Der Wald und die Bäume

Der MERKUR befasst sich in einem Doppelheft mit dem Problem der Realität; im Hanser-Verlag erscheinen Essays von René Girard über die verkannte Stimme des Realen

Von Stefan DegenkolbeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Degenkolbe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit der Nummer 677/678 erscheint der MERKUR wieder als Doppelheft "mit langem Haltbarkeitsdatum". Der klangvolle Titel "Wirklichkeit! Wege in die Realität" verspricht viel. Denn schließlich herrscht derzeit geradezu eine neue "Sehnsucht nach Wirklichkeit". Die Wirklichkeit scheint nämlich etwas zu sein, das keiner kennt, wird sie doch dauernd durch alles Mögliche verdeckt: durch Medien, durch Ideologien, am Ende gar durch die Sprache. Schließlich hat, wer "Baum" sagt, noch lange keinen Wald, sondern allenfalls einen Begriff oder gar nur den flüchtigen Hauch einer Lautfolge. Bäume und Wälder werden sich so wohl kaum finden lassen. Der MERKUR verspricht hier Orientierung. Das Problem der Wirklichkeit soll von seinen verschiedenen Seiten beleuchtet werden: philosophisch, politisch, historisch, ästhetisch. Und zum Schluss soll der Wald inszeniert werden, den man bis dahin vor lauter Bäumen noch gar nicht sehen konnte: "Keine Reflexion - Darstellung! Endlich nicht nur die Sehnsucht nach Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit selber...".

Hans Ulrich Gumbrecht sieht in der Sehnsucht nach Realität eine Reaktion auf den Verlust von Substanzialität bzw. Essenzialität. Die Philosophie habe sich von diesen beiden Formen entfernt und es sei nicht sicher, ob es einen Weg zurück gebe. Alle Substanzialität sei als missverstandene Phänomenalität entlarvt worden, und nun scheine die Philosophie vor dem nächsten Schritt zu zögern. Vorläufig bleibe die philosophische Ästhetik als Erfahrung der Grenze zwischen Noumenalem und Phänomenalem die größtmögliche Annäherung an die Substanz des Seins. Doch bleibe diese Substanzialität als Sonderfall unbefriedigend. Es scheine aber dennoch nicht mehr möglich zu sein, als "Momente von Substanzialität zu suchen, zu genießen und andere auf sie zu verweisen." Es will scheinen, als propagiere Gumbrecht hier den ästhetischen Schein von Substantialität als hedonistisches Genussobjekt. Genuss als Protest gegen eine Wirklichkeit, von der man nicht mehr annehmen darf, als dass sie eine symbolische Repräsentation in einem substanzlosen Symbolsystem sei?

Schließlich scheint doch alles irgendwie nur symbolische Repräsentation zu sein. Niemand von uns weiß, was die Substanz des Goldes ist, und der größte Teil seiner bedeutsamen Eigenschaften geht von Symbolsystemen aus, von gesellschaftlichen Institutionen, ihren Regeln und Gepflogenheiten, repräsentiert durch Begriffe und ihre sprachliche Verwendung. Doch, erwidert Marcus Willascheck, es werde kein Klumpen Gold durch die Sprache und ihre Zeichen hervorgebracht, genauso wenig, wie ihn mittelalterliche Alchimisten aus einem anderen Material herzustellen vermochten. Der konstruktivistische Ansatz, der von der Annahme ausgehe, dass wir zu der Realität des Goldklumpens nur auf dem Weg der Repräsentation Zugang haben, setze eine repräsentationstranszendente Realität dieses Klumpens voraus, die als solche aber überhaupt nicht zu erfassen oder zu bestimmen sei. Willaschek fordert daher eine Rückkehr zu einem alltäglichen Verständnis von Realität: der Apfel hängt am Baum und nicht als Repräsentation an einer Repräsentation; der Wald, in dem wir uns verlaufen, obwohl wir ihn vor lauter Bäumen nicht sehen können, ist einfach ein Wald - oder er ist ein unlösbares philosophisches Problem. Willaschek versteht die Welt als weitestgehend vom Denken und Erkennen unabhängiges Objekt, das allerdings nie vollständig beschrieben und erkannt werden kann. Doch das schließe nicht aus, "dass wir viele Teile und Aspekte der Wirklichkeit sehr wohl korrekt beschreiben und erkennen können. Ein solcher Alltagsrealismus ist für sich genommen keine intellektuell aufregende These. Doch wenn die Zeitungen voll von Meldungen über Menschen sind, die angeblich Hunde beißen, dann kann auch 'Hund beißt Mann' eine Schlagzeile wert sein."

