Vom Schweigen zur Errettung

Henry Roths unvollendetes Roman-Opus "Gnade eines wilden Stroms" in deutscher Übersetzung

Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lange Zeit wurde Henry Roth der Autoren-Kategorie der "Oddities & One-Shots" zugerechnet. Im Jahre 1934 tauchte der 1906 in Galizien geborene und im jüdischen Immigraten-Milieu New Yorks aufgewachsene Autor abrupt im amerikanischen literarischen Territorium mit seinem Roman "Call it Sleep" auf, in dem er seine Erfahrungen aus der Slum-Welt mit Mitteln der an James Joyce geschulten Techniken der Introspektion darstellte. Da jedoch der Verleger alsbald Konkurs anmelden musste, verschwand der Roman - obgleich von der Kritik vorwiegend gelobt - in der Versenkung, und sein Autor versank seinerseits in einer seltsamen Obskurität jenseits der literarischen Welt. Erst als dreißig Jahre später der Roman als Paperback neu aufgelegt wurde und der prominente New Yorker Intellektuelle und Literaturkritiker Irving Howe das Buch geradezu hymnisch in der prestigiösen "New York Times Book Review" auf der Titelseite rezensierte, erhielt dieser einzigartige Roman seinen längst verdienten Einzug in die amerikanische Literaturgeschichte.

Obwohl Roth in den Jahrzehnten nach seinem literarischen Debüt in verschiedene "odd jobs" abtauchte und sich in Maine als Schlächter von Wassergeflügel, deren Federn er verkaufte, verdingte, verschwand er nie vollkommen von der literarischen Bildfläche, wie Steven G. Kellman in seiner vorzüglichen Henry-Roth-Biografie "Redemption" entgegen der üblichen Legendenbildung unterstreicht. Zwar erschienen seine kurzen Arbeiten auch in obskuren Publikationen wie "The Magazine for Ducks and Geese", doch trat auch literarisch in anerkannten Zeitschriften wie "The New Yorker", "Commentary" oder "The Atlantic" in Erscheinung, sodass er sein Schweigen von Zeit zu Zeit unterbrach. Auch wenn er sich in anderen Genres wie dem des Science-Fiction versuchte, war seine wirkliche literarische Basis stets die autobiografische Erfahrung. Beginnend im Jahre 1968 konzipierte Roth ein Epos über seine Jugendjahre, in denen er zum Autor von "Call it Sleep" heranreifte, und gab ihm (in Anlehnung an Joyce) den Arbeitstitel "Portrait of the Artist as an Old Fiasco". Zwischen den Jahren 1994 und 1998 erschien das unvollendete vierbändige, von Robert Weil betreute Werk in den USA unter dem Titel "Mercy of a Rude Stream", das nun auch auf deutsch in Gänze vorliegt. Aus dem ursprünglich auf sechs Bände angelegten literarischen Projekt bleiben jedoch fast 2000 Seiten unveröffentlicht. Die nun auf deutsch vorliegenden Bände "Die Entfesselung" (1996) und "Requiem für Harlem" (1998) wurden nach Roths Tod 1995 posthum herausgegeben.

In "Die Entfesselung" rekapituliert Roths Alter Ego Ira Stigman als 89-jähriger, von Arthritis heimgesuchter Witwer in der Auseinandersetzung mit seinem Computer "Ecclesias" (der zuweilen mit unvermittelten Systemabstürzen die Arbeit des Tages zunichte macht) seine Studentenzeit am City College of New York (CCNY) Mitte der 1920er Jahre, als viele Kinder jüdischer Immigranten dort eine solide Ausbildung erhielten, während ihnen der Weg an WASP-Hochschulen wie der Columbia-Universität aus ökonomischen und ethnischen Gründen versperrt blieb. Gesellschaftliche und politische Ereignisse wie beispielsweise der Prozess gegen die italienischen Anarchisten Sacco und Vanzetti, die Stalinisierung der noch jungen Sowjetunion oder die Auseinandersetzungen zwischen den konkurrierenden linken Gruppierungen in den Alkoven des CCNY spielen eine untergeordnete Rolle. Zentral ist die Dreiecksbeziehung zwischen der Lyrikerin und an der New York University unterrichtenden Literaturwissenschaftlerin Edith Welles, Larry Winter und dem 19-jährigen Ira. Während die promiskuitive Edith eine Liebesbeziehung mit Iras Freund Larry unterhält, führt die zehn Jahre ältere Akademikerin die beiden Studenten in die Geheimnisse der literarischen Moderne James Joyces und T. S. Eliots ein und an das verruchte, in den USA bis 1933 verbotene Opus "Ulysses" heran. Unterdessen schlägt sich Ira als eher mittelmäßiger Student am CCNY und als Hilfsarbeiter durch und unterhält mit seiner Schwester Minnie und seiner Cousine Stella inzestuöse Verhältnisse. Als Larry den künstlerischen Erwartungen Ediths nicht gerecht wird, wird er auf rücksichtslose Weise ins Seitenaus bugsiert, während sich Ira als originelles Talent erweist, das ein großes Werk im Stile von "Call it Sleep" in Angriff nimmt. In der Retrospektive allerdings geht Ira hart mit Joyce ins Gericht, wirft ihm Elitismus und Antisemitismus vor und macht ihn für die Entfremdung von seinen jüdischen Wurzeln und damit insgeheim für die langjährige Schreibblockade verantwortlich. Wie ein Apostat bürdet er Joyce die Schuld an seinem Scheitern auf.

