Zum Sichten und Ordnen

Vier weitere Bände der Thomas-Bernhard-Werkausgabe bei Suhrkamp

Von André SchwarzRSS-Newsfeed neuer Artikel von André Schwarz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit den beiden herausragenden Romanen "Das Kalkwerk" und "Korrektur", der erstmals in einem Band versammelten "Autobiographie" und dem zweiten Teil der "Dramen" setzt Suhrkamp die verdienstvolle, auf 22 Bände angelegte Thomas-Bernhard-Werkausgabe fort.

Die Entstehungsgeschichte von Thomas Bernhards drittem Roman "Das Kalkwerk" mutet schon etwas kurios an. Im Jahr des Erscheinens von "Verstörung" schrieb der Autor an Siegfried Unseld über seinen geplanten neuen Roman, der, so Bernhard, im Herbst 1969 erscheinen sollte. In seinen Briefen berichtete er immer aufs Neue - und kaum einmal ohne die Bitte um neue Vorschüsse - dass ihn sein Werk "vollkommen in Anspruch nimmt". Sein Bauernhof im oberösterreichischen Ohlsdorf wurde ihm zu einer "eigenen Kerkerzelle" - auch wenn er in einem Interview mit Nicole Casanova 1978 behauptete, er habe die ersten sechs Jahre dort überhaupt nicht schreiben können. Die Fertigstellung verzögerte sich dann noch bis zum September 1970. Im selben Jahr erhielt er zudem den Büchner-Preis und sprach in seiner Dankesrede von den Problemen "mit der Arbeit fertig zu werden, in dem Gedanken, nie und mit nichts fertig zu werden [...] es ist die Frage: weiter, rücksichtslos weiter, oder aufhören, schlußmachen".

Sätze, die auch im "Kalkwerk" selbst stehen könnten, bearbeitet Bernhard doch darin erstmals eines seiner Hauptthemen, das des Künstlers ohne Werk.

Konrad, der Protagonist, arbeitet "seit Jahrzehnten" an einer philosophisch-wissenschaftlich-künstlerischen Studie über "Das Gehör". Dieses "ungeheure Lebenswerk", befindet sich angeblich vollständig in seinem Kopf, der Umzug mit seiner Frau in das Kalkwerk soll die idealen Bedingungen für die lange Jahre ersehnte Niederschrift der Studie schaffen. Dieses Vorhaben scheitert allerdings, das Kalkwerk ist für ihn aber in der Realität lediglich der Garant für die Unmöglichkeit der Niederschrift. Er bleibt ohne ein Werk, denn mit dem Mord an seiner Frau beraubt er sich auch der geringsten Möglichkeit einer Vollendung.

Virtuos entwickelt Bernhard hier den Typus des "hochintelligenten Geisteskranken", der an seinen eigenen Ansprüchen scheitert und dessen Streben nach Perfektion letztendlich in einer Katastrophe endet. Seine sprachlich geradezu unglaubliche Konstruktion wirkt nur vordergründig monoton, immer wieder windet sich der Text in den sich nur über Dritte mitteilenden Gedanken Konrads. Diese Vermittlungsweise erzeugt eine ganz eigene Sicht auf die Dinge und verstärkt - je nach Perspektive - die Tragik oder auch die Lächerlichkeit Konrads und der Studie über "Das Gehör".

Eine ähnliche gelagerte Konstruktion findet sich auch in Bernhards 1975 - ebenfalls nach mehrmaligen Verschiebens der Fertigstellung - erschienenen Roman "Korrektur". Roithamer, der Protagonist, möchte gleich zwei Werke schaffen, die allerdings auch wechselseitig voneinander abhängen. Das eine, seine Studie "Über Altensam und alles, das mit Altensam zusammenhängt, unter besonderer Berücksichtigung des Kegels", bildet zusammen mit "Tausenden von Roithamer beschriebenen Zetteln" den Nachlass, den Roithamer nach seinem Selbstmord dem Erzähler zum "Sichten und Ordnen" hinterlassen hat. In dieser Studie möchte Roithamer alles mit seinem Herkunftsort, dem Gut Altensam, Zusammenhängende erläutern und beschreiben. Diese Studie ist - im Gegensatz zu der von Konrad - bereits als ein fertiges Manuskript vorhanden, durch fortwährende Korrektur verkürzt Roithamer allerdings seine Schrift nach und nach von über 800 auf 20 Seiten, bis er die Studie schließlich vollständig aufgibt. Das weitaus monströsere Projekt ist aber ein Wohnkegel, den er "in drei Jahren ununterbrochener Geistesarbeit für seine Schwester entworfen und in den darauf folgenden drei Jahren mit der größten, von ihm selbst einmal als beinahe unmenschliche Energie bezeichnet, und zwar in der Mitte des Kobernaußerwaldes, gebaut hat." Dieser Kegel, der dem Wesen der Schwester "im Innersten" entsprechen soll, bringt ihr aber den Tod, das Bauwerk wird dem Verfall überlassen.

