Abschied von der Weltrevolution

Erasmus Schöfer lässt in seinem Roman "Sonnenflucht" die Strategiedebatten der 70er wieder aufleben

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nein, leicht macht es Erasmus Schöfer seinen Lesern gewiss nicht: Zunächst einmal ist der vorliegende Roman "Sonnenflucht" der dritte Band einer groß angelegten Tetralogie, die sich nichts weniger vorgenommen hat, als unter dem programmatischen Gesamttitel "Die Kinder des Sisyfos" die wechselvolle Geschichte der Linken zwischen den Jahren 1968 und 1989 literarisch aufzuarbeiten. Womit also einiges an (Vor-) Kenntnissen vorausgesetzt wird. Sodann wird das Geschehen in "Sonnenflucht", eigentlich die überarbeitete Fassung des bereits 1986 erschienenen Romans "Tod in Athen", aus der Perspektive von drei Personen erzählt. Der Wechsel wird zwar durch die Sprechernamen angezeigt, aber nur selten leitet ein hilfreicher Erzählerkommentar durch die verschlungenen Gedankengänge der Protagonisten, sodass die Handlungsstränge erst gegen Ende einigermaßen synchron laufen. Schöfer setzt also ganz auf den Spürsinn und die Ausdauer seiner Leserschaft sowie auf die Kraft seiner Sprache. Das anspruchsvolle Unternehmen bleibt indes, anders als das des titelgebenden "Sisyfos", nicht ohne Erfolg.

Dreh- und Angelpunkt des Ganzen ist der Tod einer jungen Frau anlässlich einer Demonstration vor einem Fabrikgelände in Athen. Über das kurze Leben der griechischen Studentin berichtet nun deren Freundin dem im Zuge des berüchtigten Radikalenerlasses aus dem Schuldienst entfernten Victor Bliss, den wir bereits aus den vorangegangenen Romanen kennen. Bliss hat sich auf eine Ägäisinsel zurückgezogen, wo ihn sein Düsseldorfer Freund, der Betriebsrat Manfred Anklam, im Sommer 1980 aufspürt, um ihn nach Deutschland zurückzuholen. Doch kurz vor dem Abflug zögert Bliss, hat er sich doch intensiv mit der Nachkriegsgeschichte Griechenlands beschäftigt und dem Kampf um die Demokratie im Lande. Weil er an einer Art alternativem Reiseführer arbeitet, sind die Todesumstände des Mädchens für Bliss von besonderem Interesse. Am Ende des auf drei Tage konzentrierten Geschehens ist Bliss selbst ein Opfer der politischen Verhältnisse geworden. Denn beim Versuch, den Einwohnern eines Armenviertels beim Löschen von absichtlich gelegten Bränden zu helfen, zieht er sich lebensbedrohliche Verletzungen zu.

Obwohl in Griechenland spielend und in deutlichem Kontrast zum gängigen Touristenbild thematisiert der Roman in seinen zentralen Diskussionen die Bewusstseinslage der Linken nach dem so genannten 'Deutschen Herbst', der die bleiernen 70er Jahre beendete. Bliss, der Historiker, besteht darauf, dass vor allem die vielen Opfer, die das Projekt einer sozialistischen Gesellschaft bereits gekostet hat, dazu nötigen, weiterhin daran festzuhalten. Anklams Hinweise auf die Verheerungen des "real existierenden Sozialismus" im zweiten deutschen Staat kontert Bliss mit partisanenromantischen Reminiszenzen à la Hemingway. Gegenüber dem weit gespannten Idealismus seines Freundes ("Das Private ist das Politische") reduzieren sich für den Gewerkschafter alle Probleme auf eine anstehende Betriebsversammlung, die über einen Streik entscheiden soll und an der er wegen seiner Griechenlandreise nun nicht teilnehmen kann. Während jedoch Bliss wegen zahlreicher Widersprüche in eine depressive Stimmung verfällt, pflegt Anklam mit zwei deutschen Touristinnen, die sie in der Plaka kennen lernen, einen eher fröhlichen Hedonismus. Am Ende allerdings stehen beide vor einem Scherbenhaufen.

Schöfer hat die Strategiedebatten jener Jahre, als man sich von der Weltrevolution und auch vom Einsatz für die dritte Welt zu verabschieden begann, um sich in endlosen Selbstverwirklichungsdebatten zu erschöpfen, teils mit originalen Tönen, teils mit einer originellen expressiven Sprache, die sich über bestehende Normen hinwegsetzt, wiedergegeben. Mit feinem Humor dekonstruiert er die Stereotypen einer Zeit, in der Schlagwörter alles waren. Was indes über lange Strecken wie ein antiquarisches Unternehmen wirkt, das auf Wiedererkennenseffekte setzt, wird angesichts einer dringend notwendigen Neuorientierung der Linken zu einem durchaus aktuellen Beitrag. Denn die Herausforderungen der Globalisierung einerseits und einer zunehmenden Politikverdrossenheit andererseits lassen sich nur bewältigen, wenn man sich an die Mühen längst durchschrittener Ebenen erinnert sowie an jene Positionen und Höhen, die man bereits einmal erreicht hat und die es nun gegen Abstürze und Rückschritte zu verteidigen gilt.


Titelbild

Erasmus Schöfer: Sonnenflucht. Die Kinder des Sisyfos. Roman.
Dittrich Verlag, Köln 2005.
349 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3937717161

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