Der Schnitt durch diesen Käse

Tucholskys literarische Abrechnung mit Deutschlands Maden zwischen Sargdeckel und Renaissance

Von Eva-Christina GlaserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva-Christina Glaser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"So kam ich unter die Deutschen. Ich forderte nicht viel und war gefaßt, noch weniger zu finden." Diese Worte des Hölderlin'schen Hyperion sind Tucholskys "Deutschland, Deutschland über alles" vorangestellt und bilden nicht nur das Epigramm für den stark umstrittenen Inhalt eines Buches, sondern sind darüber hinaus auch symptomatisch für den leidenschaftlichen und letztlich tragisch zu nennenden Kampf seines Autors für und gegen das, was er liebte. Denn ebenso, wie die ohnehin geringen Erwartungen des griechischen Helden von den barbarischen Sitten eines zerrissenen Volkes schließlich noch unterboten wurden, schied auch Tucholsky im Jahre 1935 mit der Gewissheit aus dem Leben, dass seine Heimat, um die er sich zeitlebens gesorgt, zu deren Rettung er in Tausenden Texten, Artikeln und "Schnipseln" die Messer gewetzt hatte, endgültig verloren war. Der gesunde Menschenverstand, sofern er überhaupt noch existierte, hatte sich letztlich als gegen all diese Bemühungen resistent erwiesen. Enttäuschung und Resignation sprechen denn auch aus den Worten des "aufgehörten Schriftstellers", die er kurz vor seinem Tode in einem Brief aus dem schwedischen Exil äußerte: "Mein Leben ist mir zu kostbar, mich unter einen Apfelbaum zu stellen und ihn zu bitten, Birnen zu produzieren. Ich nicht mehr. Ich habe mit diesem Land, dessen Sprache ich so wenig wie möglich spreche, nichts mehr zu schaffen. Möge es verrecken [...] - ich bin damit fertig."

Um wie viel weniger "fertig" erscheint dieser Mann, um wie viel kämpferischer begegnet uns der Tenor in dem nur wenige Jahre zuvor, 1929, entstandenen Bilderbuch über eben dieses Land, welches der Autor schon seit längerem vornehmlich aus der Ferne, dafür wohl aber umso scharfsinniger beobachtet hatte. Trotz beginnender Weltwirtschaftskrise deutet hier nichts auf die kurz darauf einsetzende Hoffnungslosigkeit voraus, nicht ansatzweise ist von ernst gemeinter Resignation zu sprechen. Im Gegenteil war es eine Art Pionierarbeit, die der Autor zu leisten beabsichtigte. Es ging ihm nicht nur darum, mittels reichhaltigen, teils zufällig entstandenen, teils gezielt erstellten, Bildmaterials das "Typische" an Deutschland zu präsentieren. Im Unterschied zu den "offiziellen" Bildwerken sollte der Querschnitt diesmal weh tun, und zwar all jenen, die sich in der Regel nicht getroffen fühlten, sondern es gewohnt waren, sich an dem gigantischen Käse, den das Land für Tucholsky - und nicht nur für ihn - darstellte, widerspruchslos satt zu essen: "Was sich beim Schnitt krümmt -: das sind die Maden. Auch sie sind Deutschland."

Scheint sich in der Weltanschauung des Autors dieses inklusive "auch sie" spätestens im Zuge der Hitler'schen "Machtergreifung" und der damit einhergehenden Verbrennung seiner Bücher schließlich in ein exklusives "nur sie" verkehrt und die "stille Liebe zur Heimat" sich gänzlich verflüchtigt zu haben, zieht er im Deutschlandbuch noch einmal alle Register seines satirischen Könnens, um die Missstände des Landes sowie deren Urheber öffentlich und vor allem unmissverständlich zu demaskieren. Verschont wird niemand und es waren derer viele, welche die pazifistische Berliner Schnauze auf dem Kieker hatte. Selbstgefälligkeit und Hybris der herrschenden Schicht werden ebenso an den Pranger gestellt wie Klassenjustiz und Inkompetenz der Politiker, soziale Ungerechtigkeiten in gleichem Maße angeklagt wie menschliche Untugenden, die etwa in Form von Devotion und Hypokrisie nicht nur im Richterstand, sondern auch im Klerus anzutreffen sind. All das kommt bei Tucholsky aufs Trapez, denn auch das ist Deutschland. Während diese Angriffe schärfer kaum hätten ausfallen können, zeigt sich jedoch anhand des finalen Textes "Heimat", dass der Titel des Buches, "jene Zeile aus einem wirklich schlechten Gedicht", nicht oder zumindest nicht nur ironisch verstanden werden will. Denn noch immer sieht sich der Autor als ein Teil dieses so gespaltenen Landes, dessen Berge, Seen und Wälder er liebt, weil sie so schön sind, und gegen dessen Untergang er anschreibt - "trotz alledem".

