Grämliche Weltverzweiflung

Wolfgang Hildesheimer in ausgewählten Briefen

Von Viktor SchlawenzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Viktor Schlawenz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seiner Erzählung "Poschiavo - Graz einfach" imaginiert Eckhard Henscheid eine Alpenodyssee Wolfgang und Silvia Hildesheimers zu einer Lesung im Forum Stadtpark. Henscheids Erzählung will es, daß sich der Fahrplan-erfahrene Hildesheimer ("tynset") im Streckennetz der Alpenregion mehrfach verfährt und an den Eckdaten seiner Existenz zu zweifeln beginnt: "Der wohl dem guten Weine sich dankenden Wohligkeit in seinem Inneren ungeachtet, überfiel den Reisenden kurzzeitig der Verdacht, ja das untrügliche Gefühl, daß seine Mozartbiographie, seine inzwischen weltbekannte Mozartbiographie, noch gar nicht fertig und auch nicht abgeliefert sei. Erst nach ungefähr einer halben Minute war sich Hildesheimer wieder doch recht sicher, daß die ja längstens abgeliefert, ausgeliefert und wahrscheinlich auch schon lang gedruckt war."

Im Herbst 1956 hat Hildesheimer, der unter dem "entsetzlichen bayerischen Klima" leidet, das Puschlavtal für sich entdeckt: "Poschiavo! Es hat die richtige Höhe, das richtige Klima, die richtigen Leute, keine Dichter oder andere Künstler", schreibt er an Friedrich Dürrenmatt, mit der Bitte, ihm und seiner Frau bei der Einbürgerung behilflich zu sein. Die eidgenössische Fremdenpolizei in Bern nämlich hat das entsprechende Gesuch abgelehnt, Hildesheimer hofft aber, die Behörde durch "ein paar Zeilen von Vertretern des ›geistigen Lebens‹" umstimmen zu können. Die schwierige Einbürgerung gelingt, und die Hildesheimers ziehen sich ins Bündnerland zurück, "15 km von der italienischen Grenze entfernt". Poschiavo liegt "ziemlich weit weg von allem. Wenn Sie von Norden kommen, müssen Sie über Zürich, Chur (umsteigen), Samedan (umsteigen), Pontresina (umsteigen) fahren", schreibt Wolfgang Hildesheimer an Walter Höllerer, den Herausgeber der Akzente, "wenn von Süden über Mailand, Tirano (umsteigen) und von dort direkt hier herauf."

Die selbstgewählte Abgeschiedenheit entspricht einem resignativen Zug, der sich in Hildesheimers Briefen offenbart. Die vorliegende Auswahl, die die Jahre 1947 bis 1991 umfaßt, macht dies recht deutlich. Die Frage, "ob das Leben sich lohnt", ist von Anfang an virulent. Als Simultandolmetscher bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen ist Wolfgang Hildesheimer nach Deutschland zurückgekehrt, und es ist "keineswegs leicht", in "einem Occupations-land" zu leben. Hildesheimer arbeitete für die Anklagebehörde der amerikanischen Militärregierung, eine nervenaufreibende Tätigkeit. Ein scharfer Winter macht ihn 1950 zum Dichter, er findet Gefallen am Schreiben, und nach und nach entstehen die "Lieblosen Legenden", jene Sammlung absurd-komischer Erzählungen, die den Autor schlagartig berühmt machen. Er wird Mitglied der Gruppe 47, liest mit Erfolg bei der 8. Tagung der Gruppe 1951 in Bad Dürkheim, beobachtet die Gruppe und den Kulturbetrieb jedoch mit zunehmender Distanz. Weder in Sigtuna/Schweden noch in Princeton/USA ist der Autor mit von der Partie, und er trägt, wie einige Briefe an Hans Werner Richter belegen, die Entscheidung über die Teilnahme oder Nicht-Teilnahme als "Gewissenskonflikt" in sich aus. In seinen Briefen kommt ein Moralist zum Ausdruck, der sich weigert, deutschen Boden zu betreten, solange Franz Josef Strauß in Bonn Minister ist, der die Gruppe 47 nicht nach Princeton begleiten kann, weil er fürchtet, dass diese Reise "als Bekenntnis der westdeutschen Schriftsteller zu Amerika" gewertet werden könne, und dies sei angesichts der Vietnam-Politik der USA nicht opportun. Wolfgang Hildesheimer isoliert sich von der Gruppe, steht aber in - offenbar regem - Briefkontakt mit Ilse Aichinger, Alfred Andersch, Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll, Paul Celan, Günter Eich, Hans Magnus Enzensberger, Max Frisch, Günter Grass, Walter Jens, Uwe Johnson, Joachim Kaiser, Fritz J. Raddatz, Peter Weiss und anderen. Offenbar rege - bei dem von Silvia Hildesheimer und Dietmar Pleyer herausgegebenen Band der Briefe handelt es sich um eine Auswahl, und leider ist an keiner Stelle zu erfahren, wie umfangreich die einzelnen Briefwechsel sind, aus denen die Auswahl getroffen wurde.