Auch in "Korrektur" demonstriert Thomas Bernhard seine Sprachkunst. Weniger verschachtelt als im "Kalkwerk", doch nicht weniger originell webt er ein dichtes Netz aus den hinterlassenen Notizen, den Anmerkungen des Erzählers und der Studie. Von der Kritik wurde "Korrektur" oft als inhaltsleere "Litanei" angegriffen, in der "nichts neues" zu erfahren sei. Doch die endlose Repetition - man denke nur an die Wendung "höllersche Dachkammer" -, die Redundanz, das Aufbauschen der banalsten Dinge schärft zum einen den Blick auf die ungeheure Tortur, die Roithamers Werk darstellt. Auf die Verlorenheit einer Person, die bereits über die "Kippkante" hinaus ist, eines Geistesmenschen, der in die "Übergeistigkeit", den Wahnsinn abgeglitten ist. Sie transportiert aber auch hier eine nicht zu verachtende Komödienhaftigkeit, einen bösartig erscheinenden Humor in der Tradition Johann Nestroys. Auch hier fällt die Entscheidung zwischen Komödie und Tragödie nicht leicht.

Im gleichen Jahr wie "Korrektur", kurz zuvor sogar, erschien im Salzburger Residenz Verlag der erste Band von Thomas Bernhards "Autobiographie" unter dem Titel "Die Ursache. Eine Andeutung". Die genauen Gründe für Bernhard, seine "Autobiographie" nicht bei Suhrkamp, seinem Hausverlag, erscheinen zu lassen, sind nicht ganz geklärt. Zum einen könnten Unstimmigkeiten mit Unseld eine Rolle gespielt haben, doch war wohl seine lange persönliche Bekanntschaft mit Wolfgang Schaffler ausschlaggebend. Als zweiter Band erschien 1976 "Der Keller. Eine Entziehung", 1978 folgte "Der Atem. Eine Entscheidung" und erst 1981 der vierte Band "Die Kälte. Eine Isolation", im Jahr darauf der letzte, "Ein Kind". Die Werkausgabe versammelt erstmals alle fünf Teile der "Autobiographie" in einem Band, eine solche Publikation war bereits in den 70er Jahren geplant, kam aber nie zustande.

"Nach der Ursache fragen wir / Ist es das / oder ist es das / fragen wir." Dieser Satz aus dem Stück "Die Jagdgesellschaft" steht für einen weiteren Komplex im Bernhard`schen Œuvre, der Frage nach der Herkunft und deren Bedingungen. Auch im fiktionalen Werk kommt er immer wieder auf diesen "Herkunftskomplex" zu sprechen, man denke an Roithamer in "Korrektur", Karl in "Ungenach" oder an die "Auslöschung". Die "Autobiographie" vereint nun beides, Realität und Fiktionalität. Schwer fällt es allerdings, Dichtung und Wahrheit auseinander zu halten. Bernhard selbst liebte es geradezu, mit den Fakten zu spielen, Geringes bedeutend und Bedeutendes gering zu machen. Vieles ist wahr, eine Konstante bleibt dabei immer die Prägung durch den Großvater, den Schriftsteller Johannes Freumbichler. Einiges an diesen Wahrheiten brachte Bernhard juristische Auseinandersetzungen ein, etwa mit dem Salzburger Pfarrer Franz Wesenauer, der sich im "Onkel Franz" aus "Die Ursache" wieder erkannte und vor Gericht einige Streichungen veranlasste. Der scheinbar unverkennbare Realitätsbezug ist allerdings mit Vorsicht zu genießen. Der "Kunstcharakter" der "Autobiographie" ist nicht zu verkennen, so richtig lässt er den Leser nicht an sich herankommen, er versucht, schreibt die Literaturwissenschaftlerin Eva Marquardt zu Recht, "sich eine eigene Vergangenheit in Form einer Geschichte zu entwerfen". Die fünf Bände der "Autobiographie" stellen also mehr eine Art "autobiographische Erzählung" dar, sie sind aber für das Verständnis Bernhards unerlässlich und der Anhang des 10. Bands der Werkausgabe bietet darüber hinaus ausführliche biografische Informationen.

Der 16. Band, "Dramen II", versammelt schließlich die Stücke "Die Macht der Gewohnheit" (1974), "Der Präsident" (1975) und "Die Berühmten" (1976) (Zum Band "Dramen I" siehe literaturkritik.de 09/2004). Nach vorhergegangenen Streitigkeiten im Zuge der Aufführung von "Der Ignorant und der Wahnsinnige" im Jahr 1972 musste Bernhard nach Rücksprache mit der Leitung der Salzburger Festspiele auf seinen Stammregisseur Claus Peymann verzichten. Uraufgeführt wurde "Die Macht der Gewohnheit" 1974 im Landestheater Salzburg. Regie führte auf Wunsch des Autors Dieter Dorn, in der Hauptrolle - wie zuvor in der Uraufführung der "Jagdgesellschaft": Bernhard Minetti. Im Stück spielt Bernhard gekonnt und mit deutlichen komödiantischen Elementen mit der Illusion der Perfektion. Der Mensch ist gefangen in einem zur Gewohnheit gewordenen Leben, in dem sich das niemals reibungslose Funktionieren als Teufelskreis entpuppt. Oder, um es mit Schopenhauer zu sagen: Das Lachen entsteht aus der Inkongruenz zwischen dem Anspruch und der Realität.

Das Stück "Der Präsident" entstand als eine Auftragsarbeit für das Wiener Akademietheater, es wurde am 17. Mai 1975 auf der zweiten Bühne des Burgtheaters uraufgeführt. Diese Aufführung trat allerdings schnell hinter die nur vier Tage später angesetzte deutsche Uraufführung in der Regie Claus Peymanns zurück, war diese doch am Tag des Beginns der Stammheimer Prozesse angesetzt. In der Presse machte die Runde, das Stück befasse sich "mit der Bedrohung durch Anarchisten"- eine doch eher unglückliche Formulierung. Politisch ist das Stück schon, doch tritt das künstlerische, die Selbstinszenierung und -zerstörung des eitlen Mächtigen recht eindeutig in den Vordergrund.

Dem dritten Stück, "Die Berühmten", gingen einige Streitigkeiten mit der Leitung der Salzburger Festspiele voraus. So kam es, dass es im Juni 1976 im Wiener Theater erstmals aufgeführt wurde. Pikanterweise lassen sich bei den in den ersten Szenen als Puppen erscheinenden "berühmten" Persönlichkeiten allesamt Verbindungen zu Salzburg herstellen, so etwa bei der Sopranistin Lotte Lehmann, dem Regisseur Max Reinhardt und dem Dirigenten Arturo Toscanini. Von der Kritik wurden "Die Berühmten" beinahe ausnahmslos links liegen gelassen, selbst Bernhard wohl gesonnene Kritiker waren enttäuscht. Auch die Literaturwissenschaft kann recht wenig mit dem Stück anfangen, und in der Tat ist es ein eher schwaches Werk, wirkt gelegentlich lustlos und etwas blutarm. Versöhnen kann das Thematisieren der ambivalenten Beziehung zwischen Künstler und Gesellschaft, aber auch dies tritt angesichts der weitaus wirkungsmächtigeren Beschäftigung mit diesem Komplex in anderen Werken zurück.

Gemeinsam ist allen Bänden - neben der doch recht ansprechenden Gestaltung - ein ausführlicher und erhellender Kommentar zur Entstehungsgeschichte, zur Überlieferungslage und den Grundlinien der Rezeption.


Titelbild

Thomas Bernhard: Das Kalkwerk. Werke in 22 Bänden. Band 3.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
300 Seiten, 32,90 EUR.
ISBN-10: 3518415034

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Titelbild

Thomas Bernhard: Die Autobiographie. Werke in 22 Bänden. Werke 10.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
580 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3518415107

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Titelbild

Thomas Bernhard: Dramen 2. Werke in 22 Bänden. Band 16.
Herausgegeben von Manfred Mittermeyer und Jean-Marie Winkler.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
419 Seiten, 36,90 EUR.
ISBN-10: 3518415166

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Titelbild

Thomas Bernhard: Korrektur. Werke in 22 Bänden. Band 4.
Herausgegeben von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
381 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 3518415042

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