Die kürzlich anlässlich einer Berliner Tagung vollzogene Stilisierung Tucholskys, des überzeugten Anti-Nationalisten und engagierten Sympathisanten, um nicht zu sagen Schutzpatrons der Arbeiterschaft, zum "Medienmenschen", lässt sich nicht zuletzt auch durch sein Deutschlandbuch untermauern. Zumindest sofern man dieses Attribut nicht allzu negativ, als vornehmlich profane Konzentration auf bloße Effekthascherei interpretiert, sondern es auf die explizite Bemühung um Popularisierung tiefgreifender Inhalte anwendet. Ganz in diesem Sinne nämlich wird hier der an sich schon mannigfaltige Textkorpus, welcher vom pointierten Couplet, über dramenähnliche Mono- und Dialoge bis hin zum kulturkritischen Essay eine umfassende Akkumulation journalistischer Praxis bereitstellt, durch zahlreiche dokumentarische Fotografien ergänzt. Diese dienen keinem Selbstzweck, wie der Autor eigens betonte, sondern erfahren eine medienwirksame Instrumentalisierung, indem die Sprache, welche für Tucholsky bekanntermaßen stets erklärte Waffe war, durch das Bildmaterial noch wesentlich geschärft wird. Wo die Worte Bomben legen, bringen die Bilder dieselben zur Explosion - oder umgekehrt. Da wird der Kakadu zum Reichstagsabgeordneten, da sehen wir Köpfe von Reichsbahnpräsidenten, die "in die Hose gehören". Talare umhüllen Paragraphen, das Tarnungsnetz der Reichswehr bekommt den Status der Allegorie und im Anschluss an einen vermeintlichen Tatsachenbericht über den "typischen Drückeberger" Remarque rückt General Ludendorff wortlos an die Seite des braven Soldaten Schwejk.

So groß konnte wohl selbst die Ignoranz der dicksten Made nicht sein, als dass sie sich davon nicht getroffen gefühlt hätte, und so demütig dürfte sogar der Gehorsam des einfältigsten Arbeiters nicht gewesen sein, als dass ihm dadurch nicht die Augen hätten geöffnet werden können. Bleibt einem doch angesichts der erschreckenden Authentizität, die sich hinter aller Überspitzung verbirgt, noch heute zuweilen das Lachen im Halse stecken. Und dennoch, trotz aller Empörung und allen Zuspruchs, wurde und wird gelacht, auch und erst recht über so ein Bilderbuch. Am Ende nämlich, wie Tucholsky einmal selbst resümiert, sind es weder die großen Ideen noch die Vernunft, welche die Menschheit regieren. Zuallererst einmal ist es der Alltag mit seinen kleinen Sorgen und vor allem Vergnügungen, der den Menschen umtreibt. Nicht zuletzt damit lässt sich vielleicht erklären, dass die deutschen Wählermassen auch durch eine so restlos radikale Kritik an den Zuständen in ihrem Land nicht zur Besinnung zu bringen waren. "Die Welt will spielen" und daran vermochte auch Tucholsky nichts zu ändern.

