Reisen am Kaffeehaustisch

In ihrem neuen Buch unternimmt Ilse Aichinger wundersame Streifzüge durch die Erinnerung

Von Carola EbelingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carola Ebeling

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wenn einer eine Reise tut, so kann er nichts erzählen: Das fiel mir schon ziemlich früh auf. Die unglaubliche Sprachlosigkeit Gesellschafts- oder auch Einzelreisender: Sie reicht nicht zur Stille, um so mehr zur Stummheit. Das gibt dann Lichtbildervorträge." Ein Reisejournal mit diesen Sätzen zu beginnen, kommt einer Provokation gleich. Doch trägt das Journal den Titel "Unglaubwürdige Reisen" - wer jetzt nicht stutzig wird und übliche Reiseliteratur erwartet, dem ist nicht zu helfen. Denn die Reisen, die Ilse Aichinger in ihrem neuen Buch unternimmt, finden im Kopf statt. Sie führen in die Vergangenheit, an bekannte und nie gesehene Orte. Und zu Menschen, zu Begegnungen, die für die Autorin bedeutsam genug waren, um nie in Vergessenheit zu geraten.

Zwischen September 2001 und Dezember 2004 hat Aichinger die Beiträge ihres Reisefeuilletons für die Wiener Tageszeitung "Der Standard" verfasst. Meist schrieb sie die kurzen Texte im traditionsreichen Wiener Kaffeehaus "Demel", jeden Donnerstag einen. An den anderen Tagen verbringt sie hier die Stunden, bis sie am Nachmittag ins Kino gehen kann. Das Kino ist eine Leidenschaft, die vor einigen Jahren zum ersten wöchentlich erscheinenden Journal für den "Standard" führte: "Das Journal des Verschwindens" bildet den zweiten Teil des 2001 veröffentlichten Buches "Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben".

Vieles, was schon diesen wunderbaren Band auszeichnete, taucht auch in "Unglaubwürdige Reisen" auf: Themen und Motive ebenso wie die sehr kurze Textform, die die Autorin zu einer ihr ganz eigenen Art der Miniatur entwickelt hat. Verknüpfte sie dort auf erstaunliche Weise Film und eigenes Leben miteinander, so führen hier die Reisen oft genug in die Biografie, die Erinnerung. Wieder ist das eigene Ich nie der Mittelpunkt eines Textes, sondern viel mehr Ausgangspunkt und Anlass über andere zu sprechen. Oder über eine Zeit, eine Beobachtung gesellschaftlicher Verfasstheit - in der Vergangenheit wie in der wach wahrgenommenen Gegenwart.

Eine der unglaubwürdigen Reisen führt in die Jägerstrasse in Wien, eines ihrer Häuser "hält bis heute eine Hetzjagd [auf], die nicht erst 1938 begann." Dort wohnte Frau Weber mit ihrer 11-jährigen Tochter. Sie stellte keine Fragen, maß Aichingers Großmutter nicht mit einem schneidenden Blick: Sie konnte dort einziehen, ohne viel Aufhebens. Es blieben ihr noch zwei Jahre bis zur Deportation nach Minsk. Aichinger galt als "Mischling ersten Grades", ihre Mutter war Jüdin und konnte überleben, weil die Tochter mit ihr wohnte. Aichingers Zwillingsschwester gelangte mit einem der letzten Züge nach England. Die Großmutter aber und weitere Verwandte mütterlicherseits wurden umgebracht.

Die Kriegszeit ist ein häufiges Reiseziel, die Erinnerungen führen oft dorthin. Und zu denen, die halfen - selbstverständlich, unspektakulär. Die darum im Gedächtnis bleiben, lange nach ihrem Tod: "Von Frau Weber und ihrer elfjährigen Tochter blieben nach einem letzten Luftangriff nur das Grundstück an der Schlossmauer und der Schutt übrig, der inzwischen aufgeräumt ist." Es ist ein traurig-lakonischer Sarkasmus, dem man auf Aichingers Reisen des Öfteren begegnet und der in ein, zwei Sätzen das Ungeheuerliche auf den Punkt bringt.

Die Autorin knüpft ein Netz, das Orte und Menschen, Erinnerungen und Gegenwart miteinander verbindet - und so sind ihre vielen Toten zwar verschwunden, aber keine vergangenen Existenzen. Viele endgültige Abschiede hat die heute 84-Jährige erlebt. Die Präsenz derer, die "fort" gegangen sind, beschwört sie in ihren Texten: Die Großmutter, der Vater, der Ehemann Günter Eich, ihr Sohn Clement. Aber auch Schriftstellerkollegen wie Thomas Bernhard oder Schulfreundinnen, deren "Sterbensarten" der Krieg diktierte, haben in Aichingers Erinnerungskosmos ihre prägenden Spuren hinterlassen. Im zweiten Teil des Buchs, das den Titel "Schattenspiele" trägt, spürt sie ihnen nach: "Schatten wechseln, streifen leicht vorbei, lindern, kühlen, aber ihre Möglichkeiten werden vom dem bestimmt, der sie wirft." Der hier seinen Schatten wirft, ist Richard Reichensperger, Aichingers "Lebensmensch", ihn sah sie täglich. Er ist der Herausgeber ihrer Werke und Initiator der Journale im "Standard". So trug er maßgeblich dazu bei, dass Aichinger nach sehr langem schriftstellerischen Schweigen wieder zu schreiben begann. 43-jährig starb Reichensperger nach einem Sturz im Frühjahr 2004.

In den ihm gewidmeten Texten ist der Ton fast unwirklicher Trauer spürbar, so plötzlich ist auch er verschwunden, so nah noch ist dieses Verschwinden. In einem Interview, mit dem der Band schließt, bekennt Aichinger, dass ihr ihre Existenz gleichgültig sei. Nicht erst im Alter, schon früh stellte sich diese Empfindung ein. Man erfährt darüber sehr viel im schon erwähnten Buch "Film und Verhängnis"; über diesen Willen zu verschwinden, der, wenn es gut geht, im Kino für kurze Zeit gewährt wird. Ein solcher Verlust, wie ihn der Tod von Reichensperger bedeutet, vermehrt den Schmerz über das "was nie mehr wiederkommt." Das eigene Dasein mag angesichts dessen noch überflüssiger erscheinen. Was aber alle Texte Aichingers auszeichnet, ist gerade das Beharren auf einer irgendwie sinnvollen Existenz. Es sind Plädoyers wider die Abstumpfung, die reglose Gewöhnung. Diejenigen, die eigenartig in diesem Sinne lebten, haben ihren unvergänglichen Platz in Aichingers Gedächtnis. In ihren "Schattenspielen", ihren Erinnerungs-Reisen, streift sie diese Menschen nur - ein aufgeschnappter Satz, eine Notiz, eine Postkarte können der Auslöser für dieses assoziierende, oft poetische Gleiten sein - und vermag doch, Wesentliches über sie zum Ausdruck zu bringen. Denen sie sich so nähert, ohne sie zu vereinnahmen, sind meist solche, die sich nie ganz zugehörig fühlten, es auch nicht waren. So wie Aichinger selbst bewegten sie sich am Rande.


Titelbild

Ilse Aichinger: Unglaubwürdige Reisen.
Herausgegeben von Simone Fässler und Franz Hammerbacher.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
187 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3100005279

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