Die Nacht der leblosen Tröten

Haruki Murakami, schlecht wie nie: "Afterdark"

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bespuckt sie! Schüttelt sie! Tretet sie! Jene faden Rezensenten, denen zu Haruki Murakami nicht mehr einfällt als: "Ist doch immer das selbe. Kennste eines, kennste alle!" Irgendwie stimmt das zwar, doch falsch ist es trotzdem. Keine Frage: in allen Geschichten von Haruki Murakami gerät die Realität aus den Fugen. Harmlose Jedermänner werden mit Dingen konfrontiert, die sich unter, hinter, neben ihrem Alltag versteckt hielten, um unvermittelt auszubrechen. Der japanische Pop-Autor entwirft Buch für Buch eine völlig verdrehte, und dennoch fast penibel nüchterne Welt. Jedes Mal irren Normalos durch Großstadtlabyrinthe, bevölkert von sprechenden Katzen und verstörten Lolitas. Cross the border, close the gap: E und U, Innenwelt und Außenwelt, Banalitäten und Philosophie, bei Murakami sind alle Gegensatzpaare dicke Freunde, und gemeinsam fahren sie zu Kentucky Fried Chicken, zutzeln an ihrer Coke und klönen über alte Jazzplatten.

Clever gemacht - und trotzdem liest er sich stets etwas seicht, unser Freund aus Fernost. Weil mehr Fragen gestellt als beantwortet werden. Weil die Romane bis zur letzten Seite wie ein gigantisches Setup für eine Eskalation wirken, die nicht eintritt. Weil viel gesagt, aber kaum etwas offen ausgesprochen wird. Niemand ist auf eine so perfide Art und Weise suggestiv wie Haruki Murakami, niemand hat einen solchen Mut zur Offenheit. Oder, böse gesagt: so wenig Lust, hinter sich aufzuräumen. Egal, was (in kurzen, leserfreundlichen Sätzen, einer regelrecht unterkomplexen 08/15-Sprache) erzählt wird - der Leser gerät ins Schlingern. Und muss sich immerzu fragen: Worum geht es hier wirklich? Wer diesen literarischen Rorschachtests vorwirft, sie seien sich zu ähnlich, hat den Sinn des Spiels nicht verstanden: "Naokos Lächeln", "Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt", "Kafka am Strand", Murakamis beste - und kantigste - Romane, degenerieren nicht deshalb zu eintönigem Klump, weil sie vom selben Autor stammen. Sondern, weil sie vom selben Leser gelesen werden.

Jetzt wird alles anders. In seinem jüngsten Roman, "Afterdark", tauchen alle Murakami-typischen Versatzstücke auf, die wir kennen und lieben: desillusionierte Großstadt-Teens, exzentrische, geheimnisvolle Frauenfiguren, surreale Abstecher in die Twilight Zone, jede Menge (Pop-)Kultur(referenzen), zwei bis drei Katzen, und die übliche Besessenheit der Figuren mit sich selbst: "Wer bin ich?", "Passe ich zu den anderen?", "Will ich überhaupt zu ihnen passen?". Ohne im eigentlichen Sinn redundant oder fantasielos zu sein, ist "Afterdark" so durch und durch Murakami, liest sich so süffig und leicht und unterhaltsam, es hätte gute Chancen, der Murakami-Roman überhaupt zu werden. Eine Einstiegsdroge für die Neuen, ein ideales (weil völlig unverfängliches) Geburtstagsgeschenk für die Braven, und für Stammleser ein flottes, schmissiges Best-Of. Nett, gefällig und harmlos, und nach kaum 240 Seiten auch schon wieder vorbei. Feine Sache, eigentlich.

Blöderweise hat "Afterdark" einen gewaltigen Haken: Es ist der erste Murakami-Roman, in dem es keinen Haken gibt. Noch nie hat alles so hervorragend zusammengepasst im Harukiversum. Figuren, Geschichte, Motivik, selbst die unvermeidlichen kafkaesken Einlagen, das alles ist aus einem Guss, dieses Mal.

Und das ist nicht gut. Denn wer hier mitdenkt, verliert: einsteigen, zurücklehnen (das Festhalten oder Anschnallen können wir überspringen, das ist bei diesem Buch garantiert nicht nötig), und sich mit tumben, faden, konstruierten Belanglosigkeiten und Allgemeinplätzen berieseln lassen. Nur umblättern muss der Leser noch selbst, die Interpretationen werden von einer allwissenden Erzählstimme sofort mitgeliefert: "In diesem Zimmer geht ganz offenkundig etwas vor. Vielleicht etwas von schwerwiegender Bedeutung." Na ja, vielleicht aber auch nicht: Wer diesen Pauschaltrip durch Banalistan hinter sich gebracht hat, dürfte daran zweifeln, dass Murakami mehr über "schwerwiegende Bedeutung" weiß, als die Schreibweise dieser hübschen Tiefgründigkeitsprothesenfloskel. Was lief da nur schief?