In "Requiem für Harlem" bricht Ira schließlich aus der beengten, von Gewalt und Inzest gezeichneten Welt der jüdischen Immigranten auf, um als "writer in residence" bei Edith im Greenwich Village unterzuschlüpfen. Noch ausgeprägter als im vorangegangenen Roman tritt hier die innere Perspektive Iras zutage, finden sich kaum noch politische Verweise. Edith nimmt nach einer ungewollten Schwangerschaft, die sie einem ihrer verflossenen Liebhaber verdankte, eine Abtreibung vor, und Ira fürchtet, dass er seine Cousine Stella geschwängert hat, was sich jedoch als falscher Alarm herausstellt. Ira wird von seinen Begierden geleitet: Noch als er Stella zuvor zu einem Abtreibungstermin begleitet, möchte er es mit ihr auf dem Balkon eines Kinos treiben, wobei sie jedoch von drei bedrohlichen schwarzen Jugendlichen gestört werden, sodass sie die Flucht ergreifen. Schließlich zieht Ira aus den ärmlichen und beengten Verhältnissen seiner Familie in Harlem ins freundlichere Exil des Boheme-Villages, ohne die Dämonen der Vergangenheit hinter sich zu lassen. Wie der Satan in John Miltons "Paradise Lost" nimmt auch Ira die Hölle mit sich.

Auch wenn beide Romane die Fiktionalität trotz der autobigrafischen Grundierung für sich beanspruchen, stellt Roths Biograf Kellman mit Recht die tiefe Verwurzelung des Autors und seiner Charaktere in der historischen Realität heraus. Die Figur Edith Welles basierte auf der New Yorker Intellektuellen Eda Lou Walton, die Roths Talent entdeckte und ihm die Möglichkeiten eröffnete, seinen Debüt-Roman zu schreiben. Für sie war, schreibt Kellman, Roth der edle Wilde aus dem jüdischen Immigranten-Dschungel, der einen Kontrast zu den Village-Intellektuellen bildete. Im Grunde sah sie, als weiblicher Professor Higgins, Roth als ihre Erfindung an. Nach der Publikation rebellierte Roth gegen seine Erschaffung als Waltons Konstrukt im New Yorker Territorium. In diesem Sinne können auch sein unvermittelter Eintritt in die stalinistische Welt der Kommunistischen Partei Mitte der 1930er Jahre mit der konformistischen Rechtfertigung des Hitler-Stalin-Paktes, seine Flucht aus New York nach Hollywood, wo er nach allen Regeln der Kunst scheiterte, seine Zurückgezogenheit in der Einsamkeit Maines und später New Mexicos gewertet werden. Kellman verschweigt auch nicht Roths negative Charakterzüge wie beispielsweise die Weitergabe der väterlichen Gewalt, die er in seiner Kindheit und Jugend erfahren hatte, an seine Söhne, welche ihm daraufhin eine ausgeprägte Unfähigkeit als Vater attestierten.

Schließlich konnte er sein Opus erst nach dem Tod seiner Frau Muriel Parker 1990 veröffentlichen. Von welchen Dämonen der Vergangenheit wurde er gequält? Waren es nun die inzestuösen Beziehungen zu seiner Schwester und Cousine, die immense Erwartungshaltung nach seinem Erstlingswerk, das ihn beispielsweise ebenso lähmte wie Ralph Ellison, nachdem er mit "Invisible Man" einen modernen Klassiker erschaffen hatte? Fast war es zu spät, dass sich Henry Roth in den 1990er Jahren selbst neu erschuf. Von Krankheiten und Alterserscheinungen gezeichnet, blieb ihm nur wenig Zeit, seine Sicht der verschwundenen jüdischen Immigrantenwelt aus den Anfangsjahren des zwanzigsten Jahrhunderts festzuhalten. Im Gegensatz zu nachwachsenden jüdischen Autoren wie Saul Bellow oder Philip Roth, denen er wenig abgewinnen konnte, war Henry Roth unvermittelt mit der Gewalt der urbanen Welt New Yorks verbunden und ihr ausgeliefert. Sein unvollendetes Opus ist auch die Essenz eines beschädigten Lebens in einer fremden Welt, die am Ende in ihrer Fremdheit vertraut wird. Vor dem endgültigen Abschied verhalfen ihm die letzten Worte zur Errettung.


Titelbild

Henry Roth: Die Entfesselung. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Heide Sommer.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
528 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3596158257

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Steven G. Kellman: Redemption. The Life of Henry Roth.
W. W. Norton & Company, New York 2005.
372 Seiten, 23,50 EUR.
ISBN-10: 0393057798
ISBN-13: 9780393057799

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Henry Roth: Requiem für Harlem. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Heide Sommer.
Rotbuch Verlag, Hamburg 2005.
360 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3434531394

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