Hellsichtiger Ästhetiker

Heiner Müller bekommt seine Werkausgabe und wird endgültig zum kanonischen Autor. Doch gleichzeitig wachsen die Mißverständnisse seines Œuvres

Von Jörg SundermeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Sundermeier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wie es bleibt, ist es nicht", hat Heiner Müller in den 70er Jahren einen Kommentar zu Thomas Braschs "Kargo" überschrieben, und dieser Satz ist gleich zweimal bezeichnend für das Müller'sche Denken. Zum einen auf der formalen Ebene. Mit der am Kabarett geschulten Verdrehung einer Phrase verblüfft der Autor seine Leserinnen und Leser. Auf der Bedeutungsebene steht der Satz hingegen für Müllers Geschichtspessimismus, sowohl für die Wirkung von Geschichte als auch für die Mängel in ihrer Überlieferung.

Die "Übersetzungsfehler", die sich mit den Jahren einschleichen, betreffen gerade auch Müller selbst. Der Sozialist Müller ist nicht mehr gefragt, seine Stücke werden zur Zeit eher selten aufgeführt, nicht selten dann aber mit vermeintlich "aktualisierenden" Einschüben und Regieeinfällen, die den Texten eine Banalität verleihen, die ihnen nicht ursprünglich innewohnt. Als vor einigen Tagen aus dem Anlass seines 10. Todestages das Buch "Der Tod ist ein Irrtum" in der Akademie der Künste in Berlin vorgestellt wurde, vermisste ihn die Berliner Zeitung auf's Schmerzlichste. Müller-Fans erzählten dort, wofür sich sie bei Müller noch interessieren - das, worum es bei Müller ging, wurde hingegen nicht angesprochen.

Es irritiert doch arg, dass Müller einerseits mit einer Werkausgabe geehrt wird, andererseits aber der Suhrkamp Verlag, der eine öffentliche Aufmerksamkeit, wie sie Müllers Todestag mit sich brachte, normalerweise bestens zu nutzen versteht, in diesem Fall etwas untätig blieb.

Suhrkamp wurde nach Müllers Ableben noch einmal die verlegerische Heimat seines Werkes, eine früher geplante Werkausgabe kam, nach Auseinandersetzungen Müllers mit Siegfried Unseld über die Form einer solchen Ausgabe nicht zustande. So folgten die berühmten Materialbände beim Rotbuch Verlag, an dem Vorbild der Brecht'schen "Versuche" orientiert, in denen Müller unter Buchtiteln wie "Geschichten aus der Produktion" oder "Shakespeare Factory" Texte nach einem lockeren Editionsprinzip zusammenstellte, nicht chronologisch, sondern thematisch und lückenhaft, und diese Zusammenstellung dann noch mit Bildern und fremden Texten, Materialien eben, kommentierte. In den letzten Jahren allerdings kümmerte sich Müller nicht mehr um diese vieldiskutierte Ausgabe, eine Buchreihe mit dem Titel "Gesammelte Irrtümer" im Verlag der Autoren war die letzte Veröffentlichungsplattform, die Müller sich geschaffen hatte, größere Werke erschienen vor seinem Tod dann im Verlag Kiepenheuer & Witsch. Im Alexander Verlag wiederum legte er einen Gedichtband vor, und über die Werkausgabe mit Suhrkamp hatte Müller dann offensichtlich doch noch selbst verhandelt.

Dass die Rotbuch-Werkausgabe, die der Verlag zugunsten der Suhrkamp-Ausgabe vom Markt nehmen musste, heutzutage fehlt, machen die beiden Bände, die 2005 im Rahmen dieser Werkausgabe erschienen, auf verstörende Weise klar. Zwar bringt die von Frank Hörnigk betreute Ausgabe Material in Hülle und Fülle ans Tageslicht, zugleich aber, da die Texte nun, in dieser zur Zeit einzig lieferbaren Ausgabe, in eine Chronologie gesperrt worden und einem Genre zugeordnet sind, geht ihr Materialcharakter verloren.

Dass allerdings die Werkausgabe die in ihr enthaltenen Texte zu einem steifen "Werk" gerinnen lässt, ist ihr nicht vorzuwerfen. Die Ablehnung von germanistischen Ausgaben auf Seiten des Feuilletons beruht auf einer Verkennung der üblichen literarhistorischen Abläufe: Erst, wenn die Leiche kalt ist, kommen die Pathologen. Für den Tod sind sie und ihre Werkzeuge nicht verantwortlich zu machen.

