Das Ganze eine Rederei

In Andreas Maiers Roman "Kirillow" wird diskutiert, geschwätzt und getrunken, bis nichts mehr sicher ist

Von Christoph JürgensenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Jürgensen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es wird viel geredet in Andreas Maiers neuem Roman "Kirillow". In einem unendlich scheinenden Strom der Stimmen wird schwadroniert und geschwätzt, geklatscht, diskutiert und philosophiert, über die tiefen Fragen des Lebens genauso wie über banale Kleinigkeiten - und der Redestrom würde überhaupt kein Ende nehmen, wenn er nicht immer wieder in ein leitmotivisches "etcetera" ausliefe. Doch so ziellos und oft inhaltsleer die einzelnen Gespräche und Diskussionen sind, insgesamt ergeben sie im Sinnzusammenhang des Romans ein Bild der Welt, wie eine der Figuren in einer markanten selbstreferenziellen Aussage des Texts deutlich macht: "Blablabla ist die ideale Übersetzung von etcetera. Man müßte immer sagen: Taxifahrer etcetera, der und der etcetera, und dann hätte man die Welt in ihrem Gerede, in ihrem Blablabla, kurz: in ihrem Zustand."

Der 1967 in Bad Nauheim geborene Andreas Maier bleibt dem Kern seines Schreibprogramms also treu: Schon in seinem Romandebüt "Wäldchestag" (2000) und im zweiten Roman "Klausen" (2002) hatte er mittels einer pasticheartigen Anverwandlung struktureller und stilistischer Momente der Prosa Thomas Bernhards die Welt - oder genauer: die Provinz, denn die Romane spielten auf dem Dorf und in der südtirolischen Stadt Klausen - in ihrem unablässigen Gerede gezeigt. Und auch wenn "Kirillow" nun in der Großstadt Frankfurt spielt, präsentiert sich dem Leser das gleiche Geschwätz, das für Maiers Kleinstadtwelten charakteristisch war.

Schon in "Klausen" hatte sich allerdings eine wachsende Unabhängigkeit vom Vorbild Bernhard angedeutet, hatten sich ein paar Absätze in die zuvor absatzlose, atemlose Prosa gemischt und die im Erstling durchgängig in der indirekten Rede gehaltene Perspektive wurde von einem zwar nicht auktorialen, aber immerhin über den Figuren stehenden Erzähler abgelöst. Diese Tendenz setzt sich in "Kirillow" fort. Zwar sind immer noch einzelne Passagen als Berichte der Protagonisten gekennzeichnet, zwar springt die Perspektive von einer Figur zur anderen, aber immer wieder schaltet sich der Erzähler ein und erklärt und kommentiert das Geschehen. Und auch durch den Rahmen des Buchs wird die Lektüre stärker gelenkt, als dies noch bei seinen Vorgängern der Fall war. Während diese lediglich nach einem dörflichen Fest bzw. dem Handlungsort benannt sind, weist "Kirillow" einen bedeutungsschweren, intertextuell aufgeladenen Titel auf: Angespielt wird mit ihm auf Dostojewskis Roman "Die Dämonen", in dem ein Ingenieur namens Kirillow aus religiösen Gründen Selbstmord begeht. Zudem prangt auf dem Buchumschlag eine Reproduktion des Frontispizes von Hobbes staatstheoretischer Schrift "Leviathan", die einen Staatsleib aus Menschen zeigt - allerdings wird diese Figur auf Maiers Roman ohne Kopf abgebildet, so dass der Leser schon vor der Lektüre einen symbolischen Hinweis auf die 'Kopflosigkeit', d. h. die Orientierungslosigkeit der Menschen und der Gesellschaft überhaupt in "Kirillow" bekommt. Offensichtlich hat sich Maier viel vorgenommen.

Im Zentrum der Handlung steht eine Gruppe junger Studenten, die in postadoleszenter Wut und Hilflosigkeit gegen den Zustand der Welt aufbegehrt und der es um die großen Fragen, um Wahrheit, Gott und den Sinn des Lebens geht. Da ist etwa der hübsche, ungeduldige und charismatische Julian Nagel, Sohn eines Rechtsanwalts und hessischen Landtagsabgeordneten, der ein ausgeprägtes Talent zur Provokation hat - ein Talent, das er immer wieder nutzt, um etwa die politischen Freunde seines Vaters oder die Polizei vor den Kopf zu stoßen. Aber es steckt kein Ziel hinter diesen Provokationen. "Was wirst du tun? Wirst du etwas tun?" wird Julian einmal auf einer Party seines Vaters vom Ministerpräsidenten gefragt, und auch wenn Julian diese Frage als Zumutung zurückweist, wirkt sie doch als untergründiger Motor des weiteren Geschehens fort. Und da ist Frank Kober, der kaum redet und seinen Freunden deshalb rätselhaft bleibt. Der Leser allerdings weiß bald, dass dieser Frank etwas begriffen hat, was Julian erst erfahren muss: dass nämlich "Wahrheit mit Sprache überhaupt nichts zu tun" hat.

