Die performative Wende des theaterwissenschaftlichen Diskurses

Das Metzler Lexikon "Theatertheorie" bietet einen profunden Überblick über den Stand der Theoriediskussion in der Theaterwissenschaft

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den vergangenen Jahren hat sich die eher generelle Vorstellung dessen, was man unter dem Begriff 'Theater' versteht, nicht unerheblich verschoben. Je nach Kontext haben sich Umfang und Grenzen des Begriffs verändert: Neben den seit langem bekannten und in der Forschung vielfältig behandelten Grundbedeutungen - Theater als soziale Institution; Theater als besondere Kunstform, die mit heterogenen Materialien wie dem menschlichen Körper, der Stimme, unterschiedlichen Objekten, Licht, Musik, Sprache, Lauten etc. arbeitet und Aufführungen hervorbringt; Theater als Produkt einer medienspezifischen Kommunikation, die durch ihren transitorischen Charakter gekennzeichnet ist; Theater als Gebäude sowie Theater als besondere Form kultureller Kommunikation - bezeichnet Theater im Rahmen einer 'Ästhetik des Performativen', wie sie vor allem von Erika Fischer-Lichte formuliert wurde, "unterschiedliche Phänomene und Prozesse auf verschiedenen kulturellen Feldern, wie z.B. eine spezifische Zuordnung von Akteuren und Zuschauern, Maskierung, Rollen-Spiel, effektvolle Inszenierungen von Auftritten, Abgängen, Situationen und Ereignissen, die in unterschiedlichen kulturellen Systemen anzutreffen sind". Mit der Etablierung dieses erweiterten Theaterbegriffs gehen die Entgrenzung des Theaters hin zu anderen Genres von cultural performances wie Ritualen, Festen, politischen Versammlungen sowie eine generell zu beobachtende Theatralisierung des gesellschaftlichen und politischen Lebens einher. In den vergangenen Jahren haben mit der 'performativen Wende' und dem 'postdramatischen Theater' (Hans-Thies Lehmann) zwei Kategorien den theaterwissenschaftlichen Diskurs geprägt, die einer Theaterkunst gerecht zu werden versuchen, die seit Anfang der 1960er Jahre zunehmend die Bedingungen ihrer Herstellung und Wahrnehmung thematisiert und für die vor allem auch (post-)strukturalistische und dekonstruktive, semiotische und kulturtheoretische Ansätze verantwortlich sind.

