Radikalere Fragestellungen

Helga Gallas liest Kleists Werk mit dem frühen Lacan

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Bremer Literaturwissenschaftlerin Helga Gallas gehörte in der deutschen Universitätsgermanistik vor etwa einem Vierteljahrhundert zu den Ersten, die die Theorien des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan für die Literaturwissenschaft fruchtbar zu machen suchten. Mit ihrem Buch "Das Textbegehren des Michael Kohlhaas. Die Sprache des Unbewußten und der Sinn der Literatur" (Reinbek: Rowohlt Verlag 1981) versuchte sie eine "schulgerechte Anwendung der strukturalen Psychoanalyse" Lacans, wie Bernd Hamacher in seinem Forschungsbeitrag "Schrift, Recht und Moral: Kontroversen um Kleists Erzählen anhand der neueren Forschung zu 'Michael Kohlhaas'" festhält (in: Inka Kording, Anton Philipp Knittel (Hrsg.): Heinrich von Kleist. Neue Wege der Forschung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003, S. 254-278; vgl. hierzu auch Axel Schmitt: Paradoxale Schreib-Formen. Vom Nutzen und Nachteil dekonstruktiver Kleist-Lektüren). Zugleich resümiert er: "Die Bedeutung ihrer umstrittenen Lektüre zeigt sich daran, dass sich noch siebzehn Jahre später Dirk Grathoff in einer für ein breites Publikum bestimmten Interpretation an ihr abarbeitet, um das 'Gleiten des Signifikats' zwar nicht für die Figuren der Erzählung, aber für die Leser schließlich doch wieder stillzustellen."

Der im November 2000 verstorbene Oldenburger Kleist-Spezialist Grathoff monierte bereits 1985 in einer längeren Rezension im Kleist-Jahrbuch "den forcierten Drang zum Paradigmenwechsel" bei der "neostrukturalistischen Schule" als "eine Erbschaft der aufgeregten 60er Jahre in unserer Disziplin, als jede neuerfundene oder wieder entdeckte Methodik mit allein-seligmachendem Universalitätsanspruch in der Literaturwissenschaft auftrat. So begreift sich die neostrukturalistische Diskursanalyse durchweg in Opposition zu den tradierten hermeneutischen Interpretationsverfahren, die den Texten 'Sinn' und 'Bedeutung' abgewinnen wollen, wobei andernorts freilich die exorzistische Attacke gegen die Geisteswissenschaften, denen der Geist ausgetrieben werden soll, sich immerhin selbstironisch zu drapieren weiß. Derlei Selbstironie fehlt bei Helga Gallas, ihr ist es bitterer Ernst, wenn sie das neue Kampffeld der Literaturwissenschaft betritt, um alte Methoden aus dem Felde zu schlagen und das Banner der neuen aufzupflanzen. Gleichwohl richtet sich ihr Angriff nicht gegen die Hermeneutik schlechthin, auch wenn sie im entscheidenden Verfahrensschritt ihrer Analyse die hermeneutische Frage nach der Bedeutung, der 'Repräsentation', wie sie es nennt, suspendiert; sie beschränkt sich vielmehr auf einen faßlicheren Gegner: die historisch-materialistische Literaturinterpretation."

Ähnliche 'Aufgeregtheiten' der Kleist-Forschung sind wegen Gallas' neuem Kleist-Buch kaum zu erwarten - nicht nur, weil ein Vierteljahrhundert seit ihrer lacanistischen "Kohlhaas"-Lektüre ins Land gegangen ist, der sie übrigens ein paar Jahre später (1986) unter anderem vor dem Hintergrund des Lacan'schen Hysterie-Diskurses eine faszinierende "Penthesilea"-Deutung zur Seite stellte, sondern auch und vor allem in erster Linie, weil Gallas mit Blick auf das Gesamtwerk Heinrich von Kleists den Aspekt des "Dazwischen", des "Sowohl als Auch", des schillernden Changierens "zwischen symbolischer und imaginärer Identifizierung" betont, wie sie bereits im Untertitel ihres Buches resümiert.

