Ausweitung der Analysezone

Henk de Berg und Walter Schönau führen in die psychoanalytische Literatur- und Kulturwissenschaft ein

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wir sind Ärzte und wollen Ärzte bleiben", beharrte Freud einst gegenüber Otto Gross. Freuds genialischer Schüler hatte noch vor dem Ersten Weltkrieg dafür plädiert, mit der Psychoanalyse nicht immer nur einzelne Neurotiker und Hysterikerinnen zu heilen, sondern gleich die ganze kranke und krank machende Gesellschaft. Es dauerte, bis Freud es wagte, mit seiner jungen Wissenschaft auch offensiv Gesellschaftsdiagnose und -kritik zu betreiben und "Das Unbehagen in der Kultur" zu analysieren. Bis heute steht das Konzept einer Psychoanalyse als Kultur- und Gesellschaftswissenschaft im Schatten ihrer psychotherapeutischen Anwendung, mit der sie den einzelnen Kranken wieder liebes-, genuss- und arbeitsfähig zu machen versucht.

Es ist daher sympathisch, wenn einmal wieder versucht wird, an diese anderen Anwendungsmöglichkeiten von Freuds Theorie zu erinnern. Dies ist das ehrgeizige Ziel einer schmalen Einführung von Henk de Berg mit dem Titel "Freuds Psychoanalyse in der Literatur- und Kulturwissenschaft", die im englischen Original im Jahr 2003 erschienen ist. "Als eine solche kritische Gesellschaftstheorie", schreibt der Professor für Germanistik an der University of Sheffield richtig, "ist die Psychoanalyse weitaus unbequemer denn als Disziplin der wissenschaftlichen Medizin. Im Rahmen ihrer medizinischen Funktion konzentriert sich die Psychoanalyse auf abnormale Verhaltensweisen - die unbewussten Impulse, denen sie nachspürt, sind Kennzeichen eines abnormalen Geisteszustands. Doch als Gesellschaftskritik beschäftigt sie sich mit normalem Verhalten - die unbewussten Impulse, die hierbei offen gelegt werden, betreffen jeden von uns."

Was dies bedeutet, macht de Berg auf schlagende Weise am Beispiel des belgischen Pädophilen Dutroux sinnfällig. Eine ausschließlich medizinisch orientierte Psychoanalyse vermag in Dutroux nur einen mehr oder minder interessanten Fall zu erkennen, der das "Andere" der Gesellschaft repräsentiert, vor dem man sie schützen muss. Aus der Perspektive einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Psychoanalyse allerdings wird der beruhigende Gegensatz zwischen dem Pädophilen und der Gesellschaft rasch fragwürdig. Sie könnte den ganzen gesellschaftlichen Kontext miteinbeziehen und würde beispielsweise fragen, ob das enorme Medieninteresse an dem Fall sowie die Dämonisierung Dutroux' nicht Symptome dafür sind, dass hier ein im Unbewussten vielleicht gar nicht so seltenes Begehren, mit dem man durch Dutroux' Verbrechen konfrontiert wird, durch Reaktionenbildung abgewehrt werden soll. Für de Berg verbinden sich in den extrem emotionalen Reaktionen auf den Fall "die heftigste Ablehnung mit einer Vorliebe für das anschauliche Detail, moralische Entrüstung mit unstillbarer Neugierde sowie Abscheu mit aktivem Engagement [...] Es handelt sich um das Ergebnis einer unbewussten Strategie, mit deren Hilfe eine Mischung aus Abscheu und Faszination in reinen Abscheu verwandelt werden soll."

Auch an anderer Stelle überzeugt de Berg, wenn er Freuds Theorie auf aktuelle Beispiele anwendet. So erklärt der englische Germanist aus den Implikationen von Freuds dreiteiligem Modell der Psyche, dem Zusammenspiel von Es, Ich und Über-Ich, plausibel die Handlungsweise von Terroristen. Der Gegensatz von Über-Ich und Es entspricht eben durchaus nicht dem von Gut und Böse, vielmehr werden gerade Terroristen, Revolutionäre und Fanatiker aller Couleur von einem dominanten Über-Ich angetrieben. "Vor diesem Hintergrund", betont de Berg, "wird nicht nur deutlich, inwiefern moralisch gutes Handeln psychologisch schlecht sein (und wiederum in moralisch schlechtes Handeln wie etwa Terrorismus münden) kann, sondern auch, inwiefern moralisch schlechtes Handeln psychologisch gut sein kann."

Insgesamt bleiben solche erhellenden Schlaglichter auf aktuelle Fragen in de Bergs Einführung jedoch die Ausnahme. Sein Abriss der psychoanalytischen Theorie ist gut lesbar und solide, beschränkt sich jedoch allein auf die Darstellung Freud`scher Theoreme. Spätere Theorieentwicklungen bleiben gänzlich unberücksichtigt, ebenso die Theorien C. G. Jungs oder Alfred Adlers, wobei de Bergs Begründung für diese Beschränkung freilich einiges für sich hat: "Es hat wenig Sinn, zu laufen zu versuchen, bevor man Gehen gelernt hat". Dass gerade der zweite Teil der Einführung, der der psychoanalytischen Literaturwissenschaft gewidmet ist, der schwächste ist, scheint allerdings an dieser Einschränkung zu liegen. Freuds eigene Ausflüge in den Bereich der Kunstinterpretation gehören nicht gerade zu den originellsten und innovativsten Teilen seines Werks - wie anregend auch immer die Gedanken und Theoreme seiner Hauptwerke für die Autoren der literarischen Moderne gewesen sein mögen. De Berg scheint dieses Defizit selbst bemerkt zu haben, rekurriert er doch mit einem Mal zumindest punktuell auf Namen wie Walter Schönau, Bruno Bettelheim oder Peter von Matt. Doch reichen allein schon die gewählten Beispiele (Shakespeares "Hamlet", Heines "Loreley" sowie die Märchen "Der Fischer und der Dämon" und "Schneewittchen"; also kein einziges aus der literarischen Moderne oder der Gegenwartsliteratur) nicht aus, um die Möglichkeiten der psychoanalytischen Literaturinterpretation wirklich deutlich werden zu lassen.

Wer diese kennen lernen möchte, ist weiterhin auf Walter Schönaus "Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft" angewiesen, die im Jahr 2003, mit einer aktualisierten Bibliografie von Joachim Pfeiffer und einem neuen Kapitel zur psychoanalytischen Filmtheorie, in einer zweiten Auflage erschienen ist. Diese Einführung ist zwar im Vergleich zu de Berg recht spröde zu lesen, gibt jedoch einen umfassenden Überblick über alle psychoanalytischen Konzepte und nach-freudschen Entwicklungen im Bereich der Analyse von Produktion, Rezeption und Interpretation literarischer Werke. Einen Aspekt ignoriert freilich Schönaus Einführung auch in ihrer Neuauflage ebenso wie die de Bergs: nämlich das noch immer ungeklärte Problem der Bedeutung psychoanalytischen Wissens von Autoren seit der literarischen Moderne für die psychoanalytische Deutung ihrer Werke.


Titelbild

Walter Schönau / Joachim Pfeiffer: Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2003.
225 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-10: 347612259X

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Henk de Berg: Freuds Psychoanalyse in der Literatur- und Kulturwissenschaft. Eine Einführung.
Übersetzt aus dem Englischen von Stephan Dietrich.
Francke Verlag, Tübingen 2005.
182 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3825226611

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