Die Black Box der Latenz

Anselm Haverkamps hyperreflexive Philologisierung der Kulturwissenschaften

Von Arne De WindeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arne De Winde

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Das Außerhalb ist, wenn auch auf einem großen und ungewohnten Umweg, eine Form des Innerhalb", heißt es in Georg Simmels Essay über "Das Abenteuer". Auch Anselm Haverkamps "Latenzzeit" exploriert solche unheimlichen, grenzverwischenden Zeit-Erlebnisse, die als Fremdkörper die Kontinuität unserer Existenz durchbrechen und dennoch mit deren Zentrum "irgendwie" verbunden sind. In diesem Band, der acht bereits veröffentlichte Aufsätze sammelt und mit einer kräftigen Einleitung und einem subjektiv-poetischen Epilog versieht, führt der international renommierte, in New York und "Frankfurt cis viadrum" lehrende Literaturwissenschaftler seine Untersuchungen zur Metaphorologie und "Memoria"-Problematik auf beeindruckende Weise weiter.

Wie im Vorläuferband "Figura Cryptica" versucht Haverkamp als einer der wichtigsten deutschen Wegbereiter der Dekonstruktion, eine "Theorie der literarischen Latenz" zu entwickeln. Dass es sich hier keinesfalls um ein geschlossenes, monolithisches, theoretisches Modell, sondern um einen dynamischen, reizende Denkbilder produzierenden Ab- und Umbau theoretischer Konstrukte handelt, begründete er schon in "Figura Cryptica" folgendermaßen: "Tatsächlich geben Splitter ein besseres Bild als die Systementwürfe, die zu entwerfen und verwerfen man nicht müde geworden ist". Der "Latenz"-Begriff fungiert in diesem Zusammenhang als eine permanent in neuen Sinnzusammenhängen auftretende "figure in deconstruction", die solcherweise zwar vielseitig operationalisierbar wird, zur gleichen Zeit aber zu einer vagen, poststrukturalistischen Schablone zu verkommen droht. Der semantische Nukleus des Konzepts kann aber folgendermaßen umrissen werden: Latenz, vom lateinischen latere - "verborgen, versteckt sein" - verweist auf das aus dem Verborgenen Drohende, ein nicht in Refiguration überführbares Defiguriertes, dessen verzögerte Wirkung die hermeneutische und auch (post-)historische Sehnsucht nach Klartext durchkreuzt. Entgegen der Evidenz- (oder Medien-)kultur und ihrem Wirklichkeitsbegriff redefiniert Haverkamp Kultur als "Umgang mit dem im Eigenen lauernden Anderen". Vor diesem Hintergrund plädiert er für eine Philologisierung der Kulturwissenschaften, d. h. einer Neuformulierung der kulturwissenschaftlichen Arbeit als einer Trassierung von "unter der Oberfläche des politisch, ideologisch oder kulturell Thematisierten liegenden Frakturen und Latenzen". Das zentrale Anliegen einer solchen neuen Philologie sei die archäologische Auslotung von so genannten "Sprachsituationen", d. h. der historisch bedingten "Ökonomie des Sagbaren und Unsagbaren, Wißbaren und Nicht-gut-nicht-Wißbaren, des Behaupteten und Verleugneten, die bis in die Grammatik der Äußerungsformen geht". Gerade diese Einsicht in die grammatisch-rhetorische Konditionierung von Texten resultiert in einem ihrer Materialität und Detailliertheit gerecht werdenden Lektüreverfahren, einer so genannten "Proto-Ethik" des Lesens. Wie Haverkamp klar und deutlich postuliert, wäre eine solche Philologie dezidiert posthermeneutisch und dekonstruktiv oder grammatologisch.