Dabei appliziert Gallas die Theorie des frühen Jacques Lacan auf das Werk des 'Unzeitgemäßen' - weniger um die psychoanalytische Dimension der Texte Kleists zu beschreiben, als vielmehr darum, die "historische" Verankerung seines dichterischen Œuvres neu zu vermessen. Gallas' Ziel ist es dabei, die in der Forschung immer wieder diskutierten "Grundantinomien" des Kleist'schen Werks zwischen Aufklärung und Gegnerschaft zur Klassik auf der einen Seite und seiner unzweifelhaft modernen Sprachauffassung auf der anderen Seite neu zu bestimmen. Ausgangspunkt für Gallas' Lektüre ist die These, wonach das Werk Kleists (nicht jedoch die Briefe) den "Übergang von der vorbürgerlichen zur bürgerlichen Gesellschaft" paradigmatisch reflektiert. Dieser historische Übergang, andernorts auch als 'Sattelzeit' bezeichnet, lasse sich "mit der Begrifflichkeit des frühen Lacan als Ablösung der symbolischen Mechanismen der Vergesellschaftung durch imaginäre beschreiben."

Kleists dichterisches Œuvre betone "die willkürliche Seite der symbolischen Ordnung und ihres Gesetzes". Dabei erfolge "schließlich aber fast immer eine den Leser verstörende Unterwerfung der Protagonisten unter das Gesetz, das in einer zweiten Volte wiederum umgangen wird." Im Zentrum der Werke stehe "eine Beschämung: ein gekränktes Subjekt kämpft wie in der alten Welt der Epen um die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung seines Ranges." Ihre "Feuerprobe" hat Gallas' Ausgangsthese nicht zuletzt an der Liebeskonzeption zu bestehen. Gallas fragt einleitend zu Recht: "Ist die außerordentliche Betonung des Vertrauens, des Gefühls bei Kleist als ein Anzeichen der neuen imaginären Beziehungen zwischen den Subjekten zu interpretieren oder handelt es sich - ganz unrousseauistisch - um Reste der alten symbolischen Identifizierungen, die aus der offiziellen Kodifizierung der sozialen Realität verschwunden sind und nur noch im Innern der Menschen überlebt haben; zeigt sich also in dieser Betonung des Gefühls, der 'inneren Stimme', die Ablehnung der alten symbolischen Ordnung zugunsten einer 'natürlichen' oder vielmehr die Präsenz des alten Gesetzes in der modernen Ordnung?"

Während für den "großen Anderen", den "symbolischen Anderen" nach Lacan in erster Linie die Bereiche "der Gesetze, der Sprache, der Bereich der gesellschaftlichen Ordnung" agieren, fungiert die imaginäre Identifizierung mittels "Bilder[n] und Geschichten, die dem Subjekt vorstellen, was es sein möchte". Deren Preis ist die Brüchigkeit, ihre Instabilität und beständige Ergänzungsbedürftigkeit, letztlich der Zwang zur Wiederholung, zur Bestätigung. Oder in den Worten von Helga Gallas: "Die imaginären Identifizierungen schaffen keine Sicherheit, sie 'halten' nicht." Demgegenüber werden symbolische Identifizierungen "internalisiert, sie können vergessen werden und sind dennoch wirksam. Das Subjekt hat den Blick des großen Anderen in sich aufgenommen, ihn zu seinem eigenen gemacht oder: es sieht sich selbst von dem Ort des Anderen aus. Demgegenüber können die imaginären Identifizierungen nicht vergessen werden, das Subjekt bleibt immer auf das Gegenüber angewiesen, auf Bestätigung, Liebe und Bewunderung vom anderen. Diese Identifizierungen müssen daher immer erneuert oder in Rivalitätskämpfen bestätigt werden. Die imaginären Identifizierungen produzieren Subjekte, die ständig fragen: Wer bin ich eigentlich? Subjekte, die sich wie 'nicht echt' fühlen, Subjekte, mit denen wir es in der Literatur seit dem 18. Jahrhundert zu tun haben."