Murakami nimmt uns mit in die Zeit zwischen Mitternacht und Morgengrauen, erzählt die Geschichte dreier junger Menschen. Takahashi studiert Jura, spielt nebenher in einer Jazzband Posaune, und hadert mit dem Erwachsenwerden: "Unser so genanntes Rechtssystem verwandelte sich vor meinen Augen in eine eigenartige, groteske Kreatur." - "In eine groteske Kreatur?" - "Ja. [...] Dieses Vieh respektiert überhaupt nicht, dass ich ich bin oder dass du du bist. Vor ihm verlieren alle Menschen ihren Namen und ihr Gesicht. Wir alle sind nichts als Zeichen und Nummern." Er trifft Mari, eine flüchtige Bekannte, die sich im Vergnügungsviertel herumtreibt, weil sie zu Hause nicht schlafen kann: "Du bist intelligent." - "Nicht besonders. Aber meine Eltern haben mir von klein auf eingetrichtert, dass ich zumindest etwas lernen muss, wo ich ja nicht so gut aussehe." Kameraschwenk - hier wird's verlockend vieldeutig - in ein Zimmer, in dem Maris Schwester, die bildhübsche Eri, seit mehreren Monaten im Bett liegt und fast pausenlos schläft. In jenes Zimmer, in dem im Laufe der Nacht Dinge von... ähm... ja, von schwer wiegender Bedeutung passieren werden: "Aus irgendeinem Grund ist eine Realität anderer Art an die Stelle der ursprünglichen geraten."

Mögen sich an anderer Stelle beflissene Nachtgestalten die Mühe machen, mindestens 24 literarische und filmische Magnolien aufzuzählen, in denen ein Ensemble in Echtzeit durch eine lange Night on Earth begleitet wird - die mangelnde Originalität der Form ist nicht das große Problem von "Afterdark". Sondern der auktoriale Erzähler, der diesen müden Kunstgriff bis zum Gehtnichtmehr erklärt: "Um uns her reichen sich Ursache und Wirkung die Hand, Synthese und Auflösung befinden sich im Gleichgewicht. Schließlich hat sich alles an einem unerreichbaren Ort, der einer tiefen Kluft gleicht, abgespielt. In der Zeit zwischen Mitternacht und den ersten hellen Streifen Himmel tut sich die geheime, dunkle Pforte dieses Ortes auf, an dem unser rationales Denken außer Kraft gesetzt ist. Niemand kann voraussehen, wann und wo sein Abgrund einen Menschen verschlingen und wann und wo er ihn wieder ausspucken wird."

Vielleicht könnte man das noch als Exzentrik, oder bewussten Verfremdungseffekt durch ständiges Betonen des Nur-allzu-Deutlichen abtun. Doch auch die Figuren machen nichts anderes: "Also, Mari, auch wenn der Boden, auf dem wir stehen, fest zu sein scheint, braucht nur irgendetwas zu passieren, und wir brechen tief ein. Danach leben wir nur noch allein dort unten, in einer halbdunklen Welt", sagt Takahashi, und etwas später sinniert Mari: "Ich schwanke auf unsicheren Beinen durch eine enge Welt." Ist klar, danke! Aber jetzt bitte still sein, ja? Ein paar Fragen offen lassen, wenigstens für einige Zeilen in jenen irritierenden Schwebezustand eintauchen, der Murakami berühmt gemacht hat. Bitte!

Keine Chance: neben "Afterdark" erscheint selbst sozialpädagogisches 80er-Jahre-Kinderbuchgewäsch wie "Neues vom Süderhof" oder "Die Pizza-Bande" unbequem, fordernd, faszinierend ambivalent. Entfremdung in der Großstadt! Schicksalhafte Kausalitätsketten in Echtzeit! Und immer wieder Augen und Kameras, Fenster und Bildschirme. Murakami-san, wieso haben Sie das gemacht? Das ist die einzige Frage, die nach der Lektüre offen bleibt. Zusammen mit einem Gefühl der Verstörung, der schleichenden Angst, dass die Realität vollkommen aus den Fugen geraten sein könnte. Und dass alles, was wir über diesen eigenwilligen, intelligenten und durch und durch sympathischen Erzähler zu wissen glaubten, falsch sein könnte. Oder war Murakami etwa schon immer schlecht, und bisher nur klug genug, derart penible Interpretationsangebote zu umgehen? So oder so: Wer sein Gesicht wahren will, der sollte das "Kennste eines, kennste alle!"-Totschlagargument nicht mit einem Verweis auf "Afterdark", das schwarze Schaf im Gesamtwerk, kontern. Sondern scheu lächeln und sagen: "Murakami? Hab ich noch nie reingekuckt. Meine zwölfjährige Schwester liest sowas." Und auch die beliebte "allenfalls für Komplettisten interessant"-Schlussfloskel greift in diesem Falle nicht: gerade Komplettisten sollten um dieses Buch einen weiten Bogen machen. Vorausgesetzt, sie wollen Komplettisten bleiben.


Titelbild

Haruki Murakami: Afterdark. Roman.
Übersetzt aus dem Japanischen von Ursula Gräfe.
DuMont Buchverlag, Köln 2005.
237 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3832179402

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