Fraglos sprengt dieser fundamentale Wechsel der Materialität der Kommunikation (vom Text zu theatralen Prozessen) auch die Grenzen der einzelnen kulturwissenschaftlichen Disziplinen. Erforderlich werden nicht nur interdisziplinäre Ansätze, sondern vielmehr eine Re-Formulierung von Forschungsstrategien, die mit der Einführung des Begriffs 'Theatralität' ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Diese Neudefinition von Theater zeichnet auch das von Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch und Matthias Warstat herausgegebene "Metzler Lexikon Theatertheorie" aus, das etwa 100 zentrale Begriffe und Konzepte vorstellt und ihre Relevanz für die Analyse von Aufführungen in Kunst, Kultur und Gesellschaft erläutert. Verzeichnet werden nur solche Lemmata, die "als theoretisch bzw. theoriefähig gelten". Gängige Begriffe aus der Welt des Theaters wie Kostüm, Schnürboden, Probe oder Inspizient sucht man ebenso vergebens wie Namen von Theaterpraktikern und -theoretikern mit nachfolgender Kurzcharakteristik ihrer bedeutendsten Konzepte. Stattdessen zeichnet das Lexikon anhand von Begriffen wie 'Dekonstruktion', 'Gedächtnis', 'Körperlichkeit', 'Materialität', 'Meta-Theater', 'Performativität', 'Ritual', 'Textualität' u.a. die 'performative Wende' in der Theatertheorie kenntnisreich und anregend nach. Doris Kolesch etwa skizziert in ihrem Beitrag zur "Textualität" die Wende von der Theatersemiotik zum performativen Ansatz: Während in der Sichtweise der Theatersemiotik die einzelne Aufführung in ihrer Gesamtheit und als Summe ihrer einzelnen Elemente als ein multimedialer, ästhetischer Text verstanden werden konnte, der auf Prozesse der Sinnstiftung fokussiert, fand die je spezifische Medialität und Materialität von Aufführungstexten kaum Beachtung und wurde als bloße Realisierung einer als vorgängig angenommenen, abstrakten Sprache vernachlässigt. Diese Vereinseitigung werde nun durch das "erstarkende Interesse an Performativität zunehmend ausgeglichen, insofern hier Prozesse der Emergenz, des Widerfahrens und Geschehenlassens von Handlungsvollzügen sowie des Verweisens auf phänomenales So-Sein im Vordergrund stehen, die nicht mehr als bloße Artikulation einer als vorgängig gedachten Idee verstanden werden". Die im New Historicism noch favorisierte Erklärungsmetapher von der 'Kultur als Text' (Doris Bachmann-Medick) weiche einem Blick auf die Performativität von Kultur und werde ersetzt durch die Metapher von der 'Kultur als Performance'. Damit werde zugleich eine Rekonzeptualisierung des Begriffs des Performativen notwendig, die expressis verbis auch körperliche Handlungen einbezieht und auch den Körper in seiner je besonderen Materialität wahrnimmt.

Identität als körperliche und soziale Wirklichkeit wird also stets durch performative Akte konstituiert. Performativ meint in diesem Sinne, legt man etwa John L. Austins Schrift "How to Do Things with Words" (1955) zugrunde, 'wirklichkeitskonstituierend' und 'selbstreferentiell'. Unter Rekurs auf Maurice Merleau-Pontys Ansatz, der nach den phänomenalen Verkörperungsbedingungen fragt und den Körper nicht nur als eine historische Idee begreift, sondern auch als ein Repertoire von Möglichkeiten, die kontinuierlich zu verwirklichen sind, wird der Prozess der performativen Erzeugung von Identität von Erika Fischer-Lichte (unter Berufung auf Judith Butler) als ein "Prozess von Verkörperung" verstanden. Auch Yvonne Hardt unterstreicht in ihrem Beitrag zum Lemma "Körperlichkeit", dass die Wirkungsästhetik des Theaters "im engen Zusammenhang mit den jeweils vorherrschenden Vorstellungen vom menschlichen Körper und der ihm zugewiesenen Kommunikationsfähigkeit" steht. Nach Hardt lassen sich in erster Linie zwei Prinzipien konstatieren: Zum einen körperentgrenzte Konzepte theatraler Kommunikation, zum anderen eine auf eindeutige Zeichenhaftigkeit festgelegte körperliche Kommunikation. Während beim ersten Konzept die sinnliche Erfahrung und die Möglichkeiten körperlicher Aktionen im Mittelpunkt stehen, geht es beim zweiten Konzept um eine Minimierung der sinnlichen Regungen zugunsten einer prinzipiellen semiotischen Instrumentalisierung des Schauspielkörpers.

