die eben keine Dekonstruktion sucht und somit zur Sprache der Bezeugung wird. Blanchot hat deutlich gemacht, dass alles im Zeichen der Shoah Geschriebene, das auf einer zerstörten Sprache beruht und diese Sprache weder als zerstörte noch als rekonstruierte bezeugen kann, nicht zum Gedächtnis werden kann. Diese Problematisierung der Sinnhaftigkeit von Literatur ist allemal gut begründet, geht es dabei immer auch um das Erinnern der Schwierigkeit, wenn nicht der Unmöglichkeit mancher Anamnesen, die, gerade weil sie sich der Erinnerung entziehen, als Wunden, Risse, Spuren, sich Entziehendes übrig bleiben, als nicht zu verwertende Reste.

Die Aporie ihres eigenen Anspruchs - die Erfahrung der Vernichtung einerseits zu vermitteln, andererseits einzukapseln, um sie vor der Verwertung als entlastende Erklärung zu schützen - schreibt sich in die Literatur nachhaltig ein: Präzise reflektieren die Texte das Verhältnis von Dargestelltem und Nichtdarstellbarem, das Dilemma von Singularität des Ereignisse und (Dis-)Kontinuität der historischen Narration, den Grad der Fiktionalisierung sowie die Fallen des Erzählens. Die Unmöglichkeit der Darstellung, die Diskrepanz von Zeichen und Sinn, bei gleichzeitiger Verpflichtung zur Darstellung ist nicht nur symptomatisch für das Ereignis selbst, sondern zugleich die unabdingbare Voraussetzung, dieses entziffern zu können - im Sinne einer nicht vollständigen Lesbarkeit. In seiner 2002 gehaltenen Nobelpreisrede "Heureka!" fasst Imre Kertész dieses Paradoxon auch für seine Autorschaft präzise zusammen: "Rasch sah ich ein, daß mich nicht im geringsten interessierte, für wen ich schrieb, und auch nicht, warum ich schrieb. Mich interessierte nur eine Frage: Was hatte ich überhaupt noch mit der Literatur zu tun? Denn das war klar, von der Literatur und dem Geist, den Ideen, die mit diesem Begriff verbunden sind, trennte mich eine unübertretbare Demarkationslinie, und diese Demarkationslinie trug - wie so vieles andere auch - den Namen Auschwitz. Wenn jemand über Auschwitz schreibt, muß er sich darüber im klaren sein, daß Auschwitz die Literatur - wenigstens in einem bestimmten Sinn - aufhebt. Über Auschwitz kann man nur einen schwarzen Roman schreiben, einen, mit allem Respekt gesagt: Kolportageroman in Fortsetzungen, der in Auschwitz beginnt und bis zum heutigen Tag dauert. Womit ich sagen will, daß seit Auschwitz nichts geschehen ist, was Auschwitz aufgehoben, was Auschwitz widerlegt hätte. Der Holocaust konnte in meinem Werk niemals in der Vergangenheitsform erscheinen".

Das erlaubt auch, viele Texte der Shoah-Literatur unter Zuhilfenahme eines Begriffs von Jean-François Lyotard als 'Überlebensschriften' zu bezeichnen. In seinem Großessay "Heidegger und 'die Juden'" definiert Lyotard den Terminus wie folgt: "Überlebensschrift, überwältigt von der Scham, selbst nicht erlegen zu sein, von der Scham, des Zeugnisses noch mächtig zu sein, und von der Trauer, das Zeugnis zu wagen". Die 'Überlebensschrift' der Literatur im Angesicht der Shoah berührt jenen Grenzbereich, wo es zwar nach wie vor möglich ist, das Erlebte in eine sprachliche Darstellungsform zu bringen, wo es aber nicht mehr gelingt, das Erlittene und sein Umfeld zu repräsentieren oder zu deuten. Den Texten der Überlebenden gelingt es, im literarischen Modell, das sich kritisch-destruktiv an den konventionellen Formen und Gattungen orientiert, den Einschnitt zu verdeutlichen, der mit der Shoah gegeben ist. Der Literaturwissenschaft kommt es dementsprechend zu, die Mechanismen zu beschreiben, mit denen die Texte sich der aporetischen Aufgabe stellen, von dem Unvorstellbaren Zeugnis abzulegen. Die beiden Sammelbände tragen mit ihren - von unterschiedlichen Ausgangspunkten unternommenen - Überlegungen dazu bei, den Blick für das von der Shoah-Autobiografik bereitgestellte Verstehen zu schärfen.


Titelbild

Eva Lezzi: Zerstörte Kindheit. Literarische Autobiographien zur Shoah.
Böhlau Verlag, Köln 2001.
382 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3412164003

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Manuela Günther (Hg.): Überleben Schreiben. Zur Autobiographik der Shoah.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2002.
218 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 382602219X

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