Ist Kulturphilosophie unsystematisierbar?

Ralf Konersmann räsonniert geistreich über Kulturphilosophie, ohne in sie einzuführen

Von Christoph HenningRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Henning

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was Kulturphilosophie sei, diese Frage wird gerade in Zeiten laut, in denen sie sich wieder gut verkauft - nicht zuletzt auch unter denjenigen, die sie lehren. Handelt es sich bei ihr um mehr als um ein "Reframing" der alten philosophischen Inhalte in der kulturwissenschaftlichen "Lightversion"? Tatsächlich verkauft sich die Kulturphilosophie heute wohl deswegen so gut, weil sie das enthält, was übrig bleibt, wenn man die schwerere Gangart ihrer geisteswissenschaftlichen Vorgängerin Philosophie (ohne Bindestriche) abzieht, die noch auf Latinum und Graecum beharrte und sich nur widerwillig der Anforderung aussetzte, ihre Essenzen als "Take-Away-Messages" besser vermarktbar zu machen. Der Kulturwissenschaft als Sammelbegriff ist es inzwischen gelungen, sich im trans- und interdisziplinären Austausch integrierbarer zu machen und so in den weitgreifenden Universitätsreformen wenigstens kleine Inseln des alten Geistes zu erhalten. Doch stellt sich umso dringlicher die Frage, was eigentlich in solchen Kultursynthesen, die die Philosophie mit der Soziologie, der Ethnologie und der Literaturwissenschaft eingehen musste, eigentlich noch an Philosophie enthalten geblieben ist.

Darum dürfte diese kleine Einführung von Ralf Konersmann, der bereits eine sehr dankenswerte Sammlung zentraler kulturphilosophischer Texte vorgelegt hat, vielen Lesern gelegen kommen. Allerdings macht sie diesen Erwartungen einen Strich durch die Rechnung, und zwar sehr bewusst - man könnte fast sagen: methodisch reflektiert, indem sie das, was sie an Kulturbegriffen anzubieten hat, in die Darstellungsweise zu übersetzen versucht. Diese reflexive Darstellungsweise macht die vorgestellten Kulturphilosophien allerdings sperriger, als sie sind. Ob dies dem Buch zum Vorteil gereicht, bleibt fraglich. Vielleicht liegt in der Sperrigkeit ein Rest des alten geisteswissenschaftlichen Trotzreflexes gegen Vereinfachungen, vielleicht ist das sichtliche Überspringen der letzten Ausarbeitungsstufe aber auch schon ein Anzeichen der neuen, schnelleren und output-orientierteren Form von Kulturwissenschaft.

Philosophie kann fesseln, Kulturphilosophie insbesondere. Konersmann möchte, das ist ihm anzumerken, ebenfalls fesseln. Diese Faszination ist jedoch nur schwer in Überblickswerke zu transportieren. Diese sollen denn auch weniger fesseln als systematisieren, also dem neuen Leser eine Meinung davon ermöglichen, wovon er sich später vielleicht einmal in den Bann ziehen lassen will - oder auch nicht. Ein solcher Überblick gelingt umso weniger, wenn das Gegenstandsgebiet nicht so fest umrissen ist wie im Falle der Staats-, Rechts- oder Kunstphilosophie. Bei der Kulturphilosophie ist nicht klar, ob es ein Verbindendes zwischen den Schriften gibt, die unter diesem Namen aufgetreten sind oder ihm zugerechnet werden. Auch bei Konersmann wird ein solches Verbindendes nur schwer sichtbar. Die Antwort, die Konersmann in seinem Buch daher hätte geben müssen, wäre: Es gibt so etwas wie "die" Kulturphilosophie nicht, darum kann man auch nicht in sie einführen. Kulturphilosophie ist inhaltlich höchst disparat, sie taucht immer dann auf, wenn den Menschen die Sicherheit über ihre Umwelt entgleitet, wenn Evidenzen schwinden und neue Interpretationen nötig werden - so lautet eine der Definitionen des Buches. Das ist durchaus richtig, doch die große Anzahl dieser kulturphilosophischen Deutungen über die Epochen hinweg hätte sich sicher dennoch übersichtlicher anordnen lassen, ob systematisch oder historisch.

Konersmann macht aus der Not eine Tugend und betätigt sich selbst als Kulturphilosoph, indem er schon mit der Form der Darstellung spielerisch umgeht. Er scheint den berechtigten und auch in diesem Buch hervorgehobenen Impuls des Cultural Turn, dass man auf der "Oberfläche" bleiben müsse, um nicht fälschlich auf Wesenheiten wie das Ökonomische oder das Biologische zu reduzieren, in die Anlage des Büchleins mit hinübernehmen zu wollen - ein Wagnis, das stellenweise misslingt. An einigen Stellen kommt es zu Wiederholungen, zu zeitlichen Sprüngen, und die Anordnung der Kapitel erinnert von fern - überspitzt ausgedrückt - an das Zettelkastenprinzip. Diese Konzeption von Kultur als "Werkzeugkasten" (Anne Swidler) ist kultursoziologisch sogar recht prominent, aber muss eine Einführung in die Kulturphilosophie wirklich Begriffe von Kultur dadurch darstellen, dass sie sie eher exemplifiziert als erläutert? Muss ein Buch, das Kultur unter anderem als "Umweg" konzipiert ("Der Mensch ist das Umwegwesen, das in seiner Kultur vor sich selbst hintritt"), selbst so viele Umwege machen, bis es sich einmal zu eingängigen Definitionen hinreißen lässt? Anders gefragt: Inhaltlich ist es natürlich richtig zu sagen, dass es in der Kultur immer wieder zu Brüchen kommt und kommen muss, da sie nicht abschließbar ist - aber muss es deswegen in einer Einführung in die Kulturphilosophien anderer ebenfalls zu Brüchen kommen? Denn solche gibt es in diesem Büchlein. Wenn es Kulturphilosophie etwa mit der "Humanisierung" der Welt zu tun hat, mit der Abkehr von Gesetzen der Natur und der Beschäftigung mit den menschengemachten Uneindeutigkeiten, dann war das bereits der sokratische Grundimpuls der Philosophie und keineswegs eine Neuentdeckung der Kulturphilosophie im 18. oder 19. Jahrhundert. Hier fehlt nicht nur ein Abgrenzungskriterium, man vermisst auch eine Aktualisierung, was diese Einsicht in Zeiten neurobiologischer Neo-Determinismen eigentlich bedeuten könnte. Die globale Versicherung: "Potentiell ist alles Kultur" hilft da nur wenig weiter, denn eben dies wird ja heute prominent bestritten. Was Kulturphilosophie genau ist, verschwimmt daher in einer zuweilen höchst geistreichen Paraphrase davon, was einzelne ihrer Autoren jeweils über die Kultur von sich gegeben haben (von Vico über Rousseau und Schiller bis zu Simmel und Cassirer, die meist im Vordergrund stehen). Das liest man am Ende aber doch lieber im Original.

Sieht man von dieser etwas unglücklichen Anlage des Buches ab, muss man ihm konzedieren, dass es viele Hauptlinien kulturphilosophischen Denkens zur Sprache bringt, von der ersten Verwendung des Begriffs bei Gottfried Semper über Simmels und Cassirers Systematisierungsversuche bis zur Kulturkritik - und nicht nur das, es werden auch eigenständige Gedanken zur Kultur als Metaphernsystem geäußert, zur Kultur als Phänomen des Umwegs, zur Kultur als Einsicht in die Pluralität der Lebensformen, und über Kulturphilosophie als Orientierungshilfe in Zeiten des Wandels. Als Diskussionsbeitrag ist das Werklein hochinteressant. Ob dem auf diesem Gebiet wirklich Unbelesenen mit diesem Buch allerdings eine große Orientierungshilfe an die Hand gegeben ist, ist etwas fraglich; für diesen Zweck ist es ein wenig zu immanent bringt letztlich zu wenig Überblick, was doch eigentlich sein Zweck sein sollte. Einsteigern, die es sich aussuchen können, sei im Zweifelsfalle daher eher die bravouröse Sammlung von Schlüsseltexten ans Herz gelegt, die derselbe Autor vor einigen Jahren herausgebracht hat.


Titelbild

Ralf Konersmann (Hg.): Kulturphilosophie.
Reclam Verlag Leipzig, Leipzig 1998.
376 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3379015547

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Ralf Konersmann: Kulturphilosophie zur Einführung.
Junius Verlag, Hamburg 2003.
190 Seiten, 13,50 EUR.
ISBN-10: 3885063824

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