Das Jahrhundert des Verrats

Ein Essay

Von Thomas NoetzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Noetzel

Es scheint vermessen, das 20. Jahrhundert zur Brutstätte des politischen Verrats zu erklären, gilt er doch als zweitältester Beruf der Welt. Menschheitsgeschichtlich tritt der Verräter schon immer als Doppelfigur auf. Er ist Gezeichneter und Ausgezeichneter in einer Person. Gezeichnet ist er, weil er wie der Lügner sich mästet an Wahrheit und Vertrauen, Erwartungen enttäuscht und so den Kitt der Sozialität verzehrt. Dem Parasiten haftet ein Stigma an. Folgerichtig muss man zum Verrat gepresst oder gekauft werden; der Preis lag lange Zeit bei etwa 30 Silberlingen. Ausgezeichnet ist der Verräter aber gleichzeitig auch, weil sein Loyalitätsbruch, sein Verrat eine elitäre Tätigkeit ist. Der Verrat kann nur gelingen, wenn er unerkannt bleibt. Das Klandestine wirkt immer als Distinktionsmittel. Der Verräter besitzt doch weitgehend allein das Geheimnis seines Verrats. Diese zweifache Geheimnisträgerei verschafft ihm doppelte Macht.

Diese den Verräter kennzeichnenden Aspekte machen allerdings nur eine Seite des politischen Verrats aus. Über die individuelle Verbindung von Parasitentum und Distinktionsgewinn hinaus zeigt uns die andere Seite des Verrats seine soziale und politische Konstruiertheit. Ganz unabhängig von den einzelnen und ihren Taten entsteht der Verrat als gesellschaftliche Zuschreibung. Die Ausübung von Herrschaft kann sich das Stigma der Asozialität des Treuebruchs zunutze machen, um Loyalität zu erpressen. Verrat wird dann zu einer Maschine der politischen Uniformierung und zu einer Frage des Datums. Wer es verpasst, der Generallinie der Partei zu folgen, wer nicht auf dem neusten Stand der ideologischen Wendungen ist, der verfällt dem Verratsvorwurf und schwebt in Lebensgefahr.

Jeder Verrat, und dabei ist die Unterscheidung zwischen wirklichem Tun und sozialer Fiktion sinnlos, findet also in einem spezifischen Kontext statt. Für das 20. Jahrhundert besteht diese Rahmung in der Verweltlichung umfassender Rettungs- und Heilsgewissheiten durch die sozialistische Utopie und ihre Selbstwahrnehmung, Gegenentwurf zur belasteten bürgerlichen Gesellschaft zu sein. Diese Herausforderung bestehender politischer Gefolgschaft materialisiert sich in der russischen Oktoberrevolution und der Staatsgründung der UdSSR. Das neue Jerusalem gilt sofort als bedroht und jeder Verteidigungsanstrengung wert. Die Faszination der neuen Zivilisation wird noch dadurch gesteigert, dass hier der Weltfrieden auf dem Spiel steht. Es ist dabei gerade der Westen, der als potentieller Aggressor und Kriegstreiber gilt. Der Ost-West-Konflikt stellt die politisch Sensiblen vor Entscheidungsprobleme, und die Schwachen unter ihnen reagieren auf die neue Herausforderung mit einem Seitenwechsel aus freien Stücken. Die politische Faszination des neuen Modells erfasst die ganze Person. Die Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre ist voller Belege dafür. Man denke nur an das 1935 in London erschienene, auflagenstarke Buch von Beatrice und Sidney Webb mit dem Titel "Soviet Communism. A new civilisation?" Für die Webbs, diese Säulenheiligen der britischen Labour-Party und Vordenker eines englischen Sozialismus, war Stalins Sowjetunion ein Hort der Sauberkeit und Ordnung. Es gab weder Arbeitslosigkeit noch Alkoholismus. Alle gingen mit Freude ihren Geschäften nach. Homosexualität und Kinderschändung waren auf Grund der fortschrittlichen Sexualerziehung unbekannt. Es versteht sich fast von selbst, dass das Fragezeichen in den nach 1935 erscheinenden Neuauflagen des Buches fortfiel. Es konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, auf eine bessere Zukunftswelt gestoßen zu sein. Der sowjetische Sozialismus versprach in John Stracheys "The final struggle for power" (London 1934) die Rettung aller Mühseligen und Beladenen. Danach gab es im Sozialismus schon mittelfristig keine ernsthaften Krankheiten mehr; langfristig war die Überwindung des individuellen Todes vorgesehen. Nur in der fröhlichen Naivität einiger Aufklärer des 18. Jahrhunderts finden sich ähnliche Hoffnungen auf ein Ende allen menschlichen Unglücks. Die Rede vom Jahrhundert des Verrats wird jetzt deutlicher. Denn eine solche Konstellation der Loyalitätsbindungen angesichts antagonistischer gesellschaftlicher Systeme und ihrer jeweiligen Glücksversprechungen hat es vorher nicht gegeben. Mit der Etablierung der Anti-Hitler-Koalition nimmt dieser Magnetismus noch zu. Der Antifaschismus erleichtert die Konversion, den Übertritt aus der verfallenden bürgerlichen Gesellschaft in die sowjetische Zukunft. Im politischen Seitenwechsel dieser Jahre, im Verrat, finden die einzelnen neuen Sinn und neue Stärke.

