Rückwärts leben

Andrew Greers Roman "Die erstaunliche Geschichte des Max Tivoli"

Von Iulia DondoriciRSS-Newsfeed neuer Artikel von Iulia Dondorici

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Andrew Sean Greer, Jahrgang 1970, graduierter Schriftsteller und Jungstar der US-amerikanischen Literaturszene, erzählt in seinem zweiten Roman "Die erstaunliche Geschichte des Max Tivoli" von einem Leben, das seltsame Wege geht, weil es von einer seltenen Krankheit vorherbestimmt wurde. Es handelt sich um eine Krankheit, von der bisher kein Mensch gehört hat. Der Protagonist kommt als siebzigjähriger Greis auf die Welt und sieht sich nun selbst in vollem Bewusstsein dabei zu, wie er immer jünger wird. Seine Lebensuhr läuft komplett rückwärts. Eine interessante Konstellation, die einiges verspricht.

Die Geschichte wird, wohl um eine Konfusion des Lesers zu vermeiden, chronologisch rückwärts als Lebensbericht in einer Art Briefroman mit eingeschobenen Blättern nach Art des Hoffmann'schen "Kater Murr" erzählt. "Die erstaunliche Geschichte des Max Tivoli" steht in der Tradition des Briefromans und könnte den Versuch eines negativen Entwicklungsromans darstellen. Die neuartige und oft verwirrend wirkende Perspektive dient dem Autor dazu, narrative und psychologische Konventionen des Romans experimentell zu unterlaufen. Der Erzähler ist der kurz vor seinem Freitod stehende, äußerlich verjüngte Protagonist Max Tivoli. Das erste Blatt ist mit dem Datum 25. April 1930 versehen. Das letzte mit 1. September 1930, dem Geburtstag des Protagonisten. Der Erzähler ist bei einem scheinbaren Lebensalter von 12 Jahren angekommen. Sein wirkliches Alter aber ist 58, denn geboren wird Max Tivoli 1871 in San Franciso.

Den Kern der Lebensgeschichte des Max Tivoli bildet die Unmöglichkeit einer wahren Liebe. Dennoch wird viel geliebt in diesem Roman. Aber unehrlich, so nebenbei, so als müsse es eben getan werden. Dennoch darf sich der Protagonist einen psychoanalytischen Traum erfüllen: Er wird dieselbe Frau zur Geliebten und zur (Stief-)Mutter haben. Die Initialzündung der Erzählung ist die Liebe des 53-jährigen zu der 14-jährigen Tochter der Untermieterin Mrs. Levy, einer jüdischen Witwe. Im Grunde ist es nicht das Verhältnis eines älteren Mannes zu einem kindlichen Mädchen, denn die psychische Reife Tivolis ist die eines 17-jährigen Jungen. Dennoch scheint das Lolita-Motiv durch. In Nabokov-Humbert'scher Manier entschließt er sich, ein Verhältnis mit der wenig reizvollen Mutter zu beginnen, um der angebeteten Tochter nahe zu sein. Als der harmlose Kuss einer lauen Sommernacht zwischen Alice und Max bekannt wird, flieht Mrs. Levy, gemeinsam mit der unmündigen Tochter, verletzt und voller Vorwürfe aus Max´ Leben. Max aber wird Alice wiedersehen. Im März 1906 wird er ihr in San Franciso zufällig begegnen. Zu diesem Zeitpunkt ist sie 32. Max' äußeres Alter und sein inneres Alter stimmen jetzt überein. Er ist 35. Sie erkennt den alten Verführer nicht und kehrt zurück in Max' Leben. Max Tivoli tritt Alice Levy durch diesen Kunstgriff des Autors in dreifacher Figur gegenüber - als Max Tivoli (hoffnungsloser Liebhaber), als Asgar Van Daler (Geliebter und Ehemann) und schließlich als Hughie Dempsey Jr. (als Adoptivsohn). So verwirrend diese Konstellation anmuten mag, so konsequent ist sie doch durchgehalten.

Der Roman beschreibt eine weitere große, nur angedeutete und unerfüllte Liebe. Es ist die homophile Liebe des ewigen Freundes Hughie Dempsey. Hughies Vater war Hauslehrer bei den Tivolis. Hughie, verheiratet und Vater eines Sohns, bekennt sich erst dann zu seiner Liebe zu Max, als dieser bereits zu einem 12-jährigen Jungen geschrumpft ist. Die Unmöglichkeit seiner Liebe führt ihn schließlich in den Freitod. Alice bricht es das Herz, denn noch mehr als ihre vier Ehemänner hat sie Hughie geliebt. So sind alle Figuren geeint in der Unmöglichkeit, die größte Liebe des Lebens zu finden oder auch nur festzuhalten. Für eine kurze Zeit lediglich ist Max Tivoli/Asgar van Daler/Hughie Dempsey Jr. am Ziel seiner Wünsche. Nach vier Jahren Ehe entfernt sich Alice von ihm, um den Fotografen Victor Ramsey zu heiraten. Gemeinsam mit Ramsey führt sie von nun an ein Fotostudio. Zum begehrtesten Fotoobjekt wählt Alice, narzisstisch gesteigert, sich selbst. Immer wieder fotografiert sie in allen möglichen Situationen ihren nackten Körper.

Nach Alices Verschwinden geht Max zur Armee, beginnt ein Studium, ohne es abzuschließen, reist durch die Welt und kehrt enttäuscht und lebensmüde nach San Franciso zurück. Im dritten Teil des Romans tritt Max in sein drittes Verhältnis zu Alice ein. Er wird zu Hughies Sohn und nach dessen Tod zum Adoptivsohn der Alice Ramsey. Dies ist zugleich die letzte Station, die Max mit Alice teilt. Es ist vielleicht die glücklichste. Vater und Sohn schlafen als Spielkameraden und Stiefgeschwister im gleichen Zimmer. Max ist seinem Sohn Sammy ganz nah. Er weiß, dass er eines Tages erfahren muss, wer sein Vater war. Die Geschichte wird seinetwegen aufgeschrieben. Max weiß, das ist die Tragik der Geschichte, von Beginn an, wann er sterben wird. Das unausweichliche Todesjahr 1941 hängt als Damoklesschwert über seinem Leben. So endet die erstaunliche Geschichte des Max Tivoli und damit ein interessantes, aber keineswegs herausragendes Buch, welches verdeutlicht, dass handwerkliches Geschick allein Intuition und Kreativität nicht ersetzten kann.


Titelbild

Andrew Sean Greer: Die erstaunliche Geschichte des Max Tivoli.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
349 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3100278151

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