Waghalsiger Sprung aus der inneren Freiheit

Ehemalige Dissidenten erinnern sich - und blicken mit gemischten Gefühlen auf die neue Zeit, die in ihren Ländern angebrochen ist

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Der schlechteste Sozialismus ist immer noch besser, als der beste Kapitalismus" - so tröstete sich im 5. Stock seiner Budapester Wohnung am Belgrad-Kai 2 der ungarische Marxist Georg Lukács auf seine alten Tage Ende der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Der im Oktober 2005 überraschend verstorbene Schriftsteller István Eörsi, der unter anderem 1981 die Redaktion der Lukács-Biografie "Gelebtes Denken" innehatte, erinnert sich an lebhafte Debatten der ungarischen oppositionellen Intelligenz. Im vorliegenden Band "Metamorphosen der Utopie" ist eines der letzten mit Eörsi geführten Gespräche aufgezeichnet. Eörsi kehrte darin die Formel von Georg Lukács um: "Der schlechteste Pluralismus ist immer noch besser als das beste Einparteien-System".

"Rückblicke und Ausblicke nach Europa" lautet der Untertitel dieser äußerst verdienstvollen Sammlung kritischer Stimmen aus Mitteleuropa - wenngleich die Idee von Mitteleuropa nicht von allen befragten Gesprächsteilnehmern in gleicher Weise geteilt wird. In 16 Gesprächen nehmen ehemalige Bürgerrechtler und Oppositionelle aus Polen, der Tschechischen Republik, der Slowakei und Ungarn Stellung zur aktuellen politischen Situation ihrer Länder und geben Einblicke in Hintergründe ihrer Aktivitäten, als ihre Heimatländer noch als "Ostblock" Teil des so genannten sozialistischen Lagers war. Die Veröffentlichung von Interview-Bänden dieser Art im Westen oder im heimatlichen Samizdat hatte zu Zeiten des "realen Sozialismus" Haft zur Folge. Erinnert sei an die Gesprächsbände "Tschechische Gespräche. Schriftsteller geben Antwort" (1979) von Jirí Lederer und "Verbotene Bürger"(1982) von Eva Kanturková. Sowohl damals als auch in der vorliegenden Sammlung wird deutlich, dass etliche Aktivisten im Kampf gegen die Parteiherrschaft der Kommunisten vordergründige Ziele hatten: Herstellung von Meinungsfreiheit, Reisefreiheit, freie Gewerkschaften oder Einhaltung der Menschenrechte. Im Rückblick wird es als mögliches Versäumnis eingeräumt, nicht über politisch-ökonomische Alternativen im großen Maßstab nachgedacht zu haben. Hier rächte sich wohl der aggressive Argwohn des "real existierenden Sozialismus" gegenüber jeglicher angedeuteten politischen Opposition.

Viele Bürgerrechtler und Dissidenten versuchten dies dahingehend zu unterlaufen, dass sie sich seinerzeit definitiv nicht als Opposition mit dem Ziel eines politischen Systemwechsels verstanden wissen wollten. Auf den Erfahrungen jener Tage beruht die nach wie vor bestechende Klarheit in den Analysen des "real existierenden Sozialismus". Die meisten Gesprächspartner haben wie Jirí Dienstbier, Petr Uhl und Jaroslav Šabata aus Tschechien, Karol Modzelewski und Jan Litynski aus Polen, Miroslav Kusý aus der Slowakei oder István Eörsi aus Ungarn jenes System kritisch erlebt und mit zum Teil langjähriger Haft für ihre kritischen Analysen bezahlt. Dabei entstammten die meisten von ihnen sozialistisch geprägten Elternhäusern oder waren ursprünglich selbst in der kommunistischen Bewegung engagiert. Die Erfahrung mit dem stalinistischen Sozialismus hatte sie zu Dissidenten werden lassen. Heute, gute 15 Jahre nach dem Zusammenbruch des Sozialismus, stellen sich diesen Intellektuellen, Schriftstellern, Journalisten und Wissenschaftlern die Fragen nach den Folgen eines internationalisierten Kapitalismus, einer Konkurrenzwirtschaft globalen Ausmaßes. Des Weiteren werden wiederbelebte Phänomene wie Nationalismus, Antisemitismus aber auch gesellschaftliche Kriterien vor der Herausforderung fundamentalistischer Strömungen diskutiert. Vor dem spezifischen Hintergrund ihrer Erfahrungen ergeben sich für westeuropäische Leser aufregende Einsichten. Ein Europa, das eingedenk seiner historischen Wurzeln und Traditionen zusammenwächst, kann nicht in ein "neues" und "altes" Europa aufgeteilt werden, wenn es sich beider geographischer Hälften bewusst ist. Der Fehler des Westens während eines aufgezwungen kalten Kriegs bestand in der unreflektierten Übernahme politisch-kulturellen Teilungsdenkens mitten durch Europa. Traditionen wie auch Perspektiven einer gemeinsamen Geschichte fielen einer kurzsichtigen Realpolitik zum Opfer. Ein gesamteuropäisches Verständnis schien nachhaltig gestört zu sein. Exemplarisch zeigt sich dies bei fast allen Gesprächsteilnehmern in deren kritischer Bewertung der westlichen Friedensbewegung der 70er und 80er Jahre, aber auch in deren Zuversicht, als politische Mitglieder eines vereinten Europas eine zivilgesellschaftliche Zukunft gestalten zu können.

Ein ordentliches Personenverzeichnis, eine geschichtliche Chronologie sowie eine Übersicht weiterführender Literatur belegen die Sorgfalt dieses Bands. Zu dessen Lesbarkeit tragen die landesspezifischen Einleitungen der Verfasser nicht unwesentlich bei.


Titelbild

Mathias Richter / Inka Thunecke (Hg.): Metamorphosen der Utopie. Rückblicke und Ausblicke nach Europa.
Talheimer Verlag, Mössingen-Talheim 2005.
393 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-10: 389376111X

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