Mit ihren Freunden und einer Gruppe junger Russen, die gerade aus nicht erklärten Gründen nach Deutschland gekommen sind, sitzen Julian und Frank in Kneipen und heruntergekommenen WG's, sie rauchen und trinken enorme Mengen, unternehmen Ausflüge und verlieren sich in ziellosen, delirierenden Gesprächen von grotesker Komik. Ein Ziel scheint die Wahrheits- und Sinnsuche der Freunde erst zu bekommen, als das Manifest eines gewissen Andrej Kirillow aus Russland im Internet zu kursieren beginnt und der Gruppe eine ideologische Richtung vorgibt, über die sie in ausgedehnten Versammlungen debattiert. Grundsätzlich formuliert Kirillow in seinem "Traktat über den Weltzustand" einen die gesamte Menschheit umfassenden Schuldzusammenhang und propagiert den Selbstmord "als einzig mögliche Tat", denn: "Die Menschheit funktioniert wie ein Krebsgeschwür, und der Wachstumsauslöser ist das Streben nach Glück und Wohlbefinden". So zumindest interpretiert Julian den Kern dieses Texts, denn aus dem Traktat wird kein einziges Mal wörtlich zitiert und der geheimnisvolle Kirillow tritt im Buch nicht auf - und auch die Diskutanten selbst scheinen sich bald nicht mehr sicher zu sein, was eigentlich bei Kirillow steht und was er meint, und so wird der Text zerredet, bis Julian ihn schließlich aus dem Internet löscht. So stehen der titelgebende Kirillow und sein Manifest quasi als Leerstelle im Mittelpunkt des Romans, eine Leerstelle wie die Wahrheit, die sich vom ganzen Blablabla der Sprache nicht treffen lässt.

Es gibt keine Wahrheit außer derjenigen, dass alle "vernetzt und verfangen sind in einem riesigen kollektiven System", aus dem es kein Entrinnen gibt, so lässt sich die resignative Diagnose von "Kirillow" zusammenfassen. Und daher verwundert es nicht, dass auch die Proteste der Gruppe gegen die Castor-Transporte, mit denen das Buch endet, auf seltsame Weise kraftlos wirken und keiner der Studenten wirklich glaubt, etwas erreichen zu können. Ja, es wäre ein leeres, fast groteskes Ritual, das Polizei und Studenten seit Jahren immer wieder miteinander abhalten, wenn Maier bzw. sein Erzähler die Gewalt der Polizei gegen die friedlichen Demonstranten nicht mit einer großen Ernsthaftigkeit und Eindringlichkeit schildern würde. An diesen Schilderungen zeigt sich unverstellt, ein wie starker moralischer Impetus Maiers Erzählwerke antreibt, dass es in ihnen auf komische Weise um furchtbar ernste Dinge geht.

Kritisieren ließe sich hier allenfalls, dass gerade für "Kirillow" die offene Erzählperspektive von "Wäldchestag" sinnvoll gewesen wäre, um die erkenntnistheoretische Dimension des Texts durch die Erzählhaltung zu demonstrieren bzw. zu spiegeln. Aber dieser Einwand wiegt nicht schwer gegenüber einem Text, der eine ungewöhnliche suggestive Kraft entwickelt und die Gespräche seiner Figuren fast traumwandlerisch sicher auf der Grenze zwischen Schwach- und Tiefsinn balancieren lässt.

Wenn am Ende des Romans nicht Julian stirbt, der seinen Freitod angekündigt hatte und mit einer waghalsigen Aktion zum Märtyrer werden will, sondern der stille, zurückhaltende Frank, dann bleibt unklar, wie und warum dies geschehen ist. Aber klar dürfte geworden sein, dass es Maier nicht auf die Antworten, sondern auf die Fragen ankommt.


Titelbild

Andreas Maier: Kirillow. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
349 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 351841691X

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