Natürlich gehört zur Frage nach der Realität auch die nach der Realität Gottes. Dazu wussten schon Augustinus und Thomas von Aquin Bedeutendes zu sagen. Wolfgang Marx' Frage nach der Schöpfung des Menschen hätten sie allerdings wahrscheinlich nicht einmal in den Rang einer Blasphemie erhoben: "Wie aber hat Gott es gemacht? Das hätte ich schon als Kind gern gewusst, mich aber nie zu fragen getraut; und die Heiligen Schriften sind oft gerade an den interessantesten Stellen ein wenig unscharf. So wird beispielsweise im ersten Buch Mose berichtet, Gott habe Adam nach seinem Bilde gemacht. Was in aller Welt kann das heißen, wo Gott doch ein immaterieller Geist ist? Und [...] wie weit geht diese Ebenbildlichkeit? Hat Gott auch dieses Ding zwischen den Beinen, für das es in meiner Familie kein Wort gab und das niemals erwähnt wurde?" Vielleicht hätte man bei Marxens doch offener darüber reden sollen; doch daran ist jetzt nichts mehr zu ändern.

An den Aufsätzen über Realpolitik zeigt sich, dass es tatsächlich ein Problem mit der Realität gibt. Denn im Wesentlichen werden zwei Positionen diskutiert, die in reiner Form kaum jemals vorkommen dürften: Pragmatik und Ideologie. Dass der Realitätssinn in beiden Fällen auf eine unübersichtliche Gegenwart gerichtet ist, und dass der wesentliche Unterschied der beiden Positionen in der Vorstellung der Gestaltung bzw. Gestaltbarkeit einer unvorhersehbaren Zukunft liegt, wird meist übersehen. Am Ende scheint der ein Realpolitiker zu sein, der sich gleich von den so genannten Sachzwängen leiten lässt oder der, der es dann später immer schon gewusst hat. Genau mit diesem Problem beschäftigt sich Stephan Schlak, wenn er die politischen Theorien von Wilhelm Hennis und Jürgen Habermas vergleicht: Hennis betrachtete Politik als "praktische Wissenschaft", während Habermas eine Theorie konstruiert, die das Unmittelbare diskriminiert.

Ob die im MERKUR vorgeschlagenen Zugänge zur Realität auf dem Weg der Ästhetik wirklich hilfreich sind, ist zu bezweifeln. In einigen der Aufsätze zum Realismus in Kunst und Literatur zeigt sich aber auf eindrückliche Weise, wie diffizil es ist, allein die Frage nach der Realität in einer sinnvollen Weise zu stellen. Da werden Goethes Beschreibungen von Italien und Romanfiguren von Thomas Wolfe auf ihren Realitätsgehalt hin untersucht, ohne dass dabei diskutiert würde, inwiefern das Urteil darüber auch von der Perspektive des Kritikers abhängt.

Doch es gibt Hoffnung: Das Vorwort hatte ja versprochen, dass am Ende nicht mehr nur über Realität geredet werde, sondern dass der Leser vor die Wirklichkeit selbst gestellt werde. Gut, wer mag, kann der Einladung folgen und in den "Privaten Wirklichkeiten" Stefanie Holzers mit ihr zum HNO-Arzt gehen oder auch einfach zusammen mit Michael Rutschky aus dem Fenster schauen. Oder man geht einfach mal in den Wald, Bäume suchen...

