Psychopoetik und Psychopathologie

Maike Heinrich untersucht die "Erinnerung in der Wiener Moderne" am Beispiel von Hofmannsthal und Schnitzler

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von der österreichischen Literaturwissenschaftlerin Konstanze Fliedl stammt die Einsicht: "Die Krise der Moderne ist [...] vor allem anderen, eine Krise der Erinnerung." Die Beschleunigung der Modernisierungsprozesse um 1900 ließ die überkommenen Gewissheiten der Vätergeneration erodieren und tradierte Identitätskonzepte unbrauchbar werden. Der verzweifelte, von Trauer und Melancholie gespeiste Blick zurück - gerade der sensibleren Zeitgenossen - fand nur noch Ungewissheiten vor und wendete sich schließlich, zumal in Wien, der damaligen Modekrankheit der Hysterie zu, um sie als Signum der Epoche literarisch produktiv zu machen. Die 1895 erschienenen, spätestens seit 1902 in Literatenkreisen populär gewordenen "Studien über Hysterie" der Nervenärzte Josef Breuer und Sigmund Freud erwiesen sich dabei als ungemein anregend, leidet doch der Hysterische, Freud zufolge, "größtenteils an Reminiszenzen".

So lautet der Ausgangspunkt einer jetzt als Buch erschienenen Berliner Magisterarbeit von Maike Heinrich über die "Erinnerung in der Wiener Moderne". Am Beispiel von Hofmannsthals "Elektra" und Schnitzlers "Fräulein Else" und im Rekurs auf Thesen und Erkenntnisse vor allem von Jan Assmann, Elisabeth Bronfen, Judith Butler und Michael Worbs untersucht die Kulturwissenschaftlerin, mit welchen literarischen Strategien die Erinnerungskrise von den beiden österreichischen Autoren thematisiert wird. Dem selbst gesteckten Ziel entsprechend, sich ganz auf "die Gestaltung des reflexiven Gegenstandes in den Werken" zu konzentrieren und dabei formal-ästhetische Aspekte tendenziell auszublenden, macht Heinrichs Arbeit auf konzise Weise deutlich, auf welche Art das Zusammenspiel von Hysterie, Trauer und Erinnerung für beide Werke konstitutiv ist. In "Elektra" beispielsweise repräsentieren die drei weiblichen Figuren verschiedene Möglichkeiten, mit der Vergangenheit umzugehen, sie etwa zu verdrängen und zu vergessen, oder, und sei es unter Aufgabe der eigenen Lebensfähigkeit und den Preis der Hysterie, mit aller Kraft an ihr und damit der eigenen Identität festzuhalten.

Ein Vorzug der vorliegenden Arbeit ist, dass sie sich nicht nur auf die Gemeinsamkeiten der untersuchten Autoren konzentriert, sondern auch die ästhetischen Differenzen zwischen Hofmannsthals und Schnitzlers Strategien der Verarbeitung des Erinnerungsthemas beleuchtet.

Im Gegensatz zu dem etwas vollmundigen Titel der Arbeit fällt das Ergebnis jedoch bescheiden aus. Während für Hofmannsthal eine "Psychopathologie der Erinnerung" konstatiert wird, da dieser Autor vor allem pathologische Formen des Erinnerns darstellt, sei für Schnitzler eine "Psychopoetik der Erinnerung" charakteristisch, formal-ästhetisch umgesetzt in Form eines Bewusstseinsstroms: "Dahingehend, dass die Vergangenheit für den Menschen bedeutsam ist und die Erinnerung eine gewisse Macht über ihn ausübt, stimmen Schnitzler und Hofmannsthal miteinander überein. Beide divergieren voneinander in der formalen Behandlung und der Betrachtungsweise von Erinnerung und Vergangenheit. Hofmannsthal thematisiert den Umgang und die Art des Erinnerns und Vergessens, indem er gemäß des antiken Stoffes seine Figuren symbolisch besetzt, während Schnitzler den zeitgenössischen Kriterien zufolge zum inneren Monolog und dem Bewusstseinsstrom greift, die es ihm ermöglichen, die verschiedenen Mechanismen des Erinnerns und deren Ineinandergreifen mit den Funktionen des Bewusstseins zu beleuchten."

Ein freilich nicht überraschendes Ergebnis, das der bescheidenden Materialbasis geschuldet ist; einem Stück aus dem Jahr 1904 und einer 1924 erschienenen Novelle. Selbst wenn man die Konstanz der Themen und Motive im Werk Schnitzlers in Rechnung stellt: wäre es nicht sinnvoller gewesen, ein geeignetes Stück aus dessen Frühwerk auszuwählen, etwa den "Anatol"? Und zumindest Seitenblicke auf die Werke weiterer zeitgenössischer Autoren zu werfen?


Titelbild

Maike Heinrich: Erinnerung in der Wiener Moderne. Psychopoetik und Psychopathologie.
Martin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung, München 2005.
102 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3899755227

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