Briefwechsel mit Nummer Eins

Richard von Schirachs langwieriger Prozess, sich vom eigenen Vater zu lösen

Von Jürgen RöhlingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Röhling

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war", schrieb Heimito von Doderer. Richard von Schirachs Eimer enthielt viel: Geboren 1942, mitten im Krieg, als Sohn von Eltern, die der NS-Elite angehörten: der Vater "Reichsjugendführer", die Mutter Tochter des Hitler-Fotografen und -Freundes Heinrich Hoffmann. Von dem Leben der Eltern in unmittelbarer Nähe zu Hitler bekommt der Knabe nichts mit, er ist drei, als der Krieg und die Naziherrlichkeit zu Ende gehen. Den Vater, der in Nürnberg zu zwanzig Jahren Haft verurteilt wird, kennt der Sohn nur als Häftling im fernen Spandau.

1080 Briefe wechseln Vater und Sohn in dieser Zeit. Politische Themen sind im Umgang mit dem Häftling verboten, so erzählt man sich Privates. Der Vater kümmert sich aus der Distanz um die Erziehung, gibt Ratschläge zu Lektüre und klassischer Musik. Die ganzen 20 Jahre hindurch halten Richard von Schirach und seine Brüder dem Vater die Treue. Über Schuld, über die Nazizeit und Kriegsverbrechen spricht man in der Familie nicht. Vor Außenstehenden wird der Vater, der Spandauer Häftling Nummer Eins, verteidigt, wenn dies überhaupt notwendig war, denn im Nachkriegswestdeutschland hörte man selten kritische Worte über die verurteilten Nazigrößen. Wenn es sein musste, unterbrach der Sohn seinen Urlaub und fuhr von Rom direkt nach Berlin, um sich um eine Augenoperation für den Vater zu kümmern. Was er sagte, was er schrieb, wurde überaus ernst genommen. Der hinter dicken Mauer sicher verwahrte Vater, der nur selten für wenige Minuten im Monat besucht werden durfte, nie berührt werden konnte, war doch als Erzieher, geradezu Vorbild stets präsent. Den Tag der Entlassung 1966, nachdem die Haft auf den letzten Tag abgesessen wurde, feierten die Schirachs mit Sekt im Hilton. Doch die Welt außerhalb des Gefängnisses hatte sich verändert, die Söhne auch. Richard von Schirach erwartet vom Vater Rechenschaft über seine Zeit als oberster HJ-Führer, der die Deutschen für Hitler sterben lassen wollte, über seine Zeit als Statthalter von Wien, über seine bedingungslose Hitlertreue und sein Schweigen zur berüchtigten Posener Rede Himmlers, in der der Mord an den Juden unmissverständlich angekündigt worden war. Schirach war dabei gewesen. Die vom Sohn, der jetzt, 1966, Sinologie studiert und die moderne Literatur liebt, erwarteten Antworten bleiben aus. Der Vater kann sie nicht geben. "Ich habe einen Eid geschworen", ist sein hilfloser Rechtfertigungsversuch. Es kommt zum Bruch.

"Der Schatten meines Vaters" ist nicht primär ein Beitrag zur Geschichte des Dritten Reiches, auch nicht zu dessen Nachwirkungen. Es geht dem Autor um die Vater-Sohn-Beziehung, und er macht es sich, aber auch dem Leser, dabei nicht einfach. Lange kreist er um das Thema, beginnt naheliegenderweise mit dem Prozess in Nürnberg, entwirft dann lange und umständlich die Familiengeschichte. Die Vorfahren sind unverdächtige Bildungsbürger, evangelische Pfarrer, zwei Groß- und Urgroßonkel wurden sogar amerikanische Präsidenten, einer unterzeichnete die Unabhängigkeitsurkunde mit. Baldur von Schirach setzte diese Tradition nicht fort, sondern landete beim Antisemitismus. Wie er dazu kam, kann der Sohn nicht erklären, er versucht statt dessen eine eigene, ja eigenwillige Version der Entstehung des Antisemitismus überhaupt, in der fast nur Nicht-Deutsche vorkommen - Henry Ford vor allem, und Huston Steward Chamberlain. Beide waren zweifellos überzeugte, einflussreiche Antisemiten, doch hätte Schirach die gesamte deutsche Seite dieses Kapitels nicht weglassen dürfen, von "Turnvater" Jahn über den Historiker Treitschke und den Schriftsteller Arndt bis hin zu Hitler. Nur der wirre Germanist Adolf Bartels wird erwähnt - eine seltsame Auswahl.

