In Tälern, im Schatten der Berge und der Geschichte

Ein sehr dichter, dunkler Erzählband von Joseph Zoderer

Von Mario Alexander WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Alexander Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer mit der Bahn von Deutschland nach Italien reist, fährt über München, Rosenheim und Kufstein. Der erste Halt in Österreich, dann Innsbruck, weiter über den Brenner, und während die Berge höher, wilder und zerklüfteter werden und man im schattigen Tal sich bedroht und beengt fühlen kann, entdeckt man überrascht an den Bahnhöfen nicht nur Palmen, sondern zweisprachige Ortsschilder: Fortezza/Franzensfeste, Bressanone/Brixen und Bolzano/Bozen, bevor man die Alpen verlässt und sich im "richtigen" (also das, was man sich darunter gerne vorstellt) Italien befindet. Wer Glück hat, findet auf dieser Reise in einem Zugabteil eine Ausgabe der "Dolomiten Zeitung". Liest im Lokalteil nicht nur über Kulturveranstaltungen der deutschsprachigen Minderheit in Südtirol, sondern auch Berichte von und Einschätzungen der bundesdeutschen Innenpolitik. Südtirol, das seinen Blick über sich hinaus richtet, ist weit weg nicht nur vom deutschen Literaturbetrieb.

Von Joseph Zoderer, 1935 in Meran geboren, ist beim Hanser-Verlag ein neuer Erzählband erschienen. "Der Himmel über Meran". Auf dem Rückumschlag liest man ein Zitat der "La Republica": "Einer der eigenständigsten Erzähler unserer Zeit und zugleich schon ein Klassiker." Ich gestehe - und ich denke, ich spreche hier nicht nur für mich -, dass ich bis vor kurzem diesen Namen noch nie gehört habe. Wiederum ein Glück, wenn sich Versäumtes nachholen lässt.

Sechs neue Erzählungen bietet der Band "Der Himmel über Meran" des in Südtirol lebenden Schriftstellers Joseph Zoderer, der am 30. November seinen 70. Geburtstag gefeiert hat. Bis auf eine Ausnahme, die Beziehungsgeschichte "Die Nähe ihrer Füße", sind die Geschichten geerdet an Joseph Zoderers Heimat. Die Distanz zur, das Fremdsein in der Heimat, der man doch verhaftet bleibt, ist ein großes Thema. Das andere Thema ist das Scheitern der Kommunikation; das Bemühen um ein gegenseitiges Verstehen beendet in drei Erzählungen der Tod.

In der ersten, aller Einschätzung nach autobiografischen Erzählung "Wir gingen" schildert Zoderer das Dilemma der deutschsprachigen Südtiroler zur Zeit des Dritten Reichs anhand seiner eigenen Geschichte. Entweder "Heim ins Reich" oder Italiener werden; dies waren die Alternativen, dies hatten Mussolini und Hitler vereinbart. Die Familie geht nach Graz, der Vater kommt dort zur Einsicht: "Ich hab' einen Bock geschossen". Die Heimat gibt man nicht auf. In der letzten Geschichte, der Titelerzählung "Der Himmel über Meran", schließt sich der Kreis. Unter gänzlich anderen Umständen als anno 1940, in Erfahrung der Enge der Provinz, die dem Erzähler bewusst wurde bei Spaziergängen in New York oder im Berliner Grunewald, zunehmender Touristenströme, der "eigentlich erst seit einem Jahrzehnt" stechenden Adria-Sonne, der Katastrophen-, Attentats- und Kriegsnachrichten aus der großen, weiten Welt, die ihre Verbreitung auch zwischen den Bergen finden, stellt sich dem Erzähler die Sinnfrage: "Tatsächlich frage ich mich täglich, warum ich unter diesem geteilten Südtiroler Provinzhimmel herumlaufe und mich von Jahreszeit zu Jahreszeit quälen lasse von der Frage, wozu bist du hier, warum gerade hier?" Vielleicht um die Frage zu stellen, was es denn heißt, heute "unter einem Himmel Europas" zu leben. Das vereinte Europa, eine Phrase und ein Schlagwort in politischen Sonntagsreden, wird hinterfragt durch die Provinz, die wissen möchte, wie wir Europäer gemeinsam auf die weltpolitischen Herausforderungen - Stichwort: "Global denken, lokal handeln" - reagieren, ohne zu vergessen, dass Europa noch immer einem regionalen Fleckerlteppich gleicht.

Nicht, dass jetzt der Eindruck aufkäme, Zoderers Erzählungen drehten sich ausschließlich um Südtirol. Die lebensmüde Absage, dass man "sich die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren" müsste, um zu wissen, was der Andere denkt und fühlt - gesprochen vom Revolutionär Danton in Georg Büchners letztem Drama - findet sich in den Erzählungen im vorliegenden Band wieder. Südtirol kann überall sein. Da ist die 22-jährige Drogensüchtige Monika, mit den "Zahnlücken einer alten Frau im Mund". Monikas "Karriere" startete an einer Fronleichnamsprozession, Monika ruft aus der Psychiatrie an, wenn sie frische Wäsche und Geld braucht, Monika schneidet sich die Adern auf und spuckt auf die Kinder, Monika springt schließlich aus dem vierten Stock einer Klinik. Während "das ganze Dorf will, daß sie stirbt", und Monika einmal mehr vor dem Hause des Erzählers durchdreht, bewirtet dieser ruhigen Blutes seine Gäste aus Düsseldorf. Hier seid ihr, hier sind wir. Als Monika in der "Holzhütte" ihrer Familie aufgebahrt wird und das ganze Dorf ihr zum Totengedenken einen letzten Besuch abstattet, schreibt der Erzähler über seine Dorfnachbarn: "Und zum erstenmal habe ich sie vielleicht erkannt, sie standen da, ohne zu reden und seltsam voneinander getrennt, als lauschten sie Geräuschen, die sie vielleicht immer schon gehört hatten, diesmal aber wie zum erstenmal."

Joseph Zoderer ist ein Meister des Eröffnungs- und des Schlusssatzes. Einige seiner Erzählungen erinnern in ihrer Abgründigkeit, die einem erst Stunden, Tage nach der Lektüre bewusst wird, an Raymond Carver. Zoderers Sprache ist schlicht, eindeutig und unaufgeregt. Seine Geschichten sind es nicht. Ein großer Autor aus der "Peripherie", den es nördlich der Alpen zu entdecken gilt.


Titelbild

Joseph Zoderer: Der Himmel über Meran. Erzählungen.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
139 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3446206671
ISBN-13: 9783446206670

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