In diesem Zusammenhang unterstreicht Erika Fischer-Lichte in ihren Ausführungen zum Lemma "Performativität / performativ" mit Recht die Interdependenz von Semiotizität und Performativität in Theateraufführungen: "Bei Fokussierung auf das Semiotische erscheint das Performative zunächst als die wesentliche Bedingung der Möglichkeit für die Bedeutungserzeugung in einer Aufführung. Deshalb untersucht die Theatersemiotik die besondere Eigenart der an der Aufführung beteiligten Zeichensysteme, die Voraussetzungen, ihre Bedingungen und Möglichkeiten für Prozesse der Bedeutungsgenerierung, die mit ihrer je spezifischen Materialität gegeben sind". Im Unterschied dazu besteht die Performativität einer Aufführung nun darin, dass "sie die Aufmerksamkeit des Wahrnehmenden nicht auf die Zeichenhaftigkeit der auftretenden Person und auftauchenden Objekte lenkt, sondern auf die ihre je spezifische Phänomenalität". Daraus folgt letztlich, dass auch Aufführungen des traditionellen Theaters nicht länger ausschließlich als Übersetzung von im Text vorgegebenen Bedeutungen zu begreifen sind, da die in ihnen erzeugten Bedeutungen erst im Prozess der Aufführung entstehen und sich daher nicht als Ausdruck vorgegebener Bedeutungen begreifen lassen.

In diesem Zusammenhang avancierte der Performativitätsbegriff auch zu einem Schlüsselbegriff der Ritualforschung. Rituale können - ähnlich wie Aufführungen - als transgressive Ereignisse beschrieben werden, deren Funktion darin besteht, unterschiedliche Arten von Grenzüberschreitungen zu ermöglichen. Dieser Ansicht nach ermöglichen Rituale dem Neuen, Anderen, Verdrängten ereignishafte Emergenz. Matthias Warstat verweist in diesem Zusammenhang zu Recht auf die "theoretische Nähe der Begriffe Ritual und Theater", die eine Entsprechung in der Theaterpraxis des 20. Jahrhunderts, insbesondere in Projekten der so genannten Avantgarde gehabt habe: "Sowohl Theatermacher der historischen Avantgarde als auch solche der Neoavantgarde setzten in ihrem Bemühen, das Theater zu reformieren, explizit oder implizit auf eine Ritualisierung des Aufführungsgeschehens. [...] Nicht zuletzt unter dem Einfluss asiatischer Theaterformen wurde diese Differenz von Darstellung und Vollzug im europäischen Theater des 20. Jh.s teilweise aufgehoben: Partizipation im Theater sollte zum Vollzug eines Rituals werden". Deshalb verwundert es kaum, wenn das einflussreiche rituelle Theatermodell Antonin Artauds wie ein roter Faden durch viele Einträge dieses Lexikons geknüpft wird. Artaud wendet sich in vielen seiner Texte in extremer Weise gegen die Definitionsgewalt des Geistes, der mittels Sprache die Dinge der Wirklichkeit erfinde und somit den Dingen Existenz und Nicht-Existenz zukommen lasse. An die Stelle der geistigen Vorstellungen, die nicht tatsächliches körperliches Erleben ermöglichen, tritt der "Raum der Möglichkeiten", eine andere Realität, über die Artaud aber nicht geistig reflektieren möchte, weil im Denken keine Präsenz des Imaginierten erscheint. Die ohnehin imaginären und mythologischen Definitionen und Vorstellungen werden von Artaud durch bloße Körperlichkeit ersetzt, die sich nicht mehr vor dem Geist rechtfertigen, die sich nicht mehr von ihm kontrollieren lassen muss. Es geht Artaud darum, aus dem binären Denken der Repräsentation auszubrechen, das nur Verifizierung oder Negierung kennt und Dichotomien wie "Sein" versus "Nicht-Sein" oder "Ich" versus "Nicht-Ich" basiert. Diese Logik ist es, die den Körper als abwesend konstituiert, während die Erfahrung von Körperlichkeit auf Paradoxien, auf die Präsenz der Differenz, auf die Anwesenheit des Abwesenden verweist - auf die Erfahrung des körperlichen Begehrens, das mit Kategorien der Rationalität kaum erfassbar ist: Das Begehren, ein anderer zu sein, eine andere Wirklichkeit auf reale, authentische Weise (etwa im Schmerz) zu erfahren, unterminiert obige Dichotomien. Darüber hinaus formulierte Artaud in den frühen 1930er Jahren (gesammelt in seiner Schrift "Das Theater und sein Double") die Hoffnung, dass "der Sinn der alten rituellen Magie auf der Ebene des Theaters eine neue Realität wieder finden" könne und forderte in diesem Sinne ein Theater, in dem neue, transformative Theaterzeichen wie rituelle Symbole unmittelbar auf Leib und Seele der Teilnehmer einwirken sollten. Exemplarisch knüpfte Jacques Derrida in seinem Essay "Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation" im Hinblick auf das Theater Artauds an dessen Gedanken an, wenn er nachdrücklich für das Erleben des Leibes im Raum, d.h. die Bewegung der real gegebenen Körper von Darstellern sowie die realen Erfahrungsräume zwischen Akteuren und Zuschauern, sensibilisiert: "Die Nicht-Repräsentation ist daher originäre Repräsentation, wenn Repräsentation auch noch Entfaltung eines Ausmaßes, eines Milieus vielfältiger Dimensionen, erzeugende Erfahrung seines eigenen Raums heißt. Verräumlichung, das heißt Erzeugung eines Raums, den keine Sprache zusammenfassen oder begreifen kann, weil sie ihn zunächst selbst voraussetzt".

Fasst man die Beobachtungen der einzelnen Beiträger zum heutigen Stand der Theoriediskussion in der Theaterwissenschaft zusammen, so lässt sich der Begriff der Theatralität mit Erika Fischer-Lichte auf vier Aspekte auffächern, die ihn in ihrer Gesamtheit und in je wechselnder Konstellation bestimmen. Erstens "den der Inszenierung, der als performative Hervorbringung der Materialität und zugleich als spezifischer Modus der Zeichenverwendung zu beschreiben ist"; zweitens "den der Körperlichkeit, der sich aus dem Material bzw. dem Faktor der Darstellung ergibt"; drittens "den der Wahrnehmung, der sich auf den Zuschauer, seine Beobachtungsfunktion und -perspektive sowie den Grad seiner Involviertheit bezieht" und schließlich, viertens, "den der Aufführung / Performance, die sich durch die leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern und d. h. durch das ambivalente Zusammenspiel der drei erst genannten Faktoren konstituiert".

Der hier präzise formulierte und an diversen Beispielen verifizierte Ansatz, zwischen der Entwicklung eines neuen Theaterbegriffs sowie der Theatralisierung anderer Arten von cultural performances auf der einen Seite und der Krise der Repräsentation auf der anderen Seite eine Beziehung herzustellen, ist in hohem Maße plausibel und einleuchtend. Solche Transformationen hatten, worauf Erika Fischer-Lichte mit Recht hinweist, "eine Dominantenverschiebung zum Ziel: weg von den referentiellen hin zu den performativen Funktionen". Damit wird Theater neu definiert: "als eine performative Kunst, in der die referentiellen Funktionen den performativen untergeordnet sind". Angesichts dieser Beobachtungen ist die grundlegende Annahme der Beiträger nicht von der Hand zu weisen, dass Repräsentationskrise, Neudefinition des Theaterbegriffs und Theatralisierung unterschiedlicher Gattungen von cultural performances auch im 20. Jahrhundert eng miteinander verknüpft sind. Deutlich wird, dass es hier insgesamt um Fragen geht, die die traditionellen Grenzen der Künste, Wissenschaften und Medien überschreiten. Den Beiträgern zu diesem Lexikon der Theatertheorie ist es zu verdanken, dass der Begriff des Performativen nicht mehr nur allein in der Literaturwissenschaft, sondern nun auch intensiv in der Theaterwissenschaft diskutiert wird. Auf zukünftige Fortschreibungen dieses Ansatzes darf man sehr gespannt sein.


Titelbild

Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
378 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 3518123734

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Titelbild

Metzler Lexikon Theatertheorie.
Herausgegeben von Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch und Matthias Warstat.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2005.
400 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-10: 347601956X

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