Die beiden Herausgeber wollen mit ihrer chronologisch geordneten Edition den Lebensabschnitt dokumentieren, der Hildesheimers Rückkehr nach Deutschland und zur deutschen Sprache, den Beginn seiner Autorschaft und seinen Tod 1991 umfasst. Die Briefe werden vollständig zitiert und behutsam kommentiert, auf bereits in anderen Zusammenhängen veröffentlichte Briefe wird verzichtet. Überhaupt sind "einige umfangreiche Korrespondenzkonvolute nur durch wenige Briefe vertreten". Mit einigen seiner Briefpartner, darunter Ingeborg Bachmann und Hans Werner Henze, Ilse Aichinger und Günter Eich, schreibt er sich mitunter Rollenprosa, die nach Art der "Lieblosen Legenden" Gemeinplätze aufnimmt und karikiert.

Die Idee zur erwähnten Mozart-Biographie, 1977 erschienen, läßt sich bis ins Jahr 1956 zurückverfolgen, als Hildesheimer für Alfred Andersch einen "Mozart-essay" erarbeitet, in dem auch einer "der so gern unterschlagenen ›Bäslebriefe‹" zitiert wird. Entstehung und Rezeption dieses Buches werden von werkgeschichtlich aufschlußreichen Briefen dokumentiert. Vergleichbar gut dokumentiert ist die Entstehung von "Masante" (1973) und von "Marbot", dem biografischen Roman aus dem Jahr 1981. Die Briefe sprechen häufig jedoch nicht von Produktivität, sondern von Depressionen, von Melancholie, vom Verstummen, von Pessimismus: "Ich bin immer zu jeder Wette bereit, daß alles schlimmer wird", schreibt Wolfgang Hildesheimer an Joachim Kaiser, "und hoffe immer, meine Wetten zu verlieren." Einer der längsten Brief gilt der Weltanschauung und Ästhetik des "›späten‹ Handke", die Hildesheimer zutiefst ablehnt. Er sieht in Handkes "Kult des Irrationalen faschistoide Züge".

Mitte der 80-er Jahre ist Hildesheimer für sein "Nichtschreiben" geradezu berühmt, auch ist sein Wunsch zu Reisen erloschen, seit er nicht mehr schreibt und auch seine Erfahrungen nicht mehr verarbeitet. Eine Germanistin, die sich nach Paul Celan erkundigt, läßt er wissen: "Außerdem wird mir, seit ich nicht mehr schreibe, auch das Briefschreiben sehr schwer." Quasi komplementär zum Verstummen des Schriftstellers findet der bildende Künstler Wolfgang Hildesheimer in seinen letzten Lebensjahren zu einer gesteigerten Produktivität, vor allem auf dem Gebiet des Collagierens. Dieser neue Aspekt ist freilich aus den Briefen kaum ersichtlich.

Titelbild

Wolfgang Hildesheimer: Briefe.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
400 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3518410695

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