Zugleich ensteht nach Gallas, die bei ihrer Kleist-Lektüre immer wieder auf die Fortentwicklung der Lacan'schen Terminologie durch Matthias Waltz rekurriert, die imaginäre Identifizierung, das Schwinden des Begehrens, "das leidenschaftliche Wünschen eines Objektes, einer Sache", was schließlich zum Zusammenbruch des Begehrens und zur Langeweile führe. "Vor dieser Folie", um noch einmal ausführlich zu zitieren, würden "symbolische Mechanismen der Vergesellschaftung [...] seit dem 18. Jahrhundert zunehmend durch imaginäre abgelöst" und es ließen sich viele Besonderheiten des Werkes von Heinrich von Kleist besser verstehen: z. B. die Abneigung der Kleist'schen Protagonisten, sich festlegen zu lassen, die Rolle von Gesetz und Tod, von Gewalt und Sexualität, das Interesse an der Aufhebung der Geschlechterdifferenz und der besondere Stellenwert von Gefühl und Vertrauen."

"Alle bemerkenswerten Erzählungen Kleists, gar nicht zu reden von seinen Stücken und vielen seiner Anekdoten und kurzen Arbeiten, enthalten thematische Elemente, die das Recht betreffen - oft verwirrende und paradoxe Elemente", bemerkt J. Hillis Miller in seinem Aufsatz "Die Festlegung des Gesetzes in der Literatur - am Beispiel Kleists" (in: Nikolaus Müller-Schöll, Marianne Schuller (Hrsg.) unter Mitarbeit von Susanne Gottlob: Kleist lesen. Bielefeld: transcript Verlag 2003, S. 181-208; vgl. hierzu auch meine Besprechung "Lücken im Verstehen". in: www.kleistonline.de). "Die Frage des gerechten oder ungerechten Handelns war für Kleist ein grundlegendes Thema. Der Zusammenstoß verschiedener Arten des Gesetzes mit individueller menschlicher Erfahrung faszinierte ihn: göttliches Gesetz, bürgerliches oder menschliches Gesetz, moralisches Gesetz, physikalisches Gesetz (zum Beispiel das Gesetz der Kausalität) und ästhetisches Gesetz (zum Beispiel die Jahrtausende alten, mindestens bis zu Aristoteles zurückgehenden Annahmen, wie man zu einer wohlgestalteten und zusammenhängenden Erzählung kommt, und deshalb über die Erzählung zur Wahrheit)." (J. Hillis Miller, S. 184)

So sehr Gallas' Ansatz in vielen Punkten spannend und innovativ ist, kann sie mit ihrer Definition von Gesetz eben nur einen Teil - wenn auch den wesentlichsten -, dessen abdecken, was bei Kleist im Zusammenhang mit "Gesetz" mitzudenken ist, vor allem den von Miller erwähnten Bereich des "physikalischen Gesetzes", der nicht zuletzt auch und vor allem in der "Penthesilea" in Anschlag zu bringen ist.

Erst am Ende der Weiterentwicklung ihrer "Penthesilea"-Lektüre von 1986 widmet sich Gallas dieser Tragödie unter dem Titel "Das Todesbegehren der Penthesilea und die Maximen der Iphigenie - Antike und Moderne bei Kleist und Goethe."

Zuvor gilt nach den einleitenden Bemerkungen zum Paradigmenwechsel "von der vorbürgerlichen zur bürgerlichen Gesellschaft" im ersten Kapitel Helga Gallas' Augenmerk in Kapitel II "Kleists Doppelschlüssen" bzw. dem "Triumph über das Gesetz durch Literatur". "Den ambivalenten Status des Gesetzes bei Kleist" verdeutlicht die Autorin in erster Linie mit Blick auf den "Homburg", wobei sie vor allem Jochen Schmidts Stoizismus-Interpretation - mit guten Gründen - in Frage stellt, indem sie nicht zuletzt die komische Seite dieser stoischen Haltung betont, wenn der Kurfürst in leicht bekleidetem Zustand von der vermeintlichen Rebellion vernimmt, beziehungsweise auch, indem Gallas die "offen sadistischen Züge" des Kurfürsten aufzeigt. Das Ende des Dramas liest sie als Bestätigung ihrer These von der "Anerkennung des Gesetzes" und der parallel laufenden "Aushebelung" des Gesetzes. Insofern erreiche der Kanonendonner des Kurfürsten am Ende den Prinzen nicht mehr wirklich, er verbleibe in einem eigenartigen Zustand des Triumphes über das Gesetz, den er in seiner Unsterblichkeitsfantasie imaginiert habe.

Im dritten Kapitel stellt Gallas Kleists Verhältnis zu Rousseau ins Zentrum ihrer Überlegungen, um das Fazit zu ziehen: "Die symbolische Ordnung funktioniert in Kleists Welt, sie behält ihren Wert, lediglich ihre Legitimation wird unklar." Insofern sei "eine dekonstruktivistische Leseweise, die in diesem Werk die Zertrümmerung jedes konsistenten Sinns sieht, [...] verfehlt." Die Eposstruktur der Werke Kleists, die wiederum nur mit dem inhaltlichen Motiv der Beschämung und Beleidigung verknüpft wird, fungiere bei Kleist gleichsam als Türöffner "zum Symbolischen".

Kapitel IV behandelt "Liebe und nationales Engagement als zwei Wege der Identifizierung", wobei "Die Verlobung in St. Domingo" im Zentrum steht. Gallas liest die "Verlobung" als eine Erzählung, in der nationales Engagement und Liebe "als zwei Auswege aus der mangelnden symbolischen Identifizierung und deren Folgen, der Verunsicherung, des Nichtwissens, wer bin ich und was will ich", sich kreuzen und widersprechen, eine Lesart, die zugleich den Vorteil hat, dass Gallas auch einen breiteren Konsens der neueren Forschung integrieren kann, wonach die Erzählung "auch als Dokument des Widerstands gegen die napoleonische Besatzung zu lesen und also als ein Plädoyer für den Aufstand" zu sehen sei.

In Kapitel V macht Gallas die Probe aufs Exempel, untersucht die "Romantische Liebesauffassung" und kommt zum Fazit: "Kein Schriftsteller um 1800 außer Kleist hält am Sexualakt in seiner symbolischen Bedeutung fest." Denn bei Kleist, so Gallas, vertreten Frauen "das symbolische Gesetz, das Kleist in der Moderne bewahrt sehen möchte; entweder sie tragen es in sich oder sie werden durch den Sexualakt verwandelt: sie werden zu Heiligen im symbolischen Sinne, nicht im romantischen".

Der Logik des späten Lacan - anhand dessen "Antigone"-Interpretation - folgt Gallas' abschließender Blick auf "Penthesilea": Das Symbolische ist defizitär, die Signifikanten verweisen immer nur auf den nächsten Signifikanten, weshalb Kleists "Penthesilea" folgerichtig in "ein Jenseits der symbolischen Wirklichkeit", in den "sogenannten zweiten Tod" münde. Zwar folge Kleists Werk "im wesentlichen der Linie, die der frühe Lacan gezeichnet hat", indem das Symbolische seinen Wert behalte, wenn es auch "fragwürdig geworden" sei, "aber nicht aufgehoben". Der Bruch zwischen dem Festhalten am alten Symbolischen zum einen und die Entdeckung des Realen als der Auflösung des Symbolischen und der Konfrontation des Subjekts mit der absoluten Kontingenz", wie sie Gallas in der "Penthesilea" durchgespielt sieht, ist "interpretatorisch nicht aufzulösen."

Es macht die Stärke dieser Lesart aus, dass sie Brüche nicht partout harmonisieren will und dass sie die historischen Wurzeln der Texte Kleists nicht negiert. Wenngleich bei der methodischen Zugangsweise Überzeichnungen und Verzeichnungen nicht ausbleiben, wie etwa in der "Homburg"-Lektüre, blendet Helga Gallas in ihrem neuen Kleist-Buch eben nicht, wie Grathoff noch anlässlich ihres "Kohlhaas"-Bands kritisiert hat, "die altmodischen hermeneutischen Fragen nach 'Sinn' und 'Bedeutung' aus", sondern stellt sie neu und meist auch radikaler. Bleibt zu hoffen, dass ihre Kleist-Lektüre mit Lacan noch weitere und, ebenso wie im Falle ihres "Kohlhaas", intensivere Auseinandersetzungen nach sich ziehen wird.


Titelbild

Helga Gallas: Kleist. Gesetz - Begehren - Sexualität.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
248 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-10: 3861091771

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