Wiederentdeckung einer verlorenen Spur

Das Œuvre des "Erzhumanisten" Konrad Celtis

Von Barbara LeupoldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Barbara Leupold

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die im Jahre 2003 erschienene Studie "Konrad Celtis und das Projekt der deutschen Dichtung" begibt sich "auf die Suche nach einer verlorenen Spur" der deutschen Literaturgeschichte. Celtis ist, so stellt Jörg Robert gleich zu Beginn seines umfassenden wie informativen Einführungskapitels fest, "eine der großen, neu zu entdeckenden Anfangsfiguren deutscher Literaturgeschichte", eine "Schlüsselfigur des frühen Humanismus" und ein "Archeget einer deutschen Nationalliteratur". "Neu und wegweisend" sind Celtis' "Bemühungen, in der Nachfolge des italienischen Humanismus planmäßig antike Gattungen, Diskurse und Sozietätsformen in die deutsche Literatur einzuführen". Der 1459 in Wipfeld bei Schweinfurt geborene und 1508 in Wien gestorbene Dichter und Gelehrte gilt Robert als Initiator, als Impulsgeber, als Programmgestalter, ja als Auftakt einer "literarischen Neuzeit", als Neubegründer der Dichtung in Deutschland. Laut Robert lassen sich in Celtis' universalhumanistischem Œuvre "wie in einem Brennglas Formen und Diskurse beobachten, die in der Folgezeit einem Gesetz der Ausdifferenzierung folgend zunehmend in getrennten Sektoren von Literatur und Wissenschaft verhandelt werden".

Die Studie widmet sich ausschließlich Celtis und seinem Werk, seinem Entwurf der Dichtung, seiner Programmatik. Dies ist gut begründbar: "Es ist notwendig, angesichts der Desiderata in der Forschung vorerst keine grobangelegten Synthesen, sondern fundierte Einzelstudien anzustreben, in denen sich allgemeine Tendenzen einer Schwellenzeit deutscher Literaturgeschichte spiegeln." Und: Die Celtis-Forschung hat sich vorher in der Regel mit Einzelaspekten beschäftigt. Die lange als Desiderat vermisste integrative Einzelstudie hat Robert nun vorgelegt. Ziel der handwerklich soliden Analyse ist nicht mehr und nicht weniger als, "Celtis' Konstitution von Dichter und Dichtung umfassend auf der Grundlage seines Gesamtwerkes zu rekonstruieren und systematisch auf die aktuellen Anforderungen zu beziehen, in die der vorreformatorische Humanismus in Deutschland eingelassen ist."

Robert weiß dabei optimal an die vor ihm geleistete Forschung anzuknüpfen, er bietet akribische Analysen der einzelnen Werke Celtis', geleitet von den Hauptperspektiven der vorangegangenen Celtis-Forschung: erstens der Frage nach der literaturhistorischen Einordnung, nach der Gattungstradition und dem Umgang mit dieser (römisch-neulateinischen Elegie und neuplatonische Liebestheorie); zweitens der Frage nach Celtis' Plan einer Deutschlandbeschreibung im Rahmen eines nationalen Diskurses; und drittens der Frage nach Celtis' Plan einer Memorialbiografie des idealen Dichters.

Schon beim Studieren der Einführungspassagen der Monografie ahnt man den Erkenntniszugewinn, den die Lektüre dieser Studie in Bezug auf den "Erzhumanisten" bescheren wird. Gerne lässt man sich auf die Entdeckungsreise ein.

Robert folgt im Zuge seiner Rekonstruktion der Werkchronologie. Zunächst widmet er sich (im zweiten Kapitel) der "Ars versificandi" mit der "Apollo-Ode", die als Station auf dem Weg hin zu den "Amores" als "Initialakt einer neuen Poetik" eingeordnet wird, als ein "noch tastender Klassizismus", gekennzeichnet durch die Formulierung von "Leitbegriffe[n] einer frühneuzeitlichen Metrik bzw. Poetik", die Abgrenzung gegenüber spätmittelalterlichen Gepflogenheiten (durch das elegantia-Ideal) sowie den Entwurf eines Ideals von Anschaulichkeit (evidentia-Ideal). Bezugspunkt sind die antiken auctores, Dichtung ist "oratio figurata". Als bemerkenswert gilt Robert auch die direkte Wendung Celtis' an den herzoglichen Mäzen in der Einleitungs- und Widmungselegie, in der er den Dichter gesellschaftlich zu positionieren sucht. Danach wendet sich Robert dem "Verhältnis von Philosophie und Dichtung in Celtis' Denken" zu, der Zusammenfügung von eloquentia und sapientia. Dürers Philosophia-Holzschnitt, die Ingolstädter Inauguralrede mit der "Panegyris ad duces Bavariae" werden in diesem Zusammenhang herangezogen.

Im vierten Kapitel kommt die Untersuchung bei den "Amores" ("Quatuor libri Amorum secundum quatuor latera Germaniae") an, dem "poetischen Hauptwerk" Celtis', der "große[n] Summe des bis dahin Erreichten". Diese wurden 1502 in Nürnberg gedruckt und stellen den "ersten repräsentativen Zyklus neulateinischer Dichtung in Deutschland" dar, "dessen Initialwirkung für das 16. Jahrhundert nicht zu überschätzen" sei.

Auch hier richtet sich der Blick zunächst auf die Widmungsvorrede, die sowohl poetische Selbstdarstellung als auch Maximilianpanegyrik ist. Im fünften bis siebten Kapitel wird dann die "Welt der Amores" umfassend beleuchtet: "Die Amores zwischen Eros, Elegie und 'Musa Iocosa', "Nationaler Diskurs und elegisches Deutschlandbild" (n. a. Celtis' Projekt einer "Germania illustrata", "Norimberga") sowie "Entdeckung des Ich, 'erfundene Wahrheit' und elegischer Lebensweg in den Amores".

Robert weist in seiner Untersuchung nach, dass und warum den "Amores" ein "Sonderstatus" sowie der "Charakter des Experiments" zukommt. Das Werk gilt ihm als "eine Summe von Formen, Gattungen und Themen, welche die von Celtis inszenierte Pluralisierung des poetischen Diskurses nach all seinen Aspekten widerspiegelt". Sie umfassen die zehnjährige Lebens- und Deutschlandreise eines elegischen Ichs, in der sich Autobiografisches niedergeschlagen hat, jedoch nur soweit dies dem Entwurf des idealen Dichters dient.

Die italienischen Humanisten haben, so Robert, punktuell Anregungen geboten, aber Celtis greift über sie hinaus weit deutlicher auf die antike Elegie zurück. Er bedient sich der Tradition, spielt mit ihr, lässt zum Beispiel auch seine speziellen Interessen und Fragestellungen an seinem historischen Ort sowie zeitgenössische lebensweltliche Kontexte einfließen.

Die "Amores", das wird nach der Lektüre der Studie von Jörg Robert keiner bestreiten wollen, stellen durch ihre enge Verschränkung von "elegische[r] Situation, nationale[r] Thematik und pseudo-biographische[r] Selbstdarstellung" ein singuläres Phänomen dar. Es lässt sich nichts Vergleichbares in der Literatur beschreiben.

Konrad Celtis und sein Werk stellen also eine außergewöhnlich profilierte Erscheinung in der deutschen Literaturgeschichte um 1500 dar - dürfen wir aber von einem, wenn auch verlorenen, "Neuanfang" sprechen, von einer Neubegründung der Dichtung in Deutschland? Muss hier nicht zwischen programmatischem Anspruch und Nachwirkung unterschieden werden?

Wenn also etwas als Ergänzung zu dieser beeindruckenden Arbeit zu wünschen übrig bleibt, dann ist das tatsächlich ein Ausblick auf die weitere literaturhistorische Entwicklung der humanistisch-neulateinischen Dichtung unter dem Einfluss des Werks Celtis'. Robert, der diesen Einfluss voraussetzt, mahnt selbst die "noch zu schreibende Geschichte der neulateinischen Elegie" an.


Titelbild

Jörg Robert: Konrad Celtis und das Projekt der deutschen Dichtung. Studien zur humanistischen Konstitution von Poetik, Philosophie, Nation und Ich.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2003.
564 Seiten, 124,00 EUR.
ISBN-10: 3484365765

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch