Fabulieren mit den Sprachen und Farben der Nachbarn

Das Mittelstück von Eginald Schlattners Siebenbürgischer Trilogie

Von Ute EisingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ute Eisinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der dritte Band von Schlattners Siebenbürger Biografie füllt die Lücke, die der Autor zwischen den Kindheitserinnerungen aus Fogorasch ("Der geköpfte Hahn") und den Erfahrungen des jungen Mannes mit dem rumänischen Geheimdienst ("Die roten Handschuhe") gelassen hat. Es wird darin die Zeitspanne zwischen zwei für die deutschsprachigen Staatsbürger Rumäniens fatalen Daten - 23. August 1944 und dem Sommer 1951 - erzählt.

Wer nun heimatkundliche Memoiren aus einer tragischen Familiengeschichte erwartet, liegt bei "Das Klavier im Nebel" falsch: Zum artigen Erzählen ist der elegante Pastor aus Rothberg in Siebenbürgen, der seine Besucher zu Kutschenfahrten durch verlassene Dörfer einzuladen pflegt und unter Zigeunerkindern und Gefängnisinsassen bekannt ist wie ein bunter Hund, viel zu sehr Literat als Chronist, viel mehr Dichter als Realist - eben ein deutsch fabelnder Mensch des Südostens wie Celan und Canetti, Herta Müller, Oskar Pastior und Dimitré Dinev.

"Das Klavier im Nebel" hat den 16- bis 21-jährigen Clemens zum Protagonisten, der durch die sowjetische Machtübernahme in Rumänien am 23. August 1944 schlagartig auf sich allein gestellt ist. Der Vater, vormals Fabrikbesitzer, konnte sich zwar der Verschickung nach Sibirien entziehen, landet aber im Gefängnis. Die Mutter, am Schwarzen Meer in einer Fischfabrik untergekommen, macht der Sohn ausfindig - wenn er auch kein Bedürfnis verspürt, sich ihr zu zeigen. Vielmehr sieht sich der Bursche von seinen Eltern wie dem ganzen bürgerlichen Stand innerhalb der Siebenbürger Sachsen im Stich gelassen, ja unter denen, mit denen er Muttersprache und Kulturgeschichte teilt, zum Außenseiter gemacht. Clemens tut sich schwer damit, Landsleuten in die Augen zu schauen, deren Angehörige aufgrund der nationalen Zugehörigkeit in sibirische Straflager mussten, während die Seinen sich der Sanktion entziehen konnten. Anders die Großmutter: Nach Delogierung aus der Familienvilla kommt die einst vornehme Dame im Haushalt einer ehemaligen Angestellten unter und bewahrt ihre Noblesse selbst in schlimmen Zeiten. Am Schäßburger Platz vor der Klosterkirche hält sie, zusammen mit dem Zigeuner-Bulibasch, pünktlich zum Fünf-Uhr-Tee Hof; eine Szenerie, die Schlattner grell lebendig wie Fellini- oder Kusturica-Kino schildert.

Der junge Mann, von allem entwurzelt, was er für angestammt gehalten hat, schlägt fürs Erste einen Biwak neben einem Kukuruzacker auf. Eine alte Schulfreundin, Vertreterin des sächsischen Proletariats, das sich den neuen Umständen anzupassen vermag, und ein rumänischer Hirte, für Clemens ein Wesen wie von einem anderen Stern, bewahren ihn vor dem Verhungern. Diese beiden und alle anderen Figuren sind bei Schlattner nicht (nur) dem autobiografischen Fundus entnommen. Vielmehr sollte man "Das Klavier im Nebel" wie "Doktor Schiwago" verstehen: Clemens irrt anhand wechselhafter menschlicher Begegnungen durch sein Land, auf der Suche nach seiner Bestimmung. Da er jung ist, spielt in diesem Prozess das Verlieben natürlich eine wichtige Rolle, und so gibt es für jede Stufe von Clemens' Orientierung eine Angebetete bzw. mehrere junge Frauen, zwischen denen er entscheiden muss: die sächsische Konditorstochter Isabella, mit der er Klavier spielt, oder Petra aus der engen Küchenwohnung in der Unterstadt. Beide hat Clemens noch aus der Alten Zeit. Bekanntschaften aus der Neuen Zeit sind Carmencita, das Zigeunermädchen, das dem Ex-Gymnasiasten nach der Arbeit im Ziegelofen die aufgesprungenen Hände verbindet und später seinen Sohn nach ihm nennen wird. Schließlich Rodica, mit der Clemens zwar den Stand - Herkunft aus einem Bürgerhaus am Schäßburger Hauptplatz -, nicht aber Nationalität und Konfession gemein hat. Rodica ist nämlich Rumänin orthodoxer Konfession und spricht das Deutsch der Hermannstädter Ursulinerinnen nur bis an die Schwelle ihrer Verwandten, bei denen die zwei, von Gründonnerstag bis zum Sommer ein Paar, auf der Reise ans Schwarze Meer Zuflucht suchen müssen. Rodica vereint bürgerliches Klavierspiel und Stallwärme, denn sie ist Pianistin für die Milchkühe der neuen Staatsfarm.

Alles Rumänische ist für Clemens eine unbekannte Welt, wie auch er in Bukarest ein Exot ist - so sehr, dass er sich ohne Freundin in der fremden Stadt fürchtet. Doch Clemens' rumänische Etappe im Selbstfindungsversuch, verkörpert von eben jener Rodica, hat auch ein Ende: Der junge Mann findet wieder in seine Kreise zurück, landet in einem sächsischen Dorf, wo Isabella als Lehrerin untergekommen ist - doch besteht er die Probe nicht, auf die sie ihn stellt, wenngleich seine zweifelhafte Rolle als Fluchthelfer für einen aufrührerischen Landsmann ihm selbst undurchschaubar bleibt.

Bei aller literargestischen Eleganz Schlattners steckt die ereignisreiche Lebensgeschichte eines Gebeutelten auch noch in einem großräumig ausholenden Erzählrahmen: Bevor die Chronologie der Geschehnisse einsetzt, befindet sich Clemens auf einer nächtlichen Bahnfahrt zu Banater Verwandten. Auf Besuch bei diesen wird schließlich die Reise, von der das Buch handelt, zu einem (gewaltsamen) Ende kommen. Freilich nicht ohne zwei weitere Liebesabenteuer, denn die Kusine Kunigunde hat es auf Clemens abgesehen. Zum ersten Mal erweist sich da Clemens' Gegenspieler Norbert Felix, ein anderer Verwandter, als Retter; denn bislang hat dieser Kerl, der in der Familie wegen seiner Vorliebe für Mathematik, dem Beharren auf einer Pfarrerslaufbahn und dem Wunsch, Gefängnisseelsorger zu werden, als Spinner gilt, Clemens immer ins Handwerk gepfuscht, wenn es um Eroberungen ging. Immer schien er dem Protagonisten schon zuvorgekommen zu sein und taucht selbst an abgelegenen Orten in einer Badehose der extravaganten Farbe Lila auf, die eigentlich Zigeunern und Rodicas Nagellack vorbehalten sein sollte. (Leser des "Geköpften Hahns" werden diesen Schatten des Helden als Nachfolger der Brüder Kurtfelix und Mathematik-Felix verstehen, welche die anderen Berufe des Autors Schlattner abdecken.)

Nun scheint Clemens im Sommer 1951 endlich bei der richtigen Braut und am richtigen Ort angekommen: Sie heißt Anna-Maria und lebt mit ihrer Tante, einer katholischen Nonne, als Flüchtling in dem Banater Dorf, das Clemens wie eine Utopie des Zusammenlebens zwischen den verschiedenen Kulturen und Konfessionen Rumäniens erscheint. Anna-Maria ist sich der Verbindung so sicher, dass sie Clemens keine Aufmerksamkeit zu zeigen braucht, sie besitzt das geheime Zeichen, das ihm einst von einem Schwanenpaar verheißen wurde, in Form eines Blechrings, und nichts steht der Liebe mehr im Weg. Da schlägt das Schicksal zu: Weil die Unruhen an der Grenze zu Tito-Serbien zunehmen, wird das Feste feiernde Dorf Gnadenflor aufgelöst, die Bauern, nachdem sie ihr Vieh töten müssen, nach Nationen getrennt in Waggons verladen, und weil Clemens noch weniger dazugehört als seine Anna-Maria, wird er am Bahnsteig zurückgelassen wie die verschreckten Hühner, die Toten, die Geistlichen der verschiedenen Konfessionen und das einsame Klavier. Der Showdown des Buches ist fulminant, eine Sinfonie aus Zigeunermusik in den Nationalfarben bestickter Blusen, die den magischen Realismus eines García Márquez für die Donauländer neu erfindet. Und nicht nur für diese Liebe zum Erzählen und den Mut zum Gestalten sollte man Eginald Schlattner danken, sondern auch für die reichhaltige Sprache, in der er das tut. In ihr können Ausdrücke wieder gehört oder kennen gelernt werden, die das Deutsche der Sachsen, Bayern und Oberösterreicher enthält oder von ungarischen und rumänischen Anrainern borgen muss: Schlattners Siebenbürger Deutsch ist die Sprache einer langen Konzentration, die keine Spreu enthält und in den eineinhalbtausend Seiten seiner Romane nirgends Gefahr läuft, verspielt dahinzuklimpern oder nichts sagend zu plappern - vielmehr klingt hier das im Vergleich mit den Lauten, Redensarten und Denkbildern der Anderen geprägte, lebenspralle Idiom des Fabulierens und Dichtens.


Titelbild

Eginald Schlattner: Das Klavier im Nebel. Roman.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2005.
521 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3552053522

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch