Kunstwerke als Speicher der Erinnerung

Der Katalog zur Ausstellung "Rhetorik der Leidenschaft"

Von Christine KanzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Kanz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der eine gilt bis heute als Meister des Lichts und des Schattens. Doch war er gleichzeitig auch schon ein Meister des psychologischen Blicks. Rotzfrech, zornig und mit funkelnden Augen oder auch einfach nur lieb, blickt er uns nicht selten selbst auf seinen Radierungen, Zeichnungen und Portraits mit seinem - nicht eben hübsch zu nennenden - Gesicht entgegen. Ohne seine große Sammlung antiker Darstellungen von körpersprachlichen Ausdrucksformen, die er ausführlich studierte, von denen er sich aber auch zugunsten des realistischen Prinzips explizit absetzte, wären seine eigenen menschlichen Antlitze und Körper möglicherweise nicht derart wirklichkeitsnah ausgefallen.

Der andere studierte die verschiedensten Ausprägungen menschlicher Gesichter in seiner Umwelt, vor allem aber auf antiken Darstellungen, systematisierte sie alle nach scheinbar objektiven, letztlich aber ganz eigenen (und folgenschweren) Gesichtspunkten und fertigte Charakterstudien an. Der von ihm anschließend formulierte Zusammenhang von Gesicht und Charakter, Schönheit und Edelmut oder aber Hässlichkeit und Verbrechen vermochte nicht nur seinen Zeitgenossen Goethe zu beeindrucken, sondern beeinflusst noch bis heute literarische Fiktion wie Wirklichkeit. Seine Sammlung von mehr als 20.000 Zeichnungen und Grafiken fasste er in vier Foliobänden unter dem Titel "Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und der Menschenliebe" zusammen, die immer noch als eine der beeindruckendsten Buchproduktionen des 18. Jahrhunderts gelten. Auf der anderen Seite aber firmieren sie auch als "Präfiguration des Rassismus".

Der dritte schließlich konnte schon von den technischen Errungenschaften der Moderne profitieren. Er sammelte mit Feuereifer Fotos, die menschliche Gebärden, Gesten und Bewegungen in all ihren Spielarten zeigten. Vorzugsweise von Sportlern oder Tänzerinnen, denn wichtig waren ihm die unterschiedlichen Bewegungseinheiten. Er ordnete sie bestimmten Gefühlen zu und nannte solche gebärdensprachlichen Ausdrucksformen, die immer wieder auftauchten, "Pathosformeln". Dabei unterschied er die Gesten und Gebärden, die zur "vita activa" gehörten, von denen, die zur "vita contemplativa" zählten. Zur aktiven Seite gehören demnach Urbilder von Aggression und Zorn, zur kontemplativen Seite Trauer und Melancholie. Diese Systematisierung, die er in seinem nie vollendeten "Mnemosyne-Bilderatlas" veranschaulichte, erhob er zur Grundlage einer ganz eigenen Kulturtheorie, in deren Mittelpunkt der Begriff des Gedächtnisses steht: ein wichtiger Grundstein der Kulturwissenschaften war gelegt.

Der niederländische Künstler Rembrandt, der Zürcher Physiognom Johann Caspar Lavater und der Hamburger Kulturhistoriker Aby Warburg - sie alle drei können in gewisser Hinsicht und jeweils auf ihre Weise als Väter der Kulturwissenschaften gelten. Zumindest wenn man darunter eine Wissenschaft versteht, die sich vor allem mit anthropologischen Fragestellungen, also mit Körperkonzepten, Charakterzügen und nicht zuletzt mit dem beschäftigt, was den Menschen schon immer bestimmt hat: mit Leidenschaften, Emotionen, Gefühlen, Affekten, Empfindungen. Was alle drei eint, ist ihre Sammelleidenschaft, der Hang zum Systematisieren - und nicht zuletzt die Liebe zur Antike, die ihnen das Bildmaterial lieferte für die Rationalisierung der gebärdensprachlichen Ausdrucksformen der Gefühle. Weder die ausdrucksstarken Charakterstudien Rembrandts noch die physiognomische Betrachtungsweise Lavaters oder der kulturhistorische Ansatz Aby Warburgs wären ohne die antiken Vorlagen möglich gewesen.

