Unheilsam

Sándor Márais Roman "Die Fremde"

Von Klaus BonnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Bonn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr 2003 erschien der von Sándor Márai bereits 1934 verfasste Roman "A sziget" (dt. 'Die Insel') in Ungarn. Dass der Text jetzt auf Deutsch unter dem Titel "Die Fremde" vorliegt, mag befremden. Sicher, mit der Fremden ist die Tänzerin Eliz gemeint, derentwegen Askenazi seine Frau Anna verlässt und mit der er eine Zeit lang sein Leben teilt. Doch bei all dem Fremden, Fremdartigen und Befremdlichen, das den Text durchzieht, ist es kaum mehr zwingend, den Titel von der Insel zur Fremden hin zu verschieben. Man könnte eine Seelenverwandtschaft von Márais Hauptfigur zu Camus' Meursault aus "L'Étranger" (1942) ausfindig machen. Beide morden im Affekt, aus einem Reflex heraus. Der eine erwürgt eine Unbekannte im Hotelzimmer, weil sie so jämmerlich vor sich hin singt; der andere tötet einen Araber am Strand, weil ihn die Sonne geblendet hat. Beide hadern mit Gott, klagen ihn an und warten auf den irdischen Urteilsspruch. Aber mit der Insel in Márais Roman hat es eine besondere Bewandtnis. Die Insel wird einstehen für die endgültige Absonderung Askenazis von der Gesellschaft und ihrem Tun, für seine wenn auch elende Vereinzelung.

Zu Beginn der Erzählung taucht er als ein unscheinbarer Jemand am Urlaubsort auf, dessen Geschichte dann in langen, ineinandergreifenden Rückblenden aufgefächert wird. Viktor Henrik Askenazi, achtundvierzig, in Paris ansässiger Professor für orientalische Sprachen, hat nach langen Ehejahren seine Frau und Tochter verlassen, um fortan, nach einer flüchtigen Begegnung, mit der Tänzerin Eliz zusammenzuleben. Auch sie verlässt er bald, und Freunde wie Bekannte raten ihm, doch zur Erholung und Besinnung zu verreisen. Askenazi fährt an die dalmatische Küste und bezieht Quartier in einem renommierten Hotel. Noch vor seiner Ankunft schreibt er drei Briefe. Einen, in dem er Eliz, ohne ein "einziges Attribut der Zärtlichkeit" darum bittet, seine Frau zu werden. Den zweiten, in dem er die Scheidung einreicht, schickt er an Anna, den dritten an einen befreundeten Rechtsanwalt, der sich um die Scheidungsangelegenheit kümmern soll. Eliz, das erfährt Askenazi Tage später, ist aber bereits nach Brasilien abgereist, ohne eine Nachricht für ihn zu hinterlassen. Ein Anruf aus Paris, der Askenazi am Urlaubsort erreicht, versetzt ihn in Aufbruchstimmung sowie allgemein in einen Zustand zweifelsvoller Selbstbefragung, und das "wegen einer Frau".

Ein Großteil des Textes befasst sich mit Askenazis "persönliche(m) Verhängnis". Es ist eine Art Prozess, den sich Askenazi selber macht, den er durchläuft und der ihm gemacht wird. Man geht nicht fehl, das Buch als einen psychologischen Roman über die Ungenügsamkeit und Haltlosigkeit der Liebe auszumachen. Dabei steht der Argwohn über das soziale Verhalten von Kleingruppen und ihr Getratsche in komplementärem Verhältnis zur einsamen Haltung des Individuums und dem zunehmenden Misstrauen der Bedeutsamkeit des gesprochenen Worts gegenüber. Schon eingangs heißt es über deutsche Urlauber: "In der Tür erschien wie ein Schwarm die deutsche Tischgesellschaft, lärmend und unbefangen im sicheren Gefühl der Stärke, die der Zusammenschluß gewährt." Eine Konstante bis heute. Und nach dem Mord will jedem an dem besagten Herrn sofort sein "verdächtiges Benehmen" aufgefallen sein. Askenazis Reflexionen kreisen um die Idee einer "anderen, stummen Sprache", einer Sprache - man erinnert sich an Walter Benjamins 'reine Sprache' -, in die erst übersetzt werden müsste.

Einen Mangel, Verlust, der alles menschliche Leben grundiert und vorantreibt, spürt Askenazi verstärkt seit dem Antritt seiner Reise. Er denkt ihn anfangs noch als objektiv Erfassbares, worauf die körperliche Liebe vielleicht Antwort zu geben vermag. Nach der Trennung von Eliz schwindet diese Hoffnung. "Dieses 'Etwas', der Sinn so viel bitterer Praxis, der Sinn der Worte, Blicke, körperlichen Berührungen, des Sehnens, war das letzte, einzige Wort, war Antwort auf die Fragen, die die Körper einander stellten. Und dieses Wort ließ immer auf sich warten." Dass Askenazi nach dem Mord beim Gang durch die Stadt eine Sensibilisierung seiner Wahrnehmung registriert, liest sich wie eine verwegene Replik auf Hofmannnsthals Briefe des Zurückgekehrten oder die des Lord Chandos. "Er bemerkte Gegenstände, die er noch nie wahrgenommen hatte, selbst die einfachsten, alltäglichsten Dinge fielen ihm auf, ein Briefkasten, eine Straßentafel, eine staubige Spule im Schaufenster des Kurzwarenladens, eine weggeworfene Bananenschale auf der Straße, in einem Obergeschossfenster ein paar Blumen im Wasserglas."

Anstatt die Flucht zu ergreifen, setzt Askenazi am Abend mit einem Boot auf die Insel über. Die Insel, ein Ort unerreichbarer Vollkommenheit, der Abgeschiedenheit, ein trügerisches menschenleeres Elysium. Nach Einbruch der Dämmerung entkleidet er sich auf einer Anhöhe. Später, während des Zwiegesprächs mit dem Allmächtigen, breitet er, ganz nackt, die Arme aus, als sei er die leibhaftige Wiederkehr von dessen einzigem Sohn. Man mag an Hiob denken auf seinem Scherbenhaufen, auch an Kierkegaards Ausführungen zur Verzweiflung, wenn man sich die Szene vergegenwärtigt. "Ich habe das Beste gewollt, die klarste Formulierung, ich wollte deinen Text in die Sprache des Lebens übersetzen, so wie Du ihn ursprünglich gemeint hast... Leider, wie es aussieht, geht das nicht. Es fehlen Worte, sie sind grob und unzulänglich, kommen nicht annähernd an das Original heran...", lässt Márai den Verzweifelten sagen. Am folgenden Morgen werden ihn die Gendarmen von der Insel abführen.

Wer Márais Texte liebt, wird dieses Buch über die Abgründigkeit des menschlichen Daseins nicht missen wollen. Vor allem an Männer ist es gerichtet, die sich in einem Alter befinden, das man früher der Phase der Midlifecrisis zugeordnet hätte. Es wird seine Wirkung entfalten wie die Axt für das gefrorene Meer in einem, immer wieder, auch wenn es nicht 'Die Insel' heißt. Man weiß wohl, "das Meer hat nichts zu sagen", es kann nicht sprechen, und sein Text ist nicht zu übertragen. Von diesem Stummsein aber zehrt jede große Literatur.


Titelbild

Sándor Márai: Die Fremde. Roman.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer.
Piper Verlag, München 2005.
202 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3492047750

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch