Der Vater und sein verlorener Sohn

Freud und Ferenczi: Zum Abschluss der Briefedition

Von Ludger LütkehausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ludger Lütkehaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Briefwechsel zwischen Sigmund Freud und dem ungarischen Psychoanalytiker Sándor Ferenczi ist das umfangreichste Briefdokument aus der Geschichte der Psychoanalyse, neben dem Briefwechsel mit Wilhelm Fließ wahrscheinlich auch das aufschlussreichste. Die Korrespondenz erstreckt sich über ein Vierteljahrhundert, von 1908 bis zu Ferenczis Tod im Mai 1933 - jene Epoche also, in der sich die Psychoanalyse etabliert und zugleich durch eine Serie von Sezessionen, die stets mit dem Bruch der persönlichen Beziehungen einhergehen, in eine Dauerkrise gerät.

Keine andere große wissenschaftliche Innovation ist so von inneren Krisen geschüttelt worden wie sie. Der Fels, auf den Freud seine Kirche gründete, wurde jedesmal in seinen Grundfesten erschüttert, wenn Freud der Dissidenz anderer Personen entgegentrat - so sehr er selbst mit ebenso großer Beweglichkeit wie Radikalität seine Lehre immer wieder revidierte: "Nemo contra Deum nisi Deus ipse" - "Nur Gott selber darf sich in Frage stellen". Der Bruch zwischen Freud und Ferenczi aber war der vielleicht schmerzhafteste: weil die Freundschaft so innig gewesen war, mehr noch, weil in Ferenczis Abweichungen Freuds eigene frühe Geschichte wiederkehrte, die er ein für alle Mal für erledigt hielt.

Auch die Edition des Briefwechsels hat inzwischen eine Art von Geschichte. Zwischen dem vierten und dem fünften Band, erschienen 1996 und 2003, lag eine Latenzzeit von sieben Jahren- aus Gründen, über die man mangels Information nur spekulieren kann. Jetzt, immerhin, wird die aufwendige Edition, zwölf Jahre nach ihrem Beginn, mit dem sechsten Band, der die krisenhaft zugespitzten Jahre 1925 bis 1933 umfasst, erfolgreich zum Abschluss gebracht. Die Arbeit der Herausgeber ist immer besser geworden: Aus den editorischen Mängeln der beiden ersten Bände hat man gelernt. Die Einleitungen freilich sind sehr unterschiedlich im Niveau geblieben. Beim jetzigen letzten Band wird der Wert der Einleitung von André Haynal durch stilistische Marotten gemindert. Der Verfasser liebt etwa die rhetorischen Fragen im Übermaß. Wenn man, analog zum "schwachen Denken", eine weiche Theorie formulieren will, kann man das überzeugender mit anderen Mitteln tun.

Diese Marotte kontrastiert zudem auf das Heftigste mit der rigorosen Bestimmtheit, die die Briefe Freuds prägt. Ferenczi war seit 1908 mit dem siebzehn Jahre älteren Freud befreundet. Alsbald hatte sich nach Freuds Worten eine "innige Lebens-, Gefühls- und Interessengemeinschaft" entwickelt. Man reiste miteinander. Man analysierte einander - im krassen Widerspruch zu den Grundregeln analytischer Therapie. Man gab oder empfing privatesten Rat in Liebesdingen. Institutionell gesehen, gehörte Ferenczi schon früh zu Freuds Paladinen, 1910 als Gründer der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, vollends seit der Gründung des "Geheimen Komitees" 1912, was ihm freilich auch reichlich die Konkurrenz mit den anderen Brüdern der im Zeichen der Psychoanalyse firmierenden totemistischen Urhorde einbrachte.

