Das Absurde und die Liebe

Sprache und Politik, das Leben und die Literatur: Reiner Kunze plädiert in Reden und Ansprachen für ein vitalistisches Wahrnehmen der Wirklichkeit

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf eigenartige Weise ist Reiner Kunze immer wieder in das Visier ideologischer Gralshüter geraten. Das war in den harten Zeiten der 60er und 70er Jahre in der DDR so, und es hat sich, wenngleich nicht mehr in staatlich verordneter Form, in seinen Jahren in der Bundesrepublik Deutschland fortgesetzt. Dabei hatte sich Kunze nie ins Rampenlicht einer politisierten Öffentlichkeit gedrängt. Nach seiner Übersiedelung in die Bundesrepublik hatte er ein kleines Dorf im südöstlichsten Eck Bayerns als Refugium gewählt, und dennoch konnte er sich handfester Anfeindungen sicher sein. Was aber hatte er falsch gemacht?

Nach einer frühen parteipolitischen Ideologisierung in den 50er Jahren hatte Kunze nicht zuletzt über die Bekanntschaft mit der ungewöhnlich bildhaften Dichtung der tschechischen Nachbarn zu einer authentischen Poesie gefunden. Ein umfangreiches Werk an Nachdichtungen und Übersetzungen belegt über Jahrzehnte hinweg eingehend die Intensität seines poetischen Dialoges mit der tschechischen Lyrik. Kunze hat im Laufe der Jahre Texte von über sechzig tschechischen Autoren in das Deutsche übertragen. Sein politischer Bruch mit der SED zu Beginn der 60er Jahre mag so manchem seiner ideologischen Gegner in den Knochen stecken. Ein unkontrolliertes Ausscheren ist ebensowenig beliebt wie eigenständiges Denken. Beides hat, wie der vorliegende Band zeigt, Kunze sowohl zu DDR-Zeiten als auch später im Westen immer wieder vorgeführt. "Meine Orientierungsfragen lauten: Was ist wahr? Was ist nach meinem bescheidenen Verstand vernünftig? Wem kann ich vertrauen, und wer ist ein miserabler Charakter? Wem muß ich helfen, und wann mache ich mich schuldig, wenn ich schweige?" - und Reiner Kunze belegt, dass er diese Art zu fragen unter anderem bei Andreas Gryphius, Matthias Claudius und Friedrich Hölderlin gelernt hat.

Die vorliegende Sammlung beinhaltet ausgewählte Reden von Reiner Kunze, die er zu verschiedenen Anlässen zwischen 1977 und dem November 2004 gehalten hatte. In den 25 ausgewählten Ansprachen finden sich verschiedene Kulminationspunkte, die immer wieder Kunzes Stellungnahme herausgefordert haben. Zusammengenommen ergeben sie ein Geflecht aus An- und Einsichten, die Rückschlüsse auf das Denken Reiner Kunzes ermöglichen. Seine Zeitgenossenschaft fußt auf den trigonometrischen Punkten der Ästhetik, der Ethik sowie der kritischen Stellungnahme, und genau jenes Dreigestirn mobilisierte Kunzes engagierte Stellungnahme im Fall der Rechtschreibreform. Die Genauigkeit der Wahrnehmung entspricht in Kunzes Lyrik einer Genauigkeit der Sprache. Umso skeptischer beurteilt er die Nachlässigkeit der Medien im Umgang mit der Sprache: "Je niedriger das Denkniveau, desto undifferenzierter die Sprache, und je undifferenzierter die Sprache, desto fortschreitender ihre Verarmung".

Die künstlerisch verarbeitete Sprache ermöglicht das ästhetische Erlebnis, welches auch einen Zuwachs an Freude darstellt. Notorisch ist Kunzes Misstrauen gegenüber Berufslesern mit eingefahrenen Interpretationsschemata. Anlässlich seiner Ehrenpromotion an der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Technischen Universität Dresden berichtet Kunze ein weiteres Mal über seine Erfahrungen, wie Lehrer das "Geschaute auf den Begriff bringen" - sei er politisch oder religiös motiviert. Über sein Gedicht "Dauerregen über Passau", das mit den Versen "Vom himmel stürzt der vierte fluß / und die kuppeln des doms sind grün von tang" beginnt, schreibt ein Deutschlehrer, dass "in der Bildstruktur des Textes das Hoffnungsmotiv nicht nur in Gestalt der Farbe" wiederkehrt. Kunze wundert sich, dass nicht von Text, sondern Textstruktur gesprochen wird und das Hoffnungsmotiv der Farbe Grün gleichsam ohne jegliche Rücksicht als Interpretament herzuhalten hat.

Der Titel "Bleibt nur die eigne Stirn" erweitert eine Tradition von programmatischen Titeln wie "Zurückgeworfen auf sich selbst" oder "Eines jeden einziges Leben" und belegt Kunzes Mahnung an den einzelnen Menschen, in wacher Wahrnehmung und Verantwortung die gegebene Existenz anzunehmen: "Stets meint das Gedicht das eine einzige Leben, das jeder hat und das zu leben uns niemand abnehmen kann, weder der Staat noch Gott".


Titelbild

Reiner Kunze: Bleibt nur die eigne Stirn. Ausgewählte Reden.
Radius-Verlag, Stuttgart 2005.
199 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3871733067

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