Dass ihnen allen, zusammen mit den großen Meistern der abendländischen Kunst, eine Ausstellung gewidmet wurde, die sich motivisch an ihrem gemeinsamen Interessenschwerpunkt der Körpersprache orientierte, war seit langem überfällig. Die Ausstellung "Rhetorik der Leidenschaft", maßgeblich konzipiert von den Kunsthistorikern Christoph Geissmar-Brandi und Naoki Sato, wurde zunächst in Tokyo gezeigt, bevor sie nach Hamburg weiter wandern konnte. Dass sie so gut gelang und außerdem noch zu in einem so wunderschönen Ausstellungskatalog führte, wie ihn Ilsebill Barta-Fliedl und Christoph Geissmar vorlegen, war jedoch nicht unbedingt zu erwarten.

Versammelt sind in dem Katalog, neben Meisterwerken der Graphischen Sammlung Albertina in Wien, die überwiegend aus dem 15. und 16. Jahrhundert stammen, 36 Zeichnungen aus dem Nachlass Lavaters, die die Österreichische Nationalbibliothek zur Verfügung stellte, sowie Leihgaben der Hamburger Kunsthalle. Die beeindruckende Folge von Meisterwerken des Abendlandes, insbesondere Zeichnungen und Druckgraphiken, demonstrieren, wie im Laufe der Jahrhunderte menschliche Leidenschaften dargestellt wurden. Mantegna, Michelangelo und Raphael waren Meister der Gebärdensprache in der Kunst, ebenso Dürer, Rembrandt oder Rubens. Die Rezeption antiker Darstellungen von Gebärden und Gesten lässt sich jedoch über Künstler wie Francisco Goya oder Käthe Kollwitz bis ins 20. Jahrhundert hinein verfolgen. Frappierend ist, dass sie alle auf die gleichen Ausdrucksformen zurückgriffen, um bestimmte Gefühlslagen kenntlich zu machen. Sowohl Dürer als auch Kollwitz wählten etwa den in die Hand gestützten Kopf, um die melancholisch-nachdenkliche Stimmung einer Person deutlich zu machen.

Es ist das ausdrückliche Ziel dieser motivisch angelegten Ausstellung zu veranschaulichen, dass die hier präsentierten Kunstwerke "Speicher der Erinnerung an die Leidenschaften des Menschen" sind. Der Titel "Rhetorik der Leidenschaft" ist allerdings ein wenig irreführend: weit mehr als um Affekte geht es hier vor allem um Körpersprache allgemein. Sämtliche Bewegungen und Ausdrucksformen des menschlichen Körpers, also auch Tanz oder Krankheit, sind dabei relevant. Dennoch kann die Ausstellung vor allem eines vermitteln: die Bedeutung gebärdensprachlicher Bilderreihen der Antike für die Kunst des Abendlandes bis ins 20. Jahrundert hinein sollte bei allen kulturwissenschaftlich angelegten Studien über die künstlerische Konstruktion von Emotionen mit reflektiert werden.

Wer nicht nur die in ausgesprochen guter Qualität reproduzierten Abbildungen, die geschmackvolle Ausstattung des Katalogs genießen, sondern sich auch noch über Theorie und Praxis dieser 'Väter der Kulturwissenschaften', insbesondere aber die Antikenrezeption bis in die Moderne hinein informieren will, der oder die ist gut beraten, ihn sich anzuschaffen.

Titelbild

Ilsebill Barta-Fliedl / Christoph Geissmar-Brandi / Naoki Sato (Hg.): Rhetorik der Leidenschaft. Zur Bildsprache der Kunst im Abendland.
Dölling und Galitz Verlag, Hamburg / München 1999.
256 Seiten, 25,10 EUR.
ISBN-10: 3933374332

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch