Unversöhnliche Rückkehr

Heinrich Heines "Religionsgespräche" sind aktueller denn je

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Heinrich Heine war nicht nur ein genialer Lyriker, Prosaist, Journalist und politischer Kommentator, er war auch ein eigenwilliger Religionskritiker, der vor waghalsigen Ausdeutungen biblischer Aussagen nicht zurückschreckte. Zeitweise war er Atheist, gehörte aber, nach eigenem Bekunden, nicht zu den "Atheisten, die da verneinen, ich bejahe." Dann wieder entpuppte er sich als zorniger Anti-Theist, der mit beißendem Spott und scharf geschliffenem Wort gegen Theologen zu Felde zog, die "Hundedemut" und "Engelsgeduld" predigten. Gleichwohl war er zeitlebens davon überzeugt, dass eine religiöse Begründung aller Lebens- und Kunstbereiche notwendig sei.

"Weder die Böswilligkeit meiner Feinde, noch die pfiffige Torheit meiner Freunde, soll mich davon abhalten, über die wichtigste Frage der Menschheit, über das Wesen Gottes, unumwunden und offen, mein Bekenntnis auszusprechen", heißt es im Vorbericht zur "Romantischen Schule" vom 2. April.1833, den der Dichter mit dem Satz "Anfang und Ende aller Dinge ist ein Gott" beschließt.

In jungen Jahren kommt er zu dem vorläufigen Ergebnis: "In dunklen Zeiten wurden die Völker durch die Religion geleitet, wie in stockfinstrer Nacht ein Blinder unser bester Wegweiser" ist. Er kenne dann Wege und Stege besser als ein Sehender. Es sei aber töricht, "sobald es Tag ist, noch immer die alten Blinden als Wegweiser zu gebrauchen." Unsere Enkel würden sicher "ein Ammenmärchen zu vernehmen meinen, wenn man ihnen erzählt, was wir geglaubt und gelitten! Und sie werden uns sehr bemitleiden! Wenn sie einst, eine freudige Götterversammlung, in ihren Tempeln sitzen, um den Altar, den sie sich selbst geweiht haben, und sich von alten Menschheitsgeschichten unterhalten, die schönen Enkel, dann erzählt vielleicht einer der Greise, dass es ein Zeitalter gab, in welchem ein Toter als Gott angebetet und durch ein schauerliches Leichmahl gefeiert ward, wo man sich einbildete, das Brot, das man esse, sei sein Fleisch, und der Wein, den man trinke, sei sein Blut."

Heftig attackierte Heine die unheilige Allianz von Thron und Altar, "jene Missgeburt, die man Staatsreligion nennt", und beklagte, dass wir "während wir über den Himmel streiten [...] auf Erden zu Grunde" gehen. Doch offensichtlich sei der Himmel für Menschen erfunden, denen die Erde nichts mehr bietet, merkt der Schriftsteller an und fügt sarkastisch hinzu: "Heil dieser Erfindung, Heil einer Religion, die dem leidenden Menschengeschlecht in den bitteren Kelch einige süße, einschläfernde Tropfen geistiges Opium goss, einige Tropfen Liebe, Hoffnung und Glauben."

Heine kritisierte ferner alles, was nach veräußerlichter Religiosität roch und lehnte einen Glauben, der nur merkantilen Zwecken dient, entschieden ab. In seinem Gedicht "Das Sklavenschiff" lässt er den Sklavenhändler Mynheer van Koeck beten:

"Um Christi willen verschone o Herr,
Das Leben der schwarzen Sünder!
Erzürnten sie dich, so weißt du ja,
Sie sind so dumm wie die Rinder.
Verschone ihr Leben um Christi willn,
Der für uns alle gestorben!
Denn bleiben mir nicht dreihundert Stück
So ist mein Geschäft verdorben."

Das Christentum habe dem Menschen ein Sündenbewusstsein verschafft, heißt es weiter in Heines Katalog der Vorwürfe, das er vorher nicht hatte. "Die Religion gewährte keine Freude mehr, sondern Trost, es war eine trübselige, blutrünstige Delinquentenreligion", stellt Heine kategorisch fest und beschreibt den Beginn des Christentums mit folgenden Worten: "Da plötzlich keuchte heran ein bleicher, bluttriefender Jude, mit einer Dornenkrone auf dem Haupte, und mit einem großen Holzkreuz auf der Schulter, und er warf das Kreuz auf den hohen Göttertisch, dass die goldenen Pokale zitterten, und die Götter verstummten, und immer bleicher wurden, bis sie endlich ganz in Nebel zerrannen. Nun gabs eine traurige Zeit, und die Welt wurde grau und dunkel."

Sinnenfreude und alles Schöne seien von da an verpönt gewesen. "Du darfst den zärtlichen Neigungen des Herzens Gehör geben und ein schönes Mädchen umarmen, aber du musst eingestehn, dass es eine schändliche Sünde war, und für diese Sünde musst Du Abbuße tun." Im Christentum werde die Welt des Geistes, behauptet Heiner weiter, durch Christus und die Welt der Materie durch Satan repräsentiert. Daher gilt es, "allen sinnlichen Freuden des Lebens zu entsagen." So sei durch die gewaltsame Trennung von Geist und Materie "die große Weltzerrissenheit, das Übel," entstanden.

Doch mittlerweile, hofft der Dichter zuversichtlich, sei "die Menschheit [...] aller Hostien überdrüssig, und lechzt nach nahrhafterer Speise, nach echtem Brot und schönem Fleisch." Heine fordert - von BSE noch gänzlich unberührt - "Rindfleisch statt Kartoffeln", mehr Tanz und weniger Arbeit.

"O lass nicht ohne Lebensgenuss
Dein Leben verfließen", mahnt er.
"Fliegt dir das Glück vorbei einmal,
So fass es am Zipfel."

Nachdrücklich plädiert Heinrich Heine für eine Religion der Freude. "Einst, wenn die Menschheit ihre völlige Gesundheit wiedererlangt, wenn der Friede zwischen Leib und Seele hergestellt und sie wieder in ursprünglicher Harmonie sich durchdringen, dann wird man den künstlichen Hader, den das Christentum zwischen beiden gestiftet, kaum begreifen können."

Noch 1844 dichtet er:
"Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten.
Wir wollen auf Erden glücklich sein,
Und wollen nicht mehr darben...
Es wächst hienieden Brot genug
Für alle Menschenkinder,
Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,
Und Zuckererbsen nicht minder....
Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen."
Und in einem anderen Gedicht hofft er:
"Das alte Geschlecht der Heuchelei
Verschwindet Gott sei Dank heut,
Es sinkt allmählich ins Grab, es stirbt
An seiner Lügenkrankheit.

Es wächst heran ein neues Geschlecht
Ganz ohne Schminke und Sünden,
Mit freien Gedanken, mit freier Lust-
Dem werde ich alles verkünden."

Zu einer Revision seines Glaubens und einer ansatzweisen Zurücknahme seiner Religionsschelte zwang ihn dann die Erfahrung seiner tödlichen Krankheit, die ihn ausgerechnet im Revolutionsjahr 1848 Ende Mai aufs Krankenlager verbannte, in die "Matratzengruft" zu Paris. "In demselben Maße wie die Revolution Rückschritte macht, macht meine Krankheit die ernstlichsten Fortschritte", bekannte er.

Deutlich zu erkennen ist diese Wendung an der zweiten "im Wonnemond 1852" verfassten Vorrede "Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland." Zunächst war die 1834 in Paris abgeschlossene Studie ganz aufs Diesseits gerichtet. In der zweiten Vorrede indes revidiert Heine seine Sicht der "Gottesfrage". Sie sei "eben so falsch wie unbesonnen" gewesen. Falsch sei gleichfalls seine Behauptung gewesen, dass die Vernunftkritik, die die "Beweistümer für das Dasein Gottes" vernichtet habe, auch "dem Dasein Gottes selber ein Ende gemacht habe." Seine neuen Ansichten, Heine spricht sogar von Erleuchtung, verdanke er einzig und allein der Lektüre eines Buchs, nämlich der Bibel.

"Ich verdanke meine Erleuchtung ganz einfach der Lektüre eines Buches: Eines Buches? Ja, und es ist ein altes schlichtes Buch, bescheiden wie die Natur, auch natürlich wie diese; ein Buch, das werkeltägig und anspruchslos aussieht, wie die Sonne, die uns wärmt, wie das Brot, das uns nährt - und dieses Buch heißt auch ganz kurzweg das Buch, die Bibel. Mit Fug nennt man diese auch die Heilige Schrift; wer seinen Gott verloren hat, der kann ihn in diesem Buch wiederfinden, und wer ihn nie gekannt, dem weht hier entgegen der Odem des göttlichen Wortes."

Die Revision seiner religiösen Einstellung inspirierte Heine zu ausdrucksstarken Prosatexten und Gedichten, wie etwa zu den "Hebräischen Melodien". In der Matratzengruft, in den letzten schmerzhaften Jahren und Stunden seines Lebens kehrte Heine zum Judentum, zum biblischen persönlichen Gottesglauben seiner Kindheit zurück, nicht naiv fromm, sondern skeptisch durchsetzt. Einen Wiederanschluss an die Tradition des eigenen Volkes sucht er zum Beispiel mit Gedichten wie "Jehuda ben Halevy", bei dem er den zweiten Teil mit dem Psalm 137 beginnen lässt:

"Bei der Wassern Babels saßen
Wir und weinten, unsre Harfen
Lehnten an den Trauerweiden -
Kennst du noch das alte Lied?"

Aber Übermut und Ironie haben Heine selbst jetzt nicht verlassen, nicht einmal im täglichen Leben. So ruft er einem Besucher zu, der mit ansieht, wie Heine vom Stuhl zum Bett getragen wird: "Sehen Sie, wie man mich in Paris auf Händen trägt!"

Heine hat viele Versionen der Abschwörung hinterlassen. Forscht man nach, von welchen Gesinnungen er eigentlich ablässt, so stößt man mit verblüffender Regelmäßigkeit in diesen Äußerungen auf den Namen Hegels.

"In manchen Momenten, besonders wenn die Krämpfe in der Wirbelsäule allzu qualvoll rumoren, durchzuckt mich der Zweifel, ob der Mensch wirklich ein zweibeinichter Gott ist, wie mir der selige Professor Hegel vor fünfundzwanzig Jahren in Berlin versichert hatte."

"Ja, ich bin zurückgekehrt zu Gott", versichert der Dichter, "wie der verlorene Sohn, nachdem ich lange Zeit bei den Hegelianern Schweine gehütet." Zurückgekehrt ist der Dichter zu einem Gott, mit dem man sprechen, dem man sein Leid klagen, mit dem man hadern kann wie Hiob. Denn Heines Rückkehr zu Gott ist beileibe keine versöhnte Rückkehr. Vielmehr ringt er mit ihm wie einst Jakob mit dem Engel und verschafft sich Luft im Spott. Seinem Freund Heinrich Laube schreibt er: "Gottlob, dass ich jetzt wieder einen Gott habe, da kann ich mir doch im Übermaße des Schmerzes einige fluchende Gotteslästerungen erlauben; dem Atheisten ist solch eine Labung nicht vergönnt." Und im März 1854 fragt sich der Kranke: "Aber warum muss der Gerechte soviel leiden auf Erden? Warum muss Talent und Ehrlichkeit zugrunde gehen, während der schwadronierende Hanswurst, der gewiss seine Augen niemals durch arabische Manuskripte trüben mochte, sich räkelt auf den Pfühlen des Glücks und fast stinkt vor Wohlbehagen? Das Buch Hiob löst nicht diese böse Frage. Im Gegenteil dieses Buch ist das Hohelied der Skepsis, und es zischen und pfeifen darin die entsetzlichen Schlangen ihr ewiges: Warum?"

So grübelt Heine, den der Schmerz zu Gott hinquält und der sich bis ans Ende vor die Notwendigkeit gestellt sieht, Gott mit den Rätseln seiner Schöpfung zu konfrontieren.

"Ich heule dir die Ohren voll
Wie andre gute Christen -
O Misere! Verloren geht
Der beste der Humoristen."

Mit seinem Gedicht "Zum Lazarus" sprach und spricht Heine noch heute vielen aus dem Herzen:

"Lass die heiligen Parabolen,
lass die frommen Hypothesen -
Suche die verdammten Frage
Ohne Umschweif uns zu lösen,
Warum schleppt sich blutend, elend,
Unter Kreuzlast der Gerechte,
Während glücklich als ein Sieger
Trabt auf hohem Ross der Schlechte?
Woran liegt die Schuld? Ist etwa
Unser Herr nicht ganz allmächtig?
Oder treibt er selbst den Unfug?
Ach, das wäre niederträchtig.
Also fragen wir beständig,
Bis man uns mit einer Handvoll
Erde endlich stopft die Mäuler -
Aber ist das eine Antwort?"

Hier führt derselbe Autor, der einige Jahre zuvor das Jubellied des Atheismus und der Diesseits-Utopik angestimmt hat, - und zwar mit "Ein neues Lied, ein besseres Lied/O, Freund will ich euch dichten/Wir wollen hier auf Erden schon/Das Himmelreich errichten" - einen verzweifelten Dialog mit dem alten Gott. Das eine Gedicht bezeugt die mögliche Göttlichkeit des Menschen, das andere beklagt die vermeintliche Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit Gottes.

Nicht alle Heine-Biografen haben diese letzte Phase seines Lebens als Rückkehr zu einem persönlichen Gott gedeutet. Bei Marcel Reich-Ranicki, einem exzellenten Heine-Kenner, findet man hierüber nur wenig. Um so intensiver setzt sich der Literaturpapst mit Heines Beziehungen zum Judentum und zur Erotik und den Frauen auseinander. Walter Grab wiederum glaubt, dass es Heine mit der ",Rückkehr zum Gottesglauben' in seinen letzten Lebensjahren nicht so ernst war, wie es manche Forscher behaupten." Günter Grass hat sich dagegen 1972 in einem Interview zur späten Religiosität Heines distanziert, aber respektvoll geäußert: "Ja, da [in der Matratzengruft] beginnt bei Heine ein Resignationsprozess, der dann mit der Konversion endet. Ich glaube, wir haben kein Recht, darüber unseren Stab zu brechen. Der Mann ist sehr einsam gewesen, hat viel Veränderung angestrebt und nur wenig erlebt. Welchen Schluss er daraus gezogen hat, das hat sich in den letzten Gedichten niedergeschlagen, und das muss man so respektieren."

Beate Wirth-Ortmann erlebte bei einem Heine-Kongress in den 90er Jahren sogar, dass die religiöse Struktur in den Werken Heines, wenn sie überhaupt Erwähnung fand, allenfalls als Satire oder Parodie betrachtet wurde. Nicht selten wird in der Sekundärliteratur, konstatiert Wirth-Ortmann, Heines Religiosität gänzlich geleugnet.

Der Dichter, dem es wie kaum einem anderen gegeben war, zu sagen, wie er leidet, hat den eigenen Krankheits- und Sterbeprozess über Jahre nicht nur beschrieben und poetisch gestaltet, sondern auch zum Gegenstand der Auseinandersetzung mit sich, mit der Gesellschaft und Gott gemacht, sodass über die literarische Formgebung Themen wie Krankheit, Sterben und Tod Öffentlichkeitscharakter bekommen.

Die Erfahrung der Krankheit hat Heine ausgekostet, auch der Schwäche und des Alters, und in aller Helligkeit bedacht - im Unterschied zu Nietzsche, der in geistiger Umnachtung versank, sodass er vor ähnlicher Erkenntnis bewahrt blieb, sowie im Unterschied zu Goethe, der hochbetagt verschied, und im Unterschied zu Büchner, der unfasslich jung mit 24 Jahren ohne längere Krankheits- und Verfallsgeschichte starb. Andere erleiden am Ende ihres Lebens einen qualvollen Prozess und sind unfähig, literarisch zu arbeiten. Bei Heine hat die Krankheit zwar seinen Körper, nicht aber seine literarische Imagination gelähmt.

Sein letzter Lebenskampf erzählt das Drama eines Intellektuellen in der Moderne, der sich von Gott schon verabschiedet hat und dann doch eine Form der Koexistenz sucht, die nicht unter seinem intellektuellen Niveau ist, der den Abschied von Gott einst für einen Freiheitsgewinn hielt, jetzt aber aufgrund neuer Erfahrungen die Verluste bemerkt, die die Selbstunterbrechung religiöser Sinnressourcen mit sich bringt.

"Gott wird mir die Torheiten verzeihen, die ich über ihn vorgebracht, wie ich meinen Gegnern die Torheiten verzeihe, die sie gegen mich geschrieben, obgleich sie geistig so tief unter mir standen, wie ich unter dir stehe, o mein Gott", hofft Heinrich Heine und äußert sich vierzehn Tage vor seinem Tod:

"Bin sehr elend. Hustete schrecklich 24 Stunden lang; daher heute Kopfschmerz, wahrscheinlich auch morgen [...]. Welche unbehaglichen Missstände! Ich werde fast wahnsinnig vor Aerger, Schmerz und Ungeduld. Ich werde den lieben Gott, der so grausam an mir handelt, bey der Thierquälergesellschaft verklagen."

Als Heinrich Heine im Sterben lag, kniete seine Geliebte an seinem Bett und betete zu Gott, dass er ihm alle Sünden verzeihen möge. Daraufhin sagte Heine mit schwacher Stimme: "Meine Liebe, sorge dich nicht - er wird mir schon verzeihen, denn Sünden vergeben gehört zu seinem Beruf." ("Dieu me pardonnera. C'est son metier.")

Gestorben ist Heinrich Heine am 17. Februar 1856 an "tuberkulöser Meningitis" - so lautet der aktuelle Befund. Begraben wurde er auf dem Pariser Friedhof Montmartre. Kein Rabbi, kein Pastor, kein Priester durfte ihn begleiten. Heine hat es so gewollt.

Kurz zuvor hatte er noch gedichtet:

"Keine Messe wird man singen,
Keinen Kadosch wird man sagen,
Nichts gesagt und nichts gesungen
Wird an meinen Sterbetagen.

Doch vielleicht an solchem Tage,
Wenn das Wetter schön und milde,
Geht spazieren auf Montmartre
Mit Paulinen Frau Mathilde.

Mit dem Kranz von Immortellen
Kommt sie mir das Grab zu schmücken.
Und sie seufzet: Pauvre homme!
Feuchte Wehmut in den Blicken."

Jahre später schrieb Gustav Flaubert an Léonie Brainne am 25.April 1879: "Ich denke mit Bitterkeit daran, dass bei Heinrich Heines Begräbnis neun Personen anwesend waren! O Publikum! O Bürger! O Lumpenpack! Ihr Elenden!"

Wie aber haben Kirchen und Christen auf Heine reagiert? Die katholische Kirche hatte schon im September 1836 drei seiner Schriften auf den "Index verbotener Bücher" gesetzt und damit ein Verdikt ausgesprochen, das bis 1967 Gültigkeit hatte.

Auf evangelischer Seite protestierten 1887 und 1888 der Düsseldorfer Pfarrer Friedrich Frey und der Antisemit Adolf Stoecker heftig gegen ein Heinedenkmal in Düsseldorf und sorgten für die Verunglimpfung des Dichters. Lange Zeit wurde Heine von den Kirchen auch deshalb nicht wahrgenommen, weil er Jude war, ungeachtet der Tatsache, dass sein Leben, laut Felix Stössinger "ein einziges Religionsgespräch" war.

Erst im Heinejahr 1997 kam es zu einer positiven kirchlichen Heine-Rezeption. In evangelischen und katholischen Zeitschriften erschienen zahlreiche Artikel über den Dichter, während in katholischen und evangelischen Akademien Heine-Tagungen stattfanden. Zugegeben, das alles war nicht gerade spektakulär und sensationell, aber doch ein Novum, das anscheinend Früchte getragen hat. Denn heute sind nicht wenige Theologen von Heine fasziniert: von seiner Bibelkenntnis, seiner biblisch gefärbten Sprache, von seinem Interesse an theologischen und politischen Fragen und von seiner Kirchenkritik.

Gleichwohl bleibt Heine, der nie die kirchliche Nähe gesucht hat, eine Herausforderung für alle Dogmatiker und Fundamentalisten. Doch für die Gegenwart im Allgemeinen und für Christen im Besonderen sind seine Ideen und Einfälle von nicht abschätzbarem Wert. Vieles aus seinem Leben und Werk ist erst heute richtig aktuell geworden. Man denke nur an sein Engagement für Entrechtete, das durchaus einer Theologie der Befreiung im Sinne von Johann Baptist Metz entspricht. Der evangelische Theologe Hengstenberg wiederum vergleicht Heine mit den Wiedertäufern von Münster und nennt ihn den "Knipperdolling" unserer Tage. Zudem schreckte Heinrich Heine, lange vor Rudolf Bultmann, vor entmythologisierenden Deutungen nicht zurück und erkannte den existentialen, auf das moderne Verständnis bezogenen Sinn biblischer Aussagen. Überdies wissen wir, wie progressiv Heine nach der Aufklärung die Religiosität wiederentdeckt hat, die laut Hermann Lübbe die nötige Lebenspraxis des angemessenen Verhaltens zum Unverfügbaren meint. Heines Religiosität besteht außerdem gerade in ihrer individuellen, aber eindeutig biblischen Voraussetzung, ja Prägung und ihrer trotz aller unmenschlichen Leiden mutigen Souveränität gegenüber einer höheren Ordnung, die er am Ende seines Lebens als den Gott seiner Väter akzeptiert hat.

Heine war ein skeptischer Theologe, der die Welt als verborgene Theologie und als verborgene Dichtung auffasst und somit die Nachahmung und Nachschöpfung durch den Dichter rechtfertigt. Seine Freiheit in der Einsamkeit äußerte sich dennoch in Fragen und Zweifeln, deren Ziel nicht die Beruhigung, sondern die Beweglichkeit des skeptisch gebliebenen Geistes geblieben ist. Wer will, kann Heine sogar den Grünen zurechnen. Denn wie sagte er doch? "Gott ist identisch mit der Welt. Er manifestiert sich in den Pflanzen, [...] in den Tieren, aber am herrlichsten in dem Menschen."

Vielleicht wären die Kirchen gut beraten, "von Heine eifriger Gebrauch zu machen, da sein Weltbürgertum und Kosmopolitismus eine zutiefst religiöse Struktur aufweist." (Joseph A. Kruse) Tatsächlich gibt es Geistliche, wie etwa den katholische Studentenpfarrer Heiner Koch, der schon im April 1989 freimütig bekannt hat, für ihn sei Heinrich Heine ein Vorbild.

Des Dichters "Heimkehr zum Gott seiner Väter" ist von vielen seiner Zeitgenossen argwöhnisch beäugt worden, und dennoch hat Heine trotzig und gegen alles Unverständnis sein Credo gesprochen, ob es seine Freunde hören wollten oder nicht. "Gott war immer der Anfang und das Ende all meiner Gedanken." Die christliche Tradition, sagte der Dominikanerpater Ulrich Engel am 26. Juli 2003 in einer Predigt, nenne so etwas "Zeugnis-Geben". Als Gottes Zeuge kann Heine heute Vorbild sein, hat er doch sein Bekenntnis "mit seiner ganzen Person innerlich und äußerlich erkämpft." "Ängstliche Kirchenmäuschen und bigotte Sakristeischabraken", führte Engel weiter aus, "haben heute nichts mehr zu vermelden - mögen sie progressiv oder reaktionär daherkommen. Wahrgenommen werden wir nur dann, wenn wir ein Zeugnis geben, das sich aus unserer persönlichen, gelungenen und gebrochenen Gotteserfahrung speist. Dass ein solches Zeugnis dann schon einmal aneckt und der Obrigkeit (auch der kirchlichen) quer liegt, ist in Kauf zu nehmen. Heine ist mir da Vorbild."

In seiner Nachschrift zu "Ludwig Marcus" betont Heine, dass die Emanzipation der Juden identisch sei mit der des deutschen Volkes. Joseph A. Kruse sieht darin einen Zukunftsgedanken, "der im 20. Jahrhundert hätte Gestalt annehmen können als ihn auch schon der grausamste Judenpogrom aller Zeiten zunichte machte."

Wie man sieht, fordert Heines Religiosität zur Auseinandersetzung heraus - nicht nur mit einer profan gewordenen Welt, sondern auch mit unserer eigenen jüngsten Geschichte. Seine Stunde scheint jetzt erst gekommen zu sein, einerlei ob wir imstande sind, Heines letzten Schritt mitzugehen oder ob wir uns wie Günter Grass entscheiden, außen vor zu bleiben.