Und "kalt" wiederum sind die Texte Müllers durch den Umstand geworden, dass ihnen die Rezeption fehlt. Das Bild Heiner Müllers, das er in den letzten Jahren in öffentlicher Funktion - Präsident der Ost-Akademie und Intendant des Berliner Ensembles -, doch auch als Talkshowgast prägte, hat inzwischen vollends den Autor Müller verdrängt. Selbst auf dem Deckel des Reclambändchens "Der Auftrag und andere Revolutionsstücke" findet sich ein Müller-Porträt. Viele Autorenporträts führen ihn salopp als "Schriftsteller", die Worte Dramatiker und Dichter finden sich eher selten.

Entsprechend ist die Lektürehaltung des Publikums. "Keine der üblichen Biografien", schrieb am 12. September 2005 ein/e "Rezensentin/Rezensent aus Bad Vilbel, Hessen Deutschland" auf Amazon.de über Heiner Müllers Autobiografie, "dennoch lesenswert. Wenn auch nicht vom Stil, so doch vom Inhalt, hatte ich manchmal das Gefühl ich lese was von Bukowski. Nicht wirklich derart unterhalb der Kürtellinie [sic!], aber sonderlich gut."

Müllers Selbstauskunft ist einer der beiden Bände, die soeben in der Werkausgabe erschienen sind. "Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie" hieß der Großtext bei seinem Erscheinen im Jahr 1992. Nun liegt er merkwürdigerweise unter dem Titel "Eine Autobiographie" vor. Dabei ist ihm nichts Wesentliches beigefügt worden, der Band folgt der Neuausgabe von 1994, die nach Bekanntwerden des Umstands, dass Müller als IM bei der Staatsicherheit der DDR geführt wurde, erschien. Da der Originalverlag offensichtlich die dem Buchtext zugrunde liegenden Tonbänder verschlampt hat, und auch sonst kaum Manuskriptvorstufen dieses aus einem langwierigen Gespräch mit drei Befragenden zusammengestellten Textes vorliegen, werden lediglich Stücke aus den wenigen erhaltenen Manuskriptseiten dokumentiert, die den "exemplarische[n] Nachweis eines kontinuierlich sich verdichtenden, künstlerischen Schreibprozesses" erbringen, zudem ist der Entwurf eines Vorworts erhalten, der nochmals einen Eindruck von der Distanz des Autors zu diesem Text gibt. Müller selbst nannte das Buch etwas, das er "in der mir zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu Literatur machen konnte." Im Nachlass erhalten sind auch Dokumente, die belegen, dass Müller das Buch ganz stoppen wollte, selbst den bereits bezahlten Vorschuss wollte er zurückzahlen.

Die Autobiografie zeigt die Schwächen des Plauderers Müller. Zugleich jedoch gibt sie einen interessanten, da kompakten Blick auf seine eigenen Stücke frei. Müller etwa beäugte skeptisch, auf welche Weise seine Stücke bislang im Westen inszeniert worden waren, zudem antwortete er, als man ihm erzählte, dass sein Stück "Quartett", das auf dem Briefroman "Gefährliche Liebschaften" von Choderlos de Laclos basiert, wohl sein beliebteste sei, resigniert: "Ich fürchte". Er merkte, dass seinen Leserinnen und Lesern im Westen die Erfahrung beziehungsweise die Lektüre fehlte, die die Kritik seiner Stücke verstehbar machen. Anspielungen auf Diskrepanzen zwischen Parteianspruch und persönlichen Bedürfnissen etwa wurden von den Regisseuren in heterosexuelle Beziehungsprobleme übersetzt.

"Krieg ohne Schlacht" wurde seinerzeit von aktuellen Ereignissen verdeckt, die Affäre um Müllers angebliche IM-Tätigkeit trübte den Blick auf den Text. Ein Dokumententeil, der in der Neuausgabe zu Müllers Entlastung dienen sollte und der auch in diesem Werkausgabenband enthalten ist, erstickt seitdem den Haupttext und degradiert ihn zu einem Vorspiel für ein Stasi-Versteckspiel.

Der Band "Schriften", der ebenfalls im vergangenen Jahr erschien, überrascht hingegen mit editorischen Eigenarten. So wird etwa ein Brief an seinen Bruder, den Müller 1952 schrieb, und in dem er Belangloses mitteilt, als eine publizierte "Schrift" aus dem Jahr 1952 gewertet, da Müller den Brief Ende der 80er Jahre in einem Materialband veröffentlichte. Dieser arg orthodoxe Umgang mit dem Müller'schen Materialbegriff aber stört bei der Lektüre dieses hochinteressanten Bands. Hörnigk präsentiert auch hier eine reichliche Auswahl aus dem Nachlass und ordnet zugleich den Wert der Texte richtig ein - sie sind allesamt eher Gelegenheitstexte, die angefragt waren, Rezensionen, Reden, Reportagen und Reaktionen, und nicht jede dieser Arbeiten ist eine Perle. So antwortet Müller etwa nebenher auf Rundfragen, gibt kurze Interviewausschnitte als Einzeltexte frei und lobt die Paris Bar in Charlottenburg.