Dieser nicht geglückte Einschub verdeutlicht das Grundproblem von "Der Schatten meines Vaters": Das Buch schwankt zwischen politischer Zeitgeschichte, Familienroman, Biografie und psychologischer Abrechnung mit einem verehrten, verhassten Vater, ohne sich für eine Variante entscheiden zu können. Seine Erzählung einer Kindheit im Nachkriegsdeutschland liefert nicht viel Neues. Schule, Internat, rechte Lehrer, miefige Vermieter-Kleinbürgerlichkeit, das alles kennt man und fände es nicht weiter interessant, wenn da nicht immer wieder die Erziehungsbriefe aus Spandau wären. Von den über 1000 werden aber nur sehr wenige auszugsweise zitiert. Der enorme Einfluss, den der Vater aus der Zelle heraus ausgeübt hat, lässt sich nur erahnen, so wenn der Sohn einmal beflissen und lobheischend vom Eindruck berichtet, den Beethovens dritte Sinfonie auf ihn machte. Doch der Vater, auch im Knast noch perfekt funktionierender Bildungsbürger, mahnt kalt zurück: "Vergiss nicht die späten Streichquartette!" Nur auf Richards Lektüreerlebnisse reagiert er oft gar nicht: Weder Ernest Hemingway noch gar Anne Frank entlocken ihm einen Kommentar. Der Sohn beginnt langsam zu ahnen, dass seine Welt nicht die des Vaters ist. Zum endgültigen Bruch kommt es aber erst, als der Vater nach der Haftentlassung das eigenständige Leben des Sohnes in Frage stellt und sich letztlich als besitzfixierter Spießer entpuppt, der dem Sohn vorhält, durch sein langes Studium noch nicht zum Hausbau gekommen zu sein. Das scheint das Schlüsselerlebnis zu sein, nicht die politische Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn. Bis zum Schluss ziehen sich durch das Buch psychologisch verständliche, aber wenig reflektierte Versuche, dem Vater eine positive Ausnahmerolle im "Dritten Reich" zukommen zu lassen, so wenn es heißt, er habe "als einziger" (!) die so genannte Reichskristallnacht als "verbrecherisch" und als "Schande" bezeichnet - nur wo, wann und wie er dies getan haben soll, erfährt man leider nicht.

"Der Schatten meines Vaters" ist ein schwieriges Buch zu einem schwierigen Thema. Wie schwierig es sein mag, sieht man daran, was fehlt: Der Tod des Vaters 1974 wird nur kurz erwähnt, seine Memoiren, die er, Albert Speer ähnlich, gleich nach der Haft vermarktete, finden keinen Wiederhall, obwohl sie doch zu den Fragen der Vergangenheitsbewältigung und der Vater-Sohn-Beziehung unerlässlich sein müssten; ebenso wie die zahlreichen Veröffentlichungen der Mutter, die gleichfalls nicht erwähnt werden. Die eigenen Eltern kennen zu lernen ist schmerzhaft, lernt Schirach; diesen komplexen Prozess konsistent darzustellen, ist ihm nur teilweise gelungen.


Titelbild

Richard von Schirach: Der Schatten meines Vaters.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
380 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3446206698
ISBN-13: 9783446206694

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