Seit den zwanziger Jahren zeichnete sich indessen ein wesentlicher Dissens zwischen Ferenczi und Freud in Fragen der Theorie wie der therapeutischen Technik ab. Ferenczi relativierte die Bedeutung der Freud konstitutiv erscheinenden ödipalen Konstellation. Er unterstrich die Rolle der präödipalen Mutter, widersprach dem Absolutheitsanspruch der Triebtheorie und wurde vor allem methodisch auf riskante Weise revolutionär. Wie der ebenfalls dissidente Otto Rank setzte Ferenczi auf die aktive Rolle des Analytikers. Das Konzept einer "mutuellen", wechselseitigen Analyse verstieß massiv gegen die bisher geübte Rollenverteilung im analytischen Setting. Und als Ferenczi auch noch dazu überging, die Grundregel der analytischen Abstinenz zu verletzen, indem er körperliche Kontakte, selbst Küsse der Patientinnen zuließ, war für Freud die Grenze des Tolerierbaren erreicht. Diese Art von gleichsam inkarnierter Psychoanalyse schien ihm eher eine "Petting-Party" zu sein. Ein offener Bruch wurde, anders als bei den früheren Sezessionen, vermieden. Aber Ferenczi wurde von der gewissermaßen parteiamtlich oder auch als Glaubenskongregation institutionalisierten Psychoanalyse, angeführt von den Paladinen Jones, Eitington und Brill, isoliert. Seinen Vortrag auf dem Psychoanalyse-Kongress von Wiesbaden 1932 mit dem ominösen Titel: "Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind. Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft" suchten die Zensoren zu hintertreiben. Freud reagierte alles in allem besonnener und freundschaftlicher; aber er legte Ferenczi nahe, wenigstens in seinem Publikationsverhalten enthaltsam zu sein und mit der Veröffentlichung seiner Thesen zu warten. Erst 1985 wurde Ferenczis klinisches Tagebuch von 1932 publiziert.

Im Untergrund, der eigentlich die Spezialität der Psychoanalyse war, rumorte es indessen aus ganz anderen Gründen. Ferenczi wollte offenbar in der Analyse die "zärtliche Mutterrolle" spielen - da sollte er in Freud, dem Patriarchen, nach dessen Brief vom 13. Dezember 1931 denn auch die "brutale väterliche Seite" finden. Der alte und wieder neue Stein des Anstoßes: die "Verführung", die Trauma-Theorie. Als "gute Mutter" brachte Ferenczi seinen Patientinnen wieder jenen Glauben an die Authentizität ihrer Berichte von einer traumatisierenden, "exogenen", frühkindlichen sexuellen Verführung entgegen, den Freud einst selbst um den Preis seiner völligen akademischen Isolation gehegt hatte, bis er darin bloße Verführungsfantasien zu sehen gelernt hatte. Ferenczis Revision der Trieblehre durch die Traumatheorie war die denkbar unerwünschte Wiederbelebung einer verdrängten Theorie.

Die Konstellation konnte man auch so sehen: Die sich präödipal orientierenden Jünger wie Ferenczi oder Otto Rank wurden immer jünger und mütterlicher, der Patriarch Freud immer älter und väterlicher. Freilich wäre auch zu bedenken gewesen, dass die "mutuelle Psychoanalyse" mit ihrer riskanten Körperlichkeit die traumatisierende Realität der Verführung, an die Ferenczi glaubte, möglicherweise weniger heilte als selber schuf.

Die Verletzung und die aus ihr resultierende Verbitterung war zumal auf Freuds Seite tief. Am 2. Oktober 1932 schreibt er an Ferenczi einen Abrechnungsbrief, der an Härte schwerlich überbietbar ist: "[...] Ich glaube nicht mehr, daß Sie sich berichtigen werden, wie ich mich ein Menschenalter vorher berichtigt habe. [...] Seit drei Jahren haben Sie sich planmäßig von mir abgewendet, wahrscheinlich eine persönliche Feindseligkeit entwickelt, die weiter geht, als sie sich äußern konnte. Jeder von denen, die mir einmal nahestanden und dann abgefallen sind, konnte mir mehr Veranlassung zur Last legen als gerade Sie [...]". Und dann die finale Ironie: "Die traumatische Wirkung entfällt bei mir, ich bin vorbereitet und daran gewöhnt".

Der an unheilbarer "perniciöser Anämie" leidende Ferenczi - das war bei ihm keine symbolische Krankheit - ist konsterniert. In seinem "Klinischen Tagebuch" notiert er mit der Bitternis der Enttäuschung über Freud: "Er liebt Niemanden, nur sich und sein Werk."

Als die Nazis die Macht ergreifen, bestimmt ihn aber wieder die alte Liebe zu Freud: er empfiehlt ihm dringend, rechtzeitig zu emigrieren. Doch Freud zieht es einstweilen noch vor, wie gewohnt nicht zu fliehen, sondern stand zu halten. Um sechs Jahre wird er den entlaufenen Jünger und Freund überleben. Sein Nachruf, immerhin, spricht in warmen Worten von seiner "liebenswerten, menschenfreundlichen Persönlichkeit".

Titelbild

Sigmund Freud / Sándor Ferenczi: Briefwechsel. Band III/ 2. 1925-1933.
Herausgegeben von Ernst Falzeder und Eva Brabant.
Böhlau Verlag, Wien/Köln/Weimar 2005.
315 Seiten, 47,00 EUR.
ISBN-10: 3205990994

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