Großbritannien wird in dieser Zeit zum Laboratorium des Verrats im 20. Jahrhundert. Das hat viel mit dem Niedergang einer alten gesellschaftlichen und politischen Elite zu tun. Der Gentleman als Ikone sozialer Führung und Kompetenz erfährt seine Ohnmacht. Die bürgerliche Gesellschaft kann weder ökonomische Krisen vermeiden noch Frieden schaffen. Das alte Regime hat nicht nur im Vereinigten Königreich abgewirtschaftet. Folgerichtig kommen die großen ideologischen Verräter aus der britischen Oberschicht. Wir erinnern hier an Guy Burgess, enger Freund der Rothschilds, an Donald Maclean, hochrangiger Diplomat im Foreign Office und Sohn eines ehemaligen Vorsitzenden der Liberalen Partei, an Harold "Kim" Philby, stellvertretender Geheimdienstchef seines Landes und Sohn eines der berühmtesten Arabisten seiner Zeit, an Anthony Blunt, Verwalter der königlichen Gemäldegalerien und Mitglied des königlichen Haushalts. Die vier Genannten - die Liste ließe sich fast beliebig erweitern - sind typische Vertreter eines bürgerlichen sozialpatriarchalischen Gesellschaftsideals. Aufgewachsen in besseren Elternhäusern, ausgebildet in den Eliteschmieden der Public Schools und Oxbridge, beruflich erfolgreich in den Schaltzentralen der Macht, werden sie doch erfasst vom Traum des großen Glücks und beginnen in den dreißiger Jahren ihre Arbeit für die Sowjetunion. Sie gieren nach der Auszeichnung durch den Verrat, den nur ein Gentleman sachgerecht ausführen kann. Als der eine oder andere dann schließlich nach Jahren und Jahrzehnten der Klandestinität gen Moskau flüchten muss, um der Bestrafung in Großbritannien zu entgehen, gehören auf alle Fälle die stolz getragenen Schulschlipse und weitere Andenken an merry old england zum Reisegepäck.

Dieser ursprüngliche Verratsprozess des 20. Jahrhunderts findet in Großbritannien auch auf der Seite der politischen Konstruktion des Verrats als Herrschaftsmittel statt. Margaret Thatcher vollzieht nach 1979 in der zum Mittelschichtverband gewendeten Konservativen Partei einen Bruch mit der für dekadent erklärten alten Oberschicht und enttarnt zu diesem Zweck deren Verräter. Der Fall Blunt steht beispielhaft für dieses Tribunal. Dass Anthony Blunt für das KGB tätig gewesen ist, war allen Beteiligten seit den frühen sechziger Jahren bekannt, ohne dass etwa die Queen auf seine Dienste als Verwalter ihrer Gemäldesammlungen und Tischgenosse verzichtet hätte. Erst Thatcher macht dieses Beschweigen öffentlich. Nun verfällt Blunt dem Scherbengericht, er verliert Dienststellung, Kunstprofessur und Mittagstisch. Seine akademischen Grade werden ihm genau so aberkannt wie seine zahlreichen Titel und Ehrungen. Es kommt jetzt allgemein unter den Verdächtigen zu einer rückwärts verlagerten Gewissensprüfung. Zeugnisse der Loyalität werden verlangt und - so weit möglich - gegeben.

Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts ist auch das Ende dieser Form des Verrats als Stigma und Auszeichnung gekommen. Es gibt keine Maulwürfe mehr und keine Konversionen. Viel schlimmer noch: es werden auch keine guten Spionagegeschichten mehr geschrieben. John le Carré hat sich überlebt, selbst von Graham Greene, der seinem langjährigen Freund Kim Philby in "The Human Factor" (London 1978) ein Denkmal gesetzt hat, wird nicht viel bleiben.Wie wird der Verrat des 21. Jahrhunderts sein? Faszination und Konversionspotenziale sind politisch nicht auszumachen. Geheimnisse zählen nach Geldwert. Loyalitätsbrüche werden banal. Der Seitenwechsel wird langweiliger. Trübe Aussichten also auf den Verrat, rückwärts wie vorwärts.