Einige Texte jedoch, etwa seine berühmte Gegenüberstellung der Brecht-Figuren Fatzer und Keuner, seine Kleist-Preis-Rede oder seine Texte, in denen er seine Gespräche mit Stasi-Offizieren verteidigt, dürfen zum Besten gehören, was Müller hinterlassen hat.

Müller kämpft in diesen Texten für den Sozialismus, aber nicht mehr für eine DDR, er redet über Kolonisation und Verdrängung, über die "Volksdroge Antikommunismus" und ergreift Partei für ein Theater, dass durch den Kapitalismus bedroht ist.

Dass Müllers Texte dabei zeigen, dass er kaum einen Begriff vom Antisemitismus oder vom Feminismus hatte, war zu erwarten, dennoch überraschen diese, nicht selten mit schneller Hand verfassten Texte durch ihre Hellsichtigkeit in ästhetischen Fragen. Sie sind, nimmt man sie als Bausteine für eine linke Ästhetik der Gegenwart, noch immer sehr hilfreiche Bausteine, da sie nicht immer die richtigen Antworten geben, oft aber die richtigen Fragen stellen.

Die Aufsätze und Rezensionen aus den Fünfziger Jahren hingegen sind noch vom Bitterfelder Weg und von sozialistischer Aufbauromantik sehr geprägt. Da kann es schon einmal vorkommen, dass Müller einen Paul Celan auf den Mähdrescher setzen will, um ihm die "lyrischen Séancen mit aufgeschminkten Mumien" auszutreiben. Günter Grass, dessen hohle aufrührerische Geste Müller schon 1956 auffiel, wird mit sozialistischem Pathos als einer dieser "Leute" entlarvt, die "bei elektrischer Beleuchtung" schreiben, "im Ohr den Schall von Flugzeugen, die schneller sind als der Schall; aber in ihren Versen ist Stromsperre, werden die Flugzeuge vom Gewölk verschluckt." Anna Seghers oder Friedrich Wolf werden dagegen brav besprochen. Doch selbst in diesen frühen, unsicheren Texten blitzt schon die Lust hervor, mit der Müller später auf die Widersprüche in der realsozialistischen Gesellschaft hinwies, entsprechende Reaktionen und Schreibverbote waren bereits in dieser Zeit die Folge.

Diese Schriften also präsentieren einen Heiner Müller, den man heute vermisst, da seine Worte einen Gebrauchswert haben, sie wurden hervorgebracht durch nützliche Arbeit.

Dieser Heiner Müller aber fehlt. Zum Todestag brachte Suhrkamp statt eines Taschenbuches mit Auswahltexten lieber das aufwendige Buch "Der Tod ist ein Irrtum", das von Brigitte Maria Mayer, Müllers Gefährtin in den letzten Jahren, herausgegeben wurde. In ihm finden sich, neben ein paar Notaten und Gedichtentwürfen, vor allem private Polaroids des Paars, intime, nicht selten peinlich private Bilder, sie zeigen den verschlafenen Müller oder die nackte Mayer, zeigen ihr Kind oder den Autor von Weltruf an seinem Todestag. Man nimmt so scheinbar teil an dem Familienleben der letzten Jahre, doch Mayer, die seit rund fünfzehn Jahren von der fotografischen Arbeit mit ihrem Spiegelbild geradezu besessen scheint, kalkuliert den fremden Blick sehr genau in das Arrangement der Bilder ein. Die Betrachtung ist gelenkt, der Leseeindruck soll, soweit das möglich ist, beherrscht sein. Damit wird das Buch, das zum Bild von Müller eher wenig beiträgt - auch die Texte, deren Vorstufen hier als Faksimiles dokumentiert sind, sind schon weitgehend bekannt - zu einem eigenen, selbstständigen Buchkunstwerk, es wird, wenn man so will, zu einer kommentierenden Arbeit aus unmittelbarer Nähe.

Dieser Kommentar ist so berührend, wie die gezeigten Bilder eindringlich sind. Dennoch hilft der Band eher dabei, den Autor Müller verschwinden zu lassen.


Titelbild

Heiner Müller / Brigitte Maria Mayer: Der Tod ist ein Irrtum.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
160 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-10: 3518417185

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Titelbild

Heiner Müller: Schriften. Band 8: Schriften.
Herausgegeben von Frank Hörnigk.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
718 Seiten, 27,80 EUR.
ISBN-10: 3518414968

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Heiner Müller: Werke. Band 9: Eine Autobiographie.
Herausgegeben von Frank Hörnigk.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
522 Seiten, 27,80 EUR.
ISBN-10: 3518414976

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