Dass der Hanser Verlag den Titel von René Girard in dieser Ausgabe des MERKUR annonciert hat, wird sicherlich auch auf die Verwandtschaft des Themas zurückzuführen sein: "Die verkannte Stimme des Realen". Im Vergleich zu den Texten des MERKUR finden wir hier eine völlig andere Position vor. Zu einem nicht geringen Anteil ist dieser Unterschied der Tatsache zu verdanken, dass Girard ein bekennender und strenger Katholik ist, einer, der die Wahl Ratzingers zum Papst öffentlich begrüßt hat und auch dessen Geißelung des neuzeitlichen Relativismus. Aus seiner Position ist die Unterscheidung von Wald und Bäumen kein begriffliches Dilemma, wer den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht, hat für Girard zuallererst ein Problem mit der Wahrnehmung.

In seinen Essays bemüht sich Girard darum, einen nicht trivialen Realismus zu rehabilitieren. Als Kulturanthropologe beschäftigt ihn dabei ganz besonders die Bedeutung der Mythen, die er mit den Methoden der von ihm entwickelten mimetischen Theorie interpretiert. Diese Theorie basiert im Wesentlichen auf der Annahme, dass die treibende Kraft des menschlichen Verhaltens und Handelns nicht Interessen, Wünsche oder Begierden seien, sondern zuallererst der Drang zur Nachahmung. Für die Interpretation der Mythen bedeutet dies, dass sie nicht einfach als fiktionale Texte behandelt werden, mit denen Gesellschaften die Wissenslücken ihrer Welt schließen, sondern dass die Mythen einen erkennbaren Bezug zur Realität der Gesellschaft haben, in der sie entstanden sind. Der Mythos ist ein Abbild der Gesellschaft, der er entstammt, und keine unabhängige Fiktion. Die Grundbewegung der meisten Mythen, in denen der Ursprung einer Gesellschaft dargestellt wird, bezeichnet Girard als "Sündenbockmechanismus". Wenn eine Gruppe beunruhigt werde, dadurch, dass sie oder ihre Umwelt sich verändere, dann suche sie dafür einen Grund. Im Mythos sei der Grund meist ein Fremder, einer, der nicht dazugehöre, gleich ob Gott oder Mensch. Das diagnostizierte Problem der Gruppe werde dem Fremden angelastet. Dass die Anschuldigungen im Mythos, wie viele andere seiner Elemente meist phantastisch seien, sei dabei unwichtig, denn als Anklage seien sie real. Es gehe in diesem Prozess ja nicht darum, die "wirklichen" Ursachen zu finden, sondern einen Schuldigen, der geopfert werden müsse. Wie real Phantastisches als Anklage sein kann, zeigt Girard am Beispiel der mittelalterlichen Judenpogrome. In gesellschaftlichen Krisensituationen, z. B. während der Pest, wurden die Juden mit völlig irrealen Gründen als deren Urheber beschuldigt. Gleichgültig, wie absonderlich die Anklagen waren, als Anklagen waren sie real. Und dadurch, dass auch die größte Pest irgendwann endet, erweckten die Pogrome den Anschein, als sei es tatsächlich ihnen zu verdanken, dass die Ordnung der Gruppe wiederhergestellt wurde. Der Mythos vom schuldigen Juden beschreibt damit als fantastische Erzählung den realen Lynchmord aus der Sicht der Mörder. Girard distanziert sich auf diesem Weg von der French theory, die im Wesentlichen "Destruktionen des Realen" bewirkt habe: "Was mich vor ihnen bewahrt hatte, war nicht die undifferenzierte 'Theorieverachtung', die gegenwärtig grassiert und die auch nur eine Mode ist, der Groll des Trunkenen gegen die leeren Flaschen. Es war der Realismus einer anderen Theorie, von der ich mir nicht sicher bin, ob ich sie oder sie mich schuf: die sogenannte mimetische Theorie."

Um zu zeigen, inwiefern der Wille zur Nachahmung eine treibende Kraft für die Menschen ist, analysiert Girard weitere Beispiele: Dostojewskis "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" und das Verhältnis Nietzsches zu Wagner und Christus. Girard zeigt, wie aus dem Wunsch zur Nachahmung Rivalität entsteht, Rivalität bis zum Hass. Der Konflikt zwischen Nietzsche und Wagner, der auf die euphorische Bewunderung folgt, liege darin begründet, dass Nietzsche das große Vorbild nicht einfach habe fahren lassen können, sondern es übertrumpfen musste, um seinem eigenen Ideal der Nachahmung gerecht zu werden. Die an Nietzsche und Wagner diagnostizierte Bewegung fände sich aber nicht nur im Verhältnis einzelner Menschen zueinander, sondern auch als gesellschaftliche Grundbewegung.

Dass Gesellschaften heute die eigene Stagnation feststellen und bejammern, liege zuallererst daran, dass sie seit dem 19. Jahrhundert die Mimesis verabscheuen und stattdessen die Innovation vergöttern. Dabei hätten sie vergessen, dass Innovation von der Antike bis ins 18. Jahrhundert hinein ein bedrohliches Phänomen gewesen sei, im kirchlichen Kontext gar gleichbedeutend mit Ketzerei. Das Ziel der Kirche, auch der reformierten Kirche, bestand wesentlich in der möglichst exakten Mimesis der in den Heiligen Schriften überlieferten urchristlichen Gottesdienstformen. Da die mimetische Bewegung von dem Bestreben nach exakter Nachahmung getragen wird und dem gleichzeitigen Wunsch danach, besser zu sein, sieht Girard in ihr keineswegs ein konservatives Moment, sondern vielmehr die Grundlage für Fortschritt und echte Erneuerung. Die Überbewertung der Innovation, die dem Prinzip folge, dass nur wichtig sei, was wirklich neu sei, und dass nur wirklich neu sei, was gar keine Ähnlichkeit mit dem Vorangegangenen habe, habe die mimetische Bewegung zum Stocken gebracht. Und gerade der Zwang, der besonders die Künste und die Geisteswissenschaften betreffe, immer originär Neuestes zu produzieren, sei die Ursache ihrer völligen Stagnation. Für Girard sind die, die in den letzten anderthalb Jahrhunderten zur kulturellen, gesellschaftlichen oder philosophischen Avantgarde gehörten, im Wesentlichen Menschen, die nicht in der Lage oder willens sind, auf die "Stimme des Realen" zu hören, bzw. Menschen, die den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen.

Meines Erachtens sind Girards Analysen und Argumente durchaus bedenkenswert; auch wenn man ihm nicht überall zustimmen möchte, und sogar, wenn man manches ablehnen würde, wird man sich mit einem interessanten Gegner konfrontiert sehen, der, um möglichst große Klarheit bemüht, sich nicht mit Spiegelfechtereien zufrieden gibt.

Natürlich muss der Leser bedenken, dass Girards Denken, seine ganze Theorie, inspiriert ist von der schlechthinnigen Urmimesis, die in dramatischer Weise einen Sündenbockmechanismus auslöste: Die Verführung Evas und Adams durch die Schlange vom Baum der Erkenntnis zu essen, um so zu werden wie Gott. Der Versuch, den Schöpfer nachzuahmen, ist sowohl der Ursprung des Todes, als auch des Opfers. Seine drastischste Folge: die paradoxe Opferung des schuldlos-schuldigen Gottessohns an des Menschen statt, mit dem Ziel, die durch gescheiterte Mimesis zustande gekommene Trennung des Ebenbildes von seinem Schöpfer wieder zu überwinden. Es erscheint zweifelhaft, ob Girard die Frage beantworten könnte, welche gesellschaftliche Wirklichkeit von diesem Mythos nachgeahmt wird, der einflussreich ist wie kaum ein anderer, oder ob man nicht sagen müsste, dass sich in diesem Fall die christlichen Gesellschaften mimetisch zum Mythos verhalten haben.


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René Girard: Die verkannte Stimme des Realen. Eine Theorie archaischer und moderner Mythen.
Übersetzt aus dem Französischen von Petra Willim.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
238 Seiten, 23,50 EUR.
ISBN-10: 3446206809

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Titelbild

Wirklichkeit! Wege in die Realität. Merkur Sonderheft 09/10 2005, Nr. 677/678.
Herausgegeben von Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2005.
1020 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3608970738

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