Dass das kritische Porträt Deutschlands unter Hindenburg indes keineswegs nur ein gekonnt dokumentarisiertes Stück Zeitgeschichte darstellt, sondern auch in der Gegenwart kaum an politischer Brisanz eingebüßt hat, lässt sich allein schon an Sätzen wie "Wahre Macht ist anonym" oder "Welch ein Bumstheater ist die Wahl" belegen. Da überrascht es kaum, dass Tucholskys Bilderbuch in Kürze eine Renaissance ins Haus steht, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Hat es der Bochumer Journalist Timo Rieg doch unternommen, die alten Texte einem "Face-Lifting" zu unterziehen und das überkommene Bildmaterial durch aktuelle Fotografien zu ersetzen. Sicherlich ein Unterfangen, auf das man gespannt sein darf, dessen Gelingen aber aufgrund des einstmals ungetrübten Blicks auf "diesen Käse", der heute freilich von anderer Sorte, deshalb aber nicht viel ärmer an Löchern ist, kaum gefährdet sein dürfte.

Abgesehen einmal von der schwerlich erschöpfend zu behandelnden Frage, wie viel Tucholsky der Mensch eigentlich braucht, wie sie sich zuletzt im Kontext einer anderen Wiedergeburt seiner Werke, in Form der Publikation der 22-bändigen kritischen Gesamtausgabe bei Rowohlt, stellte, macht dieser zwölfte Band zumindest eines ganz deutlich. Ein Idealismus, der nicht anders kann, als am Niederträchtigen Kritik zu üben, eine Courage, die sich nicht scheut, kritischen Tönen unverhohlen Ausdruck zu verleihen, und schließlich die Fähigkeit, dieses mittels einer Pointe zu tun, all das sind Eigenschaften, die mit hoher Gewissheit zu keiner Zeit an Bedeutung verlieren werden. Und sie finden sich bei wenigen Autoren derart fokussiert wie bei Tucholsky - ganz unabhängig übrigens vom Gewande und der Dosis, in denen uns der Autor begegnet. Dennoch sollte man nicht vergessen, auch den ausführlichen kritischen Apparat, der die Primärwerke in der neuen Ausgabe ergänzt und der in diesem Band gut die Hälfte der Textmenge ausmacht, lobend zu erwähnen. Sicherlich findet sich auch hier die ein oder andere Information, die nicht jeder braucht. Dennoch sind die umfassenden Erläuterungen nicht anders denn als Gewinn für den Leser zu bezeichnen, und zwar insbesondere im Fall eines Werks, welches derart intensiv vom historischen Moment seiner Entstehung geprägt wurde und daher heute selbst als Zeugnis und Erläuterung der Geschichte rezipiert werden kann.

Bleibt zu hoffen, dass Fritz J. Raddatz, Leiter der Tucholsky-Stiftung, nicht Recht damit behält, dass die neue Ausgabe der kompletten Texte und Briefe den "Deckel auf dem Sarg des Werks" liefern wird. Da liegt es nun an uns, ob wir den notorischen Vielschreiber, dessen Œuvre uns mit dem noch ausstehenden Erscheinen der letzten Bände bald in bisher nicht gekanntem Umfang verfügbar sein wird, mit einem Gefühl zufriedener Beruhigung ob der vollzogenen Würdigung eines großen Mannes und seiner Arbeit in der hinteren Ecke des Bücherschrankes verstauen (vielleicht auch ein bisschen weiter vorne, wegen der Optik) oder ob wir ihm die Ehre erweisen, ihn auch heute wieder mehr als nur fragmentarisch zu lesen - und das, obwohl er nunmehr wirklich "fertig", nämlich bis zum letzten "Schnipsel" publiziert ist. Lohnenswert wäre die Lektüre allemal, auch und gerade im Fall des Bilderbuchs über Deutschland. Denn mögen dem heutigen Leser die Maden der Weimarer Republik "lediglich" Geschichte sein, könnte die spitze Feder eines Ignaz Wrobel oder Theobald Tiger indes noch immer so manche Krümmung initiieren, sofern man sich nur getroffen fühlte. Atchö, Tucholsky! oder Hello again! - "Jeder, wohin es ihn zieht".


Titelbild

Kurt Tucholsky: Deutschland, Deutschland über alles. Gesamtausgabe Texte und Briefe. Band 12.
Herausgegeben von Antje Bonitz und Sarah Hans.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2004.
498 Seiten, 44,90 EUR.
ISBN-10: 3498065416

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