Nur weg von hier

Thomas Bauer hat Texte über das ganze Unglück des Menschen gesammelt, das angeblich darin besteht, dass er nicht ruhig in einem Zimmer bleiben kann

Von Jürgen RöhlingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Röhling

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit die Menschen sesshaft wurden, wollen sie ihrer Sesshaftigkeit entkommen. Sie wollen eben nicht still in ihrem Zimmer sitzen bleiben (für den Philosophen Blaise Pascal lag in dieser Unfähigkeit das ganze Unglück der Menschheit), sondern sie reisen. Und wer kennt das nicht: Zu lange an einem Ort zu hocken ist entsetzlich. Der Langeweile zu Hause will, ja muss der Mensch entgehen. Er verschafft sich eine andere Umgebung, er sucht andere Reize. Er will sehen, hören, riechen, im äußersten Falle auch: kennen lernen. Der Reisende kann Eskapist sein, Flaneur oder Menschensucher. Er sucht das Fremde und findet eine Spiegelung des Eigenen. Er sucht sich selbst und findet Fremde. Er sucht die Fremde und erinnert sich an die Heimat. Er will Neues sehen oder das Alte loswerden, ist neugierig oder überdrüssig oder beides. Reisen ist die Sehnsucht nach der besseren Welt. Reisen heißt, Strapazen auf sich nehmen, um am Ende doch wieder auf sich selbst zu treffen. Warum reisen wir? Weil wir nicht anders können.

Hier ist natürlich nicht vom vierzehntägigen Badeurlaub am Mittelmeer (nichts gegen das Mittelmeer) oder vom All-inclusive in der Karibik die Rede, sondern vom Reisen an unbekannte Orte (wenn es die noch gibt), vom Reisen mit offenen Augen, vom sehenden, wahrnehmenden Unterwegssein, vom Abenteuer.

Das wir uns meistens verkneifen müssen, weil wir keine Zeit oder kein Geld oder weder noch haben. Dann lesen wir eben Reiseliteratur. Die gibt es seit der Antike - Odysseus ist bis heute einer der bekanntesten Reisenden. Schreiben über das Reisen ist für Schriftsteller wie Leser gleichermaßen anregend. Beide wollen nur eins: Weg von hier - wenn man liest, kann man das auch, ohne sein Zimmer zu verlassen.

Sein Motto hat Thomas Bauers Band von Kafka geborgt, dem begeisterten Reisenden: "'Weg-von-hier', das ist mein Ziel.", heißt es in "Der Aufbruch". Das Buch bricht in die verschiedensten Welten auf, in die Reisewelten von fünfzehn Autoren. So unterschiedlich wie die Reisen sind auch die Texte geworden. Juli Zeh, um mit einer der prominentesten Autorinnen anzufangen, berichtet von einem Kurztrip nach Krakau, der in rauschhafter Zeit- und Ortlosigkeit mündet: "Die Armbanduhren zeigten sechs Uhr, aber morgens oder abends, und welcher Tag?", so bricht zuerst die Orientierung zusammen und dann auch noch das Auto (das dankenswerterweise nicht dem running gag deutscher Polenreisen zum Opfer fällt und geklaut wird). "Krakau, das war etwas ohne Ort und Zeit, schön, wie nur Dinge es sind, die man nicht klar erkennt, angefüllt von einer Sprache, die Musik wurde, weil man sie nicht verstand." So muss reisen sein. Natürlich kommt die Erzählerin zurück, diesmal bleibt sie lange, lernt "Lichtbrechung" und "Es ist, wie es ist" und "Hauptsache, wir sind zusammen" auf Polnisch, denn sie hat sich verliebt (in die Stadt? die Sprache? das Land? in "R.", mit dem sie "in Sünde zusammenlebt"?), schreibt einen Roman und fährt zurück. Ein herrlicher Text, der nur sieben Seiten braucht.

Andere sind länger. Bernhard Lassahn fährt zu "den glücklichen Bimbos", da findet er das Paradies, in dem es Schilder gegen aufdringliche Verkäufer mit der Aufschrift "Want nothing" gibt, die wiederum von noch aufdringlicheren Verkäufern angepriesen werden. Gegenpol zu dieser satirischen Frechheit ist Ansgar Walks Reise "Im Land der Inuit", da ist es kalt und fremd. Leider gilt dies auch für seinen trockenen Text, das Eis schmilzt nicht. Thomas Bauers, des Herausgebers, eigener Beitrag über Equador ("Der Name leitet sich tatsächlich vom Äquator ab") ist lebhaft und offenen Auges geschrieben, kann aber nie seine Nähe zur konventionellen Reisereportage verleugnen. Zu essen gibt es Meerschweinchen, doch darauf lässt sich der Autor lieber nicht ein, damit ihm auch klar werden kann, dass er sich in das Land verliebt hat. Allerdings merkt er das erst auf der Rückreise.

"Zwischen den Orten" vereint eine große Bandbreite von Texten. Sie handeln von Südafrika, Sofia, Sansibar oder Sevilla, nie aber von Mallorca oder Westerland. Um "echtes Reisen", erläutert der Herausgeber, soll es gehen, um den Vergleich des Neuen mit dem Bekannten und um das Kennenlernen seiner selbst. Ganz schön viele Ansprüche stellt sich dieses Buch, und es kann viele, aber längst nicht alle Wünsche erfüllen. Reisebanalitäten werden nicht vermieden (Kotzen auf einer Mittelmeer-Fährüberfahrt - nicht wirklich ein Moment metaphysischen Erkennens), andere wollen echte Fremdheit vermitteln und erfahrbar machen. Michael Krüger hat einige eher durchschnittliche Gedichte auf die Reise in das Buch geschickt (wo seine Prosa doch so witzig sein kann). Alles in allem schwankt die Qualität der versammelten Texte wie ein Kahn auf offener See: mögliche Ergebnisse von VHS-Kreativschreibkursen finden sich ebenso wie echte Perlen. Wie bei einer gelungenen Reise entdeckt man so Manches, nicht jeder Ausflug ist gelungen, aber am Ende ist man, Pascal kann sich freuen, still in seinem Zimmer sitzengeblieben und hat doch allerhand erlebt.


Titelbild

Thomas Bauer (Hg.): Zwischen den Orten. 15 Autoren schreiben über das Reisen.
Wiesenburg Verlag, Schweinfurt 2003.
203 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-10: 3932497880

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