Da Latenzbeobachtungen aber "nur am Einzelfall nachvollziehbar" gemacht werden können, unterzieht Haverkamp in acht Essays einige Säulenheilige des Poststrukturalismus, wie de Man, Heidegger, Blumenberg, Benjamin, Kleist, Joyce u. a. eingehenden, intellektuell anstrengenden Lektüren. Der zentrale Gegenstand von Haverkamps äußerst komplexen und rigorosen Überlegungen wird durch den prägnanten Untertitel "Als der Krieg zuende war" angedeutet. Aus retrospektiv engagierter und selbstanalytischer, aber alles andere als moralistischer oder besserwisserischer Perspektive wird nämlich der Krieg als der blinde Fleck der sich in den 50er Jahren neu begründenden Kulturwissenschaften entdeckt, wobei man behalten sollte, dass Haverkamp eine eigensinnige Datierung der 50er Jahre von der "Gruppe 47" bis in die Vor-68er vornimmt. Trotz der in der "Stunde Null" proklamierten Neuanfänge wuchert die "Krypta" des Kriegs als Symptom unaufhebbarer Latenz fort: "Kulturwissenschaft ist eine Nachkriegswissenschaft in dem Sinne, daß die Rückfälligkeit in die Barbarei nicht so sehr ihr Gegenstand als ihre methodische Voraussetzung ist". Wie Kulturwissenschaft den Krieg "in sich" hat, exemplifiziert Haverkamp in einer Analyse des "provokativen" Verhältnisses zwischen Rezeptionsästhetik und Dekonstruktion, und mehr spezifisch zwischen den zwei, ihre braun gefärbte Vergangenheit zugleich vergegenwärtigenden als negierenden Lehrmeistern Haverkamps, Hans Robert Jauß und Paul de Man. Der entscheidende Konfliktpunkt zwischen beiden Richtungen situiert Haverkamp in dem rezeptionsästhetischen Glauben an die "halluzinatorische Natur der Verlebendigung", die aktualisierende Funktion der Rezeption, was aus dekonstruktiver Perspektive einem Rückfall in die Hermeneutik gleichkäme. Dagegen begründet die dekonstruktive Aufmerksamkeit für die mediale oder materielle Crux von Literatur und deren unstabilisierbare textuelle Bruchstellen "eine anagrammatische Ästhetik des literarischen Materials der Buchstaben und des Mediums der Schrift".

Gerade in dieser Hervorhebung der selbstthematisierenden Performativität der literarischen Sprache und der dadurch bewirkten unheimlichen Wiederkehr der von der Philosophie verdrängten Rhetorik liegt nach Haverkamp auch die vielfach unterschätzte aber grundlegende Bedeutung Heideggers für die Literaturwissenschaft. Sowohl im zweiten wie im dritten Kapitel zeigt Haverkamp jedoch - in Nachfolge von de Man -, wie das Doppel von "Blindness and Insight" Heidegger daran hindert, seine von Hölderlin inspirierte Einsicht in die (rhetorische) Kongenialität oder Gleichursprünglichkeit von Philosophie ("Denken") und Dichtung ("Andenken") in all ihrer Radikalität zu durchdenken. Erstens äußert sich diese partielle Blindheit in einer die gründliche "Ambiguität" der Texte neutralisierenden, unmittelbares Verstehen suggerierenden hermeneutischen Neigung. Zweitens wird die Heidegger-Kritik von Hans Blumenberg weiterentwickelt, dessen metaphorologische Schriften Haverkamp herausgegeben und schon ausführlich kommentiert hat. Blumenbergs logozentrismuskritische Bedenken richten sich vor allem gegen die mythisierende Dimension von Heideggers Seinsbegriff, die die so genannte "Unbegrifflichkeit" (Blumenberg) oder die Unsagbarkeit, die der Metaphorik zugrunde liegt, mit der "Selbstverbergung des Seins" zu verwechseln droht. Demgegenüber betont Haverkamp im Anschluss an Blumenberg die erkenntnispragmatische Funktion der Metaphorik, oder allgemeiner: der Rhetorik, als einer historisch dynamischen techné.

Diese wirklichkeits- und sinnlichkeitskonstituierende Funktion rhetorischer Figuren wird in dem Kapitel über das latente Weiterleben des Mittelalters in James Joyces Kunst des Portraits und dem über Alexander Gottlieb Baumgartens Begründung der Kulturwissenschaft im Lichte der Rhetorik erörtert. Anhand von Joyces Thomas-Rezeption illustriert Haverkamp, wie die "Epiphanie" in Joyces "Portrait of the Artist as a Young Man" "vom Thema 'Erscheinung' in die sprachliche Manifestation des In-Erscheinung-Tretens" umkippt. In einer gleichartigen Denkbewegung kritisiert Haverkamp die traditionelle "Rezeptionsverengung", die dem provokativen Gedankengut von Baumgarten, dem Begründer der Ästhetik als eigenständiger wissenschaftlicher Disziplin, widerfahren ist. Die Brisanz von Baumgartens Aufwertung der "sinnlichen Erkenntnis" liege nicht in einer vermeintlichen "Emanzipation der Sinnlichkeit" - wie eine sentimental-ästhetizistische Interpretation klingt -, sondern in dessen Einsicht in den "kontinuierlichen Grund" von Logik und Sinnlichkeit (oder Anschauung), d. h. deren gemeinsame rhetorische "Grund-Gelegtheit". Die Triebfeder der Ästhetik sei ein Interesse an der "Erkenntnis der Kunst - der Erkenntnis in und über Kunst", in dem Sinne, dass jene elementaren rhetorischen Tiefenstrukturen, jene figura cryptica, dem ästhetischen Gegenstand nicht nur zugrunde liegen, sondern auch von diesem selbstreflexiv inszeniert werden.

Wie literarische Texte ein selbstreflexives Bühnenspiel von Verhüllen und Enthüllen treiben, exemplifiziert Haverkamp anhand von Kleists oft als politisch unkorrekt oder rassistisch betrachteter Erzählung, "Die Verlobung in St. Domingo". Eine äußerst akribische Lektüre zeigt, wie Kleist gangbare Meinungen (re)inszeniert oder arrangiert und auf solche Weise "unter der Oberfläche des politisch, ideologisch oder kulturell Thematisierten liegende Frakturen und Latenzen" markiert und exponiert. Nach Haverkamp zwingen Kleists Texte uns, "zu erkennen und einzugestehen, was wir gar nicht umhinkommen zu wissen, aber uns nicht einzugestehen wagen", nämlich die aus dem Verborgenen drohende, kaum gebändigte Gewalt - ein Thema, dem Haverkamp aus der selben "politisch aktualisierenden" Perspektive in seinem Essay über Benjamins "Kritik der Gewalt" auf den "Grund" geht.

Diese Aktualitätsbezogenheit ist symptomatisch für Haverkamps unbestechlichen archäologischen Blick, für eine engagierte Intellektualität, die ihre Wahrheiten nicht auf pedantisch-besserwisserische Weise verkündigt, sondern die, wissend um ihre eigene Rhetorizität und Kontingenz, in der "Unsicherheit des Wissens" verweilt. Diese extreme Selbstinvestition zeigt sich auch in einer hyperreflexiven, manchmal hermetischen Schreibweise, die in ihrer Grenzverwischung zwischen Literatur und Theorie eine detailbewusste, manchmal aber überanstrengende Lektüre erfordert.

In Haverkamps Versuchen, die ihre Geister exorzierenden Geisteswissenschaften philologisch umzupolen, kommt auch eine schwindelerregende Erudition zum Vorschein. Einerseits wird diese wegen ihrer manchmal unrealistischen Voraussetzungen manche LeserInnen bestürzt und frustriert zurücklassen. Andererseits macht sie aber Haverkamps Texte gewissermaßen zu "gelehrte[n] Schatzhäuser[n]", "Bücher[n] eines einzigartig Belesenen", wie Eckhard Nordhofen einmal die Schriften eines von Haverkamps Lehrmeistern, Hans Blumenberg, umschrieb. Auch Haverkamps Theorien sind diskontinuierlich oder unsystematisch, aber vielleicht liegt gerade in dieser Anagrammatik ein neues oder eher aus der Latenz hervorbrechendes "Leitbild der Freiheit", nämlich das der "Parrhesie", der Redefreiheit.


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Anselm Haverkamp: Latenzzeit. Wissen im Nachkrieg.